Victor Sebestyen: 1946: Das Jahr, in dem die Welt neu entstand

  • Victor Sebestyen: 1946: Das Jahr, in dem die Welt neu entstand
    Verlag: Rowohlt Berlin 2015. 544 Seiten
    ISBN-13: 978-3871348129. 26,95€


    Verlagstext
    Nach dem zerstörerischsten aller Kriege ordnet sich die Welt von Grund auf neu. Aber auch neue Konflikte entstehen: So eint in Indien Moslems und Hindus allein der Hass auf die britischen Kolonialherren, in China greifen die Kommunisten nach der Macht, und in Palästina nimmt eine bis heute andauernde blutige Auseinandersetzung ihren Anfang. Japan wird die Demokratie verordnet, während in Europa weiterhin Vertreibung und Gewalt an der Tagesordnung sind. Zwei Weltmächte steigen auf, die fortan die Welt in Einflusssphären teilen: die USA und die Sowjetunion. Temporeich erzählt Victor Sebestyen von Politikern und Revolutionären, von Churchill, Stalin, Truman, Mao oder Gandhi, und von globalen Entwicklungen, die bis heute bestimmend sind. Sein Schauplatz ist die ganze Welt; er betrachtet oft vernachlässigte Ereignisse wie etwa jene in der Türkei oder Aserbaidschan, wo die ersten Stellvertreterkriege zu eskalieren drohen. Und wer weiß schon, wie die Amerikaner und Briten hinter den Kulissen um die atomaren Geheimnisse gerungen haben? Victor Sebestyen vereint kluge Analyse und mitreißendes Erzählen. Sein Buch ist ein Leseerlebnis – und lässt uns verstehen, warum die Welt, in der wir leben, so ist, wie sie heute ist.


    Der Autor
    Victor Sebestyen wurde 1956 in Budapest geboren und verließ Ungarn noch als Kind. Er ist Historiker und arbeitete als Journalist und Auslandskorrespondent u.a. für den „London Evening Standard“ und die „New York Times“. Heute ist er für „Newsweek“ tätig. Victor Sebestyen lebt in London.


    Victor Sebestyen was born in Budapest. He was a child when his family left Hungary as refugees. As a journalist, he has worked for numerous British newspapers, including “The London Evening Standard”, “The Times” and “The Daily Mail”. He has contributed to many American publications, including “The New York Times”. He reported widely from Eastern Europe when Communism collapsed and the Berlin Wall came down in 1989. He covered the wars in former Yugoslavia and the breakup of the Soviet Union. At “The London Evening Standard” he was foreign editor, media editor and chief leader writer.
    Victor's first book, “Twelve Days” (2006), was an acclaimed history of the 1956 Hungarian Uprising. It was translated into 12 languages. His second, “Revolution 1989” (2009) was a highly praised account of the fall of the Soviet empire.
    Quelle: Webseite des Autors


    Inhalt
    Victor Sebestyen wurde in Ungarn geboren, stammt damit von der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ und berichtete für englischsprachige Leser hauptsächlich aus Osteuropa. Für den Autor eines populären historischen Sachbuchs ist das eine viel versprechende Ausgangsposition, die sich u. a. mit den Wurzeln des Autors befassen könnte. Sebestyen erzählt vom ersten Nachkriegsjahr 1946, in dem er markante Persönlichkeiten und deren Entscheidungen darstellt und Beziehungen zwischen Staaten aufrollt, über die man zum Verständnis heutiger Konflikte informiert sein sollte. Zur Verarbeitung der Fülle von Namen und Bezügen im Kopf des Lesers halte ich das für einen sehr wirksamen Ansatz.


    Politik und Geschichte der Nachkriegszeit betreffend, zähle ich zu den „weißen Jahrgängen“, die im Geschichtsunterricht hauptsächlich Jahreszahlen paukten. In einem Schülerleben konnten sie mehrfach erleben, dass die Nachkriegszeit zwar formal im Geschichtsbuch enthalten war, rätselhafterweise aber jedes Mal das Schuljahr zu kurz war, um dieses Kapitel durchzunehmen. In den Jahren 1975 oder 1985 hätte ich mich für Sebestyens Stoff vehementer interessiert als heute, um seine Darstellung mit der von Zeitzeugen abzugleichen. Doch ein Buch wie dieses konnte vermutlich nicht eher geschrieben werden, weil Augenzeugenberichte über Flucht, Vertreibung und an Zivilpersonen noch nach Kriegsende begangene Gräueltaten der Besatzungstruppen für Jahrzehnte in Archiven verschwanden. Diese Berichte waren lange nur Historikern gegen Nachweis eines wissenschaftlichen Interesses zugänglich.


    Sebestyens Ansatz, Geschichte als Geschichten über historische Persönlichkeiten zu erzählen, lässt sein Buch leicht lesbar und unterhaltsam wirken. Ihm waren offenbar verstärkt Quellen zur britischen Besetzung Norddeutschlands zugänglich, was die Vielseitigkeit der angeschnittenen Themen jedoch nicht beeinträchtigt. Zumindest bei mir ist es Sebestyen gelungen, die Sicht „der anderen Seite“ anzuregen, die Seite der Besatzungstruppen und ihrer Heimatländer. Dass auch die britische Bevölkerung im Jahr Null nach dem Krieg hungerte und fror, machte sich in den besetzten Gebieten wohl niemand bewusst, der mit der Militärregierung um Rückgabe beschlagnahmter Gebäude und Autos rang, um z. B. endlich wieder seinen Beruf ausüben zu können. Der Autor nennt direkt und ungeschminkt, wer nach dem Krieg von Vertreibung und dubiosen Geschäften profitierte und hält dabei besonders osteuropäischen Staaten den Spiegel vor die Nase. Durchaus kritisch geht er ebenfalls der Frage nach, ob die Amerikaner sich nicht mit dem Plan übernommen haben, ganze Völker umerziehen zu wollen. Knappe und treffende Kapitel über die Ursachen des Israel-Konflikts, die Nachkriegsgeschichte Griechenlands oder das Ringen um persische Ölquellen tragen erheblich zum Verständnis der heutigen Zustände in den genannten Ländern bei. Auch Kenntnisse über das Verhältnis zwischen den USA und China, den USA und Japan oder Deutschland und der Tschechoslowakei sollten zur Allgemeinbildung gehören. Schließlich schreckt Sebestyen nicht davor zurück, die mangelnde Vergangenheitsbewältigung z. B. in Polen und dort speziell den Antisemitismus der katholischen Kirche beim Namen zu nennen.


    Als sein Buch verfasst wurde, ahnte vermutlich niemand, dass es in Europa aktuell wieder Displaced Persons und Übergangslager geben würde und sich daraus die Frage ergibt, was wir aus jener Zeit für die Gegenwart gelernt haben. „Gemeinsames Leiden macht nicht zu Brüdern,“ (Seite 294) hat Tadeusz Nowakowski treffend festgestellt. Sein Zitat zeigt beispielhaft, wie geschickt Sebestyen seine Quellen und Zitate für dieses Buch ausgewählt hat. Speziell die Frage, ob man ganze Völker umerziehen und deren Werte abwählen kann, ist heute in Deutschland aktueller als je zuvor.


    Fazit
    Mit „1946: Das Jahr, in dem die Welt neu entstand“ errichtet der Autor in unterhaltsamer Art ein Fundament historischen Wissens und liefert seinen Lesern eine Menge Material als Anregung zum Wechsel der eigenen Perspektive. Auf diesem Fundament muss man selbst ein Gebäude aus Querverbindungen errichten. Ein leicht lesbares, populäres Sachbuch, das berichtet, Zeitzeugen zitiert und weniger analysiert.


    9 von 10 Punkten