Schreibwettbewerb Dezember-Februar 2015/2016 - Thema: "Ist ja irre..."

  • Thema Dezember-Februar 2015/2016:


    "Ist ja irre..."


    Vom 01. Dezember 2015 bis 31. Januar 2016 - 18:00 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Dezember 2015/Februar 2016 zu o.g. Thema per Email an schreibwettbewerb@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. Februar eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!



    Achtung: Achtet bitte auf die Änderungen! Annahmeschluß ist ab sofort immer am Monatsletzten um 18:00 Uhr und die e-mail Adresse hat sich wie folgt geändert - schreibwettbewerb@buechereule.de

  • von Suzann



    So lange sie sich zurück erinnern kann, singt sie. Als Kind sind es die Songs einer quirligen Girl Band, die sie ansprechen. Mutter und Großmutter sind das erste Publikum, das sich ihre Darbietungen anhört und sie darin bestärken, weiterzumachen. Nicht, dass das nötig wäre. Musik ist ihr direkter Draht zu dem Gefühl, das oft so intensiv und heftig in ihr tobt. Sie ist ihr Ventil, sie regelt und gleicht aus. Zwischen damals und heute liegt ein weiter Weg. Eine Zeit, die ihr im Rückblick wie ein Wimpernschlag vorkommt. Wegen einer Schule, die zu ihrem Talent passt, zieht sie zurück an ihren Geburtsort. Sie kann es nicht abwarten weiterzukommen, älter zu werden, ihre Musik zu teilen. Ihre Musik für die Ohren, nicht für die Augen.


    Jetzt hat sie es geschafft. Sie ist angekommen. Gelöst steht sie auf der Bühne der geschichtsträchtigsten aller Hallen. Eine junge Frau, gekleidet in schwarzen Stoff und Spitze, mit Engelsgesicht und einer Stimme, die Steine zum Schmelzen bringt. Es gibt keine Bühnenshow, keine nackte Haut, keine schweißtreibenden Tanzschritte, nur sie und eine fast fühlbare Verbindung zum Publikum. Während der letzten einhundert intensiven Minuten hat sie nicht nur ihre Songs vorgetragen, sondern auch viel geplaudert. Des Öfteren war ihr Bauarbeiterlachen zu hören und fielen Kraftausdrücke, die dieser stilvollen Umgebung eigentlich unwürdig sind. Hier, zwischen Plüsch und Prunk in Rot- und Goldtönen und stimmungsvollem Lichtkonzept, verraten sie den Menschen. Die typgerechte Frisur, das gekonnte Make Up und die wundervollen Töne können angesichts dieser entwaffnenden Offenheit die Illusion vom unnahbaren Wesen nicht aufrechterhalten.


    Zu den letzten Liedern haben Orchester und Backgroundgesang die Bühne verlassen. Sie erzählt wieder aus dem Nähkästchen und die Leute hängen an ihren Lippen, johlen, klatschen und winken. Weil ihr nach dem langen Stehen die Füße schmerzen, hat sie die schicken Schuhe abgestreift und steht in Strumpfhosen auf den historischen Brettern. Für ihr Lied über eine verlorene Liebe reicht die Begleitung des Klaviers. Nichts lenkt ab. Nur die Stimme trägt den Moment. Beim Refrain fordert sie zum Mitsingen auf und die Reaktion ist überwältigend. Die Freude darüber ist ihrer Stimme anzuhören, als sie wieder übernimmt, trotzdem verfehlt sie keinen Ton. Zum zweiten Refrain ist der Chor der Menschen, die ihre Worte singen, sogar noch lauter. Gerührt hält sie das Mikro in die Menge und ihre Augen glänzen:


    „Schon gut, ich werde jemanden wie dich finden.
    Ich wünsche euch beiden nur das Beste.
    Vergiss mich nicht, ich flehe dich an.
    Ich erinnere mich daran, dass du sagtest:
    „Manchmal bleibt die Liebe,
    aber manchmal tut sie einfach nur weh.“

  • von crycorner



    „Bin kein Nazi, aber…“, hallt es durchs Netz.
    Die braune Soße macht aus Meinung Gesetz.
    Facebook und Twitter als Plattform genutzt,
    Ein Hater der jedes Netzwerk beschmutzt.


    „Merkel muss geh´n!“ schreit das Wutbürgertum,
    „Wie toll, da liegen am Strand Leichen rum“.
    Ein Shitstorm aus Bullshit, und wir hart im Wind,
    weil wir unbeugsam menschlich zu Menschen sind.


    „Bin kein Nazi, aber die ham´s doch gewollt,
    Schlaraffenland schließen, Tor herunter gerollt.
    Wir nehmen nur Ärzte und gebildetes Volk,
    der Rest, der bleibt draussen…“


    Und was?


    „Soll´n die Türken sich kümmern die woll´n zur EU.
    Unterstützt von den Spaniern und Griechen dazu.
    Ach soll´n die doch kämpfen und im Staube krepier´n,
    die haben doch eh nix, was soll´n sie verlier´n?
    Wir haben so wenig und niemals genug,
    das Staatsgeld den Fremden, das grenzt an Betrug.“


    Wollt Ihr das sagen? Einem Kind ins Gesicht,
    das Mama verlor´n hat und seitdem nicht mehr spricht?


    Wollt Ihr das sagen, dem entwurzelten Mann,
    der Frau und die Kinder nur zuhaus´lassen kann?
    Der bei Gefahr für sein Leben in Meer hinaus fährt,
    und soll´er ertrinken, nichts jemals jemand erfährt.


    Doch wenn er dann landet, wo soll er denn hin?
    Er fügt sich dem Schicksal,…


    Schlussendlich landet er bei uns.
    Wird unter Generalverdacht gestellt, Terrorist zu sein.
    Kommt in Flüchtlingsheime unter, die wenig später abbrennen.
    Sein Bild, wie er mit verzweifelten Blick in die Kamera schaut, hinter ihm der Schutt, wird in Facebook gepostet und zigtausendfach kommentiert. Leider auch mit Freude, Häme, Spott.


    Ein Shitstorm aus Bullshit, und wir hart im Wind,
    weil wir unbeugsam menschlich zu Menschen sind.

  • von Rumpelstilzchen



    Es klopft. Arthur fährt zusammen, reibt sich die Augen und blinzelt durch die Schlitze an der Seite des Kofferdeckels. Standesgemäß in einem Sarg schlafen kann er nicht, er ist zu klein und zu schwach um einen Sargdeckel zu öffnen.


    Es ist hell draußen. Sehr ungewöhnlich. Niemand aus seiner Familie würde ihn am Tag wecken.


    „Arthur, wach auf.“ Der Koffer wird hin und her geschüttelt, Arthur schlägt mit dem Kopf heftig gegen die Seitenwand und murmelt „Ja doch, ich bin wach“.


    Kaum hat er den Deckel gehoben, packt ihn seine Mutter und schleppt ihn hinunter in die Gruft. „Großvater, ihm geht’s schlecht“. Hier unten ist es finster. Arthur steckt die Hände in seinen Umhang um bloß nicht mit den Spinnweben in Berührung zu kommen. Er hasst Spinnen. Genau wie diese schauerliche Gruft. Großvaters Hand hängt über den Rand des offenen Sargs. Seine sonst bleiche Haut ist blutrot und keuchend murmelt er unverständliche Worte. Daneben kauert Großmutter, ringt die knochigen Hände und ruft: „Hilfe, man muss Hilfe holen.“


    Neben Großvater liegt das kleine Fläschchen, aus dem er heute seine Hauptmahlzeit geschlürft hat. Arthur hebt es auf. Ob damit etwas nicht in Ordnung war? Seit Jahren sorgt er für die Ernährung der Familie. Obwohl er der kleinste und ängstlichste Vampir ist, den die Welt je gesehen hat. Jahrhundertelange Inzucht wirkt sich eben aus. Die anderen sind zu alt oder krank, um die Burgruine zu verlassen.


    Arthur steckt das Fläschchen ein, ruft: „Ich bin bald zurück“, und hastet die Treppe hinauf. Was keiner ahnt: Arthur kann das lebensnotwendige Blut nicht auf die vampirtypische Weise beschaffen. Es graust ihn bei dem Gedanken, seine Zähne in den Hals eines Menschen zu bohren und eine Ader aufzureißen.


    Bei seinem letzten Versuch, halb verhungert, hatte er sich ins örtliche Krankenhaus geschlichen, war dort aber entkräftet neben das Bett eines bewusstlosen Patienten gesunken. Die Nachtschwester hatte ihn gefunden und ihn mit einer Blutkonserve aufgepäppelt. Seitdem waren sie befreundet, Arthur und Olga, die Krankenschwester. Und Olga versorgte ihn auch mit den abgelaufenen Blutkonserven.


    Ohne auf das Sonnenlicht zu achten, rennt er zum Krankenhaus. Zum Glück hat Olga Dienst. Sie betrachtet nachdenklich das leere Fläschchen. „Hätte ich nicht gedacht, dass Vampiren ein negativer Rhesusfaktor schadet. Ihr trinkt das Blut schließlich! Warte, ich hole ein Gegenmittel“. Sie hält ein winziges Glasröhrchen in der Hand, als sie zurückkommt. „Ich glaube zwar, dass dein Großvater sich von selbst erholt. Aber damit geht es schneller. Schütte es ihm einfach in den Mund. Muss ich doch in Zukunft besser aufpassen. “


    Arthur nimmt das Röhrchen und saust los. Völlig außer Atem stolpert er die Treppe zur Gruft hinunter.


    Dem Großvater scheint es etwas besser zu gehen, trotzdem schüttet Arthur ihm den Inhalt des Röhrchens in den Mund. Die ganze Familie bestürmt ihn mit Fragen, wo er war, was das für ein Zeug ist, das er dem Großvater gegeben hat. Arthur schüttelt bloß den Kopf. Niemals dürfen sie erfahren, dass die altehrwürdige Vampirfamilie von Burg Schwarzenfels ihr Überleben der modernen Medizin verdankt.

  • von Marlowe



    (Die Erklärung des Adolar aus Berlin anno 19XX)


    Ew. Fräulein Gundula,
    hier meine von Ihnen gewünschte Erklärung für das Geschehene am Samstag in Ihrem Elternhaus.


    Ich war so selig, als Sie mich letzte Woche spontan zu Ihrer Geburtsfeier einluden, dass ich das Glück kaum fassen konnte. Auf meine schüchterne Frage, was Ihnen als Geschenk denn Freude bereiten würde sagten Sie, obwohl Sie fast alles hätten, bräuchten Sie etwas Wärmendes für Ihre beiden Möpse, da diese in den kalten Monaten immer so frieren würden. Wenn ich dafür etwas finden würde, wäre dies die größte Freude für Sie.


    Da ich bisher noch nicht die Gelegenheit hatte, Ihre Möpse zu bewundern, konnte ich die Größe nur schätzen. Doch eilte ich sofort zu meiner Mutter, die Ihnen als die beste Strickerin der Stadt wohl bekannt ist und bat sie, mir ein passendes Geschenk für Ihre Möpse zu fertigen.


    Sie hat sich wirklich alle Mühe gegeben und sich für die Form der Pudelmütze entschieden, die Bommel allerdings sehr klein und hohl, damit sie (die Möpse) auch am Kopfe nicht frieren mögen.


    Dann baten Sie, hochverehrte Gundula, mich während der Feier, mein Geschenk Ihren Möpsen anzulegen. Auf meinen wiederum schüchternen Einwand entgegneten Sie, dass alle im Saal Ihre Möpse bestens kennen würden und auch oft schon gestreichelt hätten und ich solle mir keine Sorgen machen, sie würden mich nicht beißen. So also von Ihnen ermutigt, streifte ich Ihnen entschlossen vor den Gästen die Bluse und das Mieder herunter um Ihren wohlgeformten Möpsen die Wärmespender überzustreifen.


    Als im gleichen Augenblick Ihre Zofe mit diesen beiden kleinen so zerknautscht wirkenden Hunden auf dem Arm neben Sie trat, erkannte ich erst meinen schrecklichen Irrtum. Ich stamme aus einem einfachen bürgerlichen Haus, hochverehrte Gundula, Möpse wie die Ihren kannte ich nicht und habe sie vorher auch nie gesehen.


    Ich verstehe, wie peinlich dies alles gewesen ist und entschuldige mich von ganzem Herzen für diesen Vorfall und Irrtum. Inzwischen weiß ich ja, dass Sie mit ihren Möpsen nur im Schlafzimmer oder ab und zu, bei schönem Wetter, im Garten spielen und ansonsten von Ihren Bediensteten ausführen lassen. Hätten Sie sie doch nur einmal mitgenommen bei einem unserer gemeinsamen Spaziergänge, wäre es zu diesem peinlichen Vorfall nie gekommen.


    Weiterhin würde ich alles dafür geben, mit Ihnen wieder an der Spree zu flanieren und dabei stolz ihre Möpse mit Ihnen auszuführen. Darf ich noch hoffen?


    Ihr ergebenster Adolar

  • von Sinela



    „Oh man, ist das schon heiß, dabei haben wir noch nicht mal 10 Uhr.“
    Martin Steinberg öffnete die Augen und schaute seine Frau träge an.
    „Wer wollte denn unbedingt nach Thailand? Eben, also beschwer dich jetzt nicht über die Hitze, sondern genieße einfach das Nichtstun. Du kannst ja mal ins Wasser gehen und dich abkühlen.“
    Simone warf einen Blick in Richtung Meer, vergewisserte sich, dass ihre Söhne keine Dummheiten machten und beschloss liegenzubleiben. Kurz darauf folgte sie ihrem Mann ins Land der Träume.



    „Mama, Papa, schnell, das müsst ihr sehen!“
    „Was ist denn los Peter?“
    „Das Meer, es ist weg.“
    Herr und Frau Steinberg setzten sich auf. Tatsächlich, wo eigentlich Wasser sein sollte, zeigte sich der Meeresboden.
    „Das gibt es doch nicht, wir haben doch keine Ebbe, oder?“
    „Nein, jetzt ist Flut. Komm, das schauen wir uns mal aus der Nähe an.“
    Wie viele Strandbesucher vor ihnen gingen sie hinaus in das jetzt trocken liegende Watt, blickten hinaus in Richtung Meer, das sich weit zurückgezogen hatte.
    „Man Alter, ist das abgefahren!Echt irre!“
    „Peter, ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ...“
    „Wir müssen hier sofort weg“
    „Warum das denn? Wir sind doch ...“
    „Ich habe gestern in einem Buch von einer ähnlichen Begebenheit gelesen! Das Erdbeben heute Morgen, das zurückgezogene Meer – da kommt eine Flutwelle!“
    Zweifelnd sah Frau Steinberg ihren Mann an und sah die Angst in seinen Augen. Sie packte ihre Söhne rechts und links an den Händen und zog sie mit sich.
    „Wir müssen zum Hotel, in unsere Zimmer im obersten Stockwerk. Lauft so schnell ihr könnt!“



    Herr Steinberg hielt die Tür des Hotels auf.
    „Beeilt euch! Und schnell nach oben! Peter, nicht mit dem Aufzug, wir nehmen die Treppe!“
    „Wieso das denn, ich habe keinen Bock nach dem Gerenne jetzt noch die Treppen ...“
    Die Mutter unterbrach sein Gequengel.
    „Hört ihr das? Was ist denn das für ein lautes Geräusch?“
    „Das ist die Welle! Los! Weiter! Macht schon!“
    Mit keuchendem Atem liefen sie weiter, Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk, bis sie endlich das Zimmer der Eltern erreichten, wo die Kinder völlig erschöpft auf das Bett sanken, während Herr Steinberg mit wackeligen Knien zum Fenster ging und hinaus schaute.
    „Oh mein Gott!“
    Seine Frau trat neben ihn und schaute genauso fassungslos wie er auf die Wassermassen, die sich durch die Straße vor dem Hotel wälzten. Auto, Bäume, Holz von zerstörten Häusern, aber auch tote Menschen und Tiere wurden darin mitgerissen.
    Herr Steinberg umarmte seine zitternde Frau, die sich Halt suchend an ihn lehnte.
    „Hättest du dieses Buch nicht gelesen, wir wären wohl nicht mehr am Leben.“
    Er warf einen Blick auf seine Jungs, die immer noch auf dem Bett lagen.
    „Wir haben den Tsunami überlebt, viele andere hatten dieses Glück nicht.“

  • von Inkslinger



    Ich starre auf die Straße vor mir und versuche, mich auf den kaum noch erkennbaren Mittelstreifen zu konzentrieren. Es ist nicht leicht, das Gehirn dazu zu bringen, nicht komplett abzuschalten. Nach dem Zehn-Stunden-Arbeitstag im Büro ist mein Aufmerksamkeitslevel so niedrig, dass es jeden Limbo gewinnen würde. Hinzu kommt die eintönige Landschaft. Mit jedem Baum und Busch bin ich seit Jahren per du.


    Plötzlich nehme ich aus dem rechten Augenwinkel eine Bewegung wahr und gehe vom Gas. Über das Feld hinweg bemerke ich in der Seitenstraße eine Traube Jugendlicher, die sich auf dem Vorhof eines Traktorverleihs gebildet hat. Zwischen ihnen steht ein kleinerer Junge. Die anderen schlagen auf ihn ein und reißen begeistert die Arme hoch, als er zu Boden geht.


    Ich schaue mich um. Kein Auto weit und breit. Ohne darüber nachzudenken, biege ich in die Nebenstraße und parke am Straßenrand. Nur kurz fluche ich über meine Handylosigkeit, dann steige ich aus.


    Es sind sieben Jugendliche um die sechzehn Jahre. Sie johlen und rufen sich gegenseitig etwas zu.
    „Hey, lasst den Jungen in Ruhe! Die Polizei ist unterwegs!“ zu rufen wäre schlau gewesen. Ich weiß nicht, was ich da schreie, aber DAS ist es nicht. Einige Schläger drehen sich zu mir um und schauen mich finster an. Einer von ihnen kommt auf mich zu und schubst mich.
    Schneller als ich gucken kann liege ich auf dem Boden und sehe mehrere Paar Schuhe auf mich zu stapfen. Instinktiv rolle ich mich zusammen. Ihre Tritte treffen mich hart am Rücken. Immer wieder denke ich: „Bloß nicht die Brille schrotten, sonst komm ich nicht mehr nach Hause.“


    Mittendrin hören die Kicks plötzlich auf. Ich hebe vorsichtig den Kopf und sehe einen tätowierten Typen auf der anderen Straßenseite. Er springt gerade aus seinem LKW und schreit mir unverständliche Worte. Die Jungs scheinen ihn zu verstehen, denn sie lassen von mir ab und rennen weg.


    Der Fernfahrer kommt auf mich zu. „Alles okay?“ Ich stehe langsam auf und nicke. Zusammen helfen wir dem Kleinen aufzustehen. Er erzählt uns, dass er Daniel heißt und in der Nähe wohnt. Ich bedanke mich bei unserem Retter und packe Daniel in mein Auto. Wenig später stehen wir vor seiner Mutter.
    Sie überschüttet uns mit Fragen, die ich so gut es geht beantworte. Nachdem ich ihr meinen Namen und Telefonnummer hinterlassen habe, bedankt sie sich und sagt, sie würde sich melden, falls sie meine Aussage bräuchten.


    Als ich später meiner Mutter davon erzähle, schreit sie mich an: „Was da hätte passieren können! Bist du bescheuert?!“ Erst da bemerke ich, wie dämlich meine Aktion war. Dämlich, aber trotzdem richtig. Oder?



    Einige Monate später erfahre ich, dass Daniel tot ist. Nach dem Vorfall sind er und seine Mutter umgezogen, haben aber seine Schule nicht gewechselt. Eines Tages haben sie ihn nach Schulschluss an der Bushaltestelle abgepasst und niedergestochen.


    Auch über zehn Jahre danach frage ich mich immer noch, wie ein 13-Jähriger so gehasst werden kann.