Es gehört Mut dazu, sich mit einem Sprung in die Tiefe das Leben zu nehmen. Jemand, der diesen Entschluss fasst, muss auch verzweifelt genug sein, um den Sprung als einzige Lösung seiner Probleme zu sehen. Das Problem scheint dem Betroffenen unüberwindbar zu sein, bevor er sich dann tatsächlich zu dem allerletzten Schritt entschließt. Dieser Moment ist einsam, weil man normalerweise niemanden in diese privaten Entscheidungen einweiht. Von daher ist es eine Überraschung, genau an der Stelle jemanden zu treffen, der exakt dieselbe Entscheidung getroffen hat.
Theodore Finch und Violet Markey lernen sich also im ersten Kapitel des Romans von Jennifer Niven im sechsten Stock des Glockenturms kennen. Beide haben unabhängig voneinander daran gedacht, sich aus der Höhe in die Tiefe zu stürzen. Aus unterschiedlichen Gründen fanden sie ihr Leben nicht mehr lebenswert. Doch nun so gemeinsam entschließt sich Finch, dass Violet auf keinen Fall springen darf. Er fängt eine Unterhaltung mit ihr an, bei der sie zurück auf sicheren Boden klettert. Das Bild, das sich nun von unten bietet, macht Violet zur Heldin, die Theodore gerettet hat. Das Erlebnis bringt die beiden Teenager näher zusammen.
Violet war bisher beliebt, trainierte mit den Cheerleader für das Footballteam, in dem auch ihr Freund Ryan mitspielte und musste sich um ihre Noten keine Sorgen machen. Violets künftiger Weg war weitgehend hürdenfrei, sodass man ihr keinerlei Sorgen zutraute. Man erfährt von ihrem Unfall und dass ihre Schwester dabei ums Leben kam. Wohl jeder hat Verständnis, dass sich die 17-jährige mit dem Tragen der Brille ihrer Schwester ihr näher fühlt. Je weiter man liest erkennt man die Schuldgefühle, die Violet plagen.
Finch ist ein Außenseiter. Sowohl in der Schule als auch in der Familie scheint er keinen festen Platz zu haben. Zu sprunghaft ist sein Charakter beschrieben, als dass er mit einem wenigen Worten beschrieben werden könnte. Mal ist er aufgedreht und reißt förmlich alles um, mal sucht er die Einsamkeit unter Wasser und deutet an, nicht mehr auftauchen zu wollen. Violet dient ihm als Strohhalm und ihre Rettung vor dem Tod lässt immer neue Ideen aufkommen. Ein gemeinsames Schulprojekt ist der Grund, warum die beiden immer mehr Zeit miteinander verbringen und sich schließlich ineinander verlieben.
Jennifer Niven stellt in ihrem Debütroman verschiedene Arten der Depression vor. Die amerikanische Highschool dient ihr dabei als Kulisse für ihre tragische Handlung. In den USA wird das Buch als Jugendbuch angeboten, in Deutschland gibt es eine erweiterte Altersempfehlung für Erwachsene. Das scheint mir durchaus angemessen. Die Autorin behandelt das Thema Suizid mit dem erforderlichen Fingerspitzengefühl. Als Außenstehender erlebt man so den gedanklichen Wandel der Figuren mit. Die Perspektiven wechseln zwischen Violet und Finch ständig ab, sodass man den Figuren sehr nahe kommt. Beide haben unterschiedliche Depressionen, die sich auch unterschiedlich auswirken und die auch anders behandelt werden. Es werden die Lebensumstände beleuchtet, wobei auch hier nicht mit Klischees gespart wurde. Dennoch regt das Gelesene zu mehr Sensibilität beim Leser an. Die Kernaussage ist dabei so erschreckend wie einfach: Keiner ist davor geschützt. Nebenbei werden sprachlich wunderschön formulierte Sätze in Tagebucheinträgen oder kurzen Dialogen eingeflochten, die das Buch noch lesenswerter machen.