Der Büchereulen-Adventskalender 2015

  • 21. Dezember 2015 von Dieter Neumann


    Der Pfarrer von St. Pauli

    So heißt der bekannte Film von Rolf Olsen, der 1970 in die Kinos kam, und in dem Curd Jürgens die Hauptrolle spielt. Den „richtigen“ Pfarrer von St. Josef, jener barocken katholischen Kirche auf der Großen Freiheit in Hamburg, gelegen in direkter Nachbarschaft von Reeperbahn und Herbertstraße, hat es jedoch wirklich gegeben. Albert Mackels war sei Name. Und ich war sein Messdiener – damals, in den Fünfzigerjahren. Als ich noch glauben konnte.
    Albert Mackels war zur See gefahren war, hatte dann eigentlich Seemannspfarrer werden wollen, landete jedoch 1953 als junger Priester in einer der sonderbarsten Kirchen der Welt, mitten im Zentrum der „sündigsten Meile“. Mochte das durchaus etwas Besonderes sein, so war St. Josef aber vor allem das Zentrum der katholischen Gemeinde in diesem Teil der Großstadt, ihre Kirche.
    Wir wohnten damals in Hamburg-Altona. Mein Weg zum Kommunionsunterricht führte mich schon als Achtjähriger am „Salambo“ ebenso vorbei wie an der „Ritze“. Ich habe viel gesehen in diesen Jahren, manches davon erst viel später verstanden, das meiste allerdings vergessen.
    Für immer aber werden mir die Weihnachtsgottesdienste in St. Josef vor Augen stehen, viel eindringlicher, viel tiefer, als die Bilder des reichlich klischeehaften Kinofilms später. Jedes Jahr spielte sich dort etwas Unerhörtes ab, und ich habe es miterlebt. Von den Altartreppen aus hatte man als Messdiener einen guten Überblick über den Kirchenraum. Und so entging mir nicht, dass sich – immer erst eine gute Zeit nach Beginn der Messe, wenn alle sich auf den Bänken eingerichtet hatten – ganz vorsichtig und zaghaft das große Portal im Rücken der Gläubigen öffnete und Gestalten verstohlen hereinhuschten, im Schatten Deckung suchten oder sich hinter einer der dicken Säulen verbargen.
    Wenn ich als kleiner Junge das von einer Altarstufe aus sehen konnte, so blieb erst recht natürlich dem Pfarrer nicht verborgen, was sich da hinten in seiner Kirche tat. Mackels war ein ungewöhnlich großer Mann, eine eindrucksvolle Erscheinung mit breiten Schultern, großen Händen, vollem Haar und einer Stimme, die mühelos bei Windstärke acht vom Bug bis zum Achtersteven des Frachtdampfers gereicht haben mochte, auf dem er früher gefahren war.
    Wir Messdiener wurden ungeduldig, wenn wir feststellten, dass sich mehr und mehr sonderbare Leute da hinten sammelten, unser Pfarrer aber scheinbar seelenruhig sein Programm abspulte.
    Irgendwann versiegte schließlich der Zustrom verspäteter Gäste. Und dann kam das, worauf ich sehnsüchtig gewartet hatte.
    Der Pfarrer von St. Pauli unterbrach sich in dem, was er gerade tat, als wären ihm die Schattengestalten da hinten eben erst aufgefallen, richtete seinen Blick über die Köpfe der Gemeinde und fragte freundlich, aber wahrlich unüberhörbar: „Ihr dort, liebe Leute, wollt ihr das Wort Gottes hören? Dann seid uns willkommen, kommt herein, setzt euch zu uns!“
    Und immer wieder, jedes Jahr, geschah dasselbe – nämlich nichts. Einerseits wagte sich offenbar keiner der Menschen, die da draußen auf den Straßen des Kiez lebten, der Huren, Bettler, Säufer, der Verlorenen und ja, auch der eine oder andere „Loddel“, wie wir Hamburger die Zuhälter nannten, ins Licht des Kirchenschiffs. Sie alle hatten wohl das Bedürfnis, wenigstens an Heiligabend einmal in ein Gotteshaus zu kommen, aber sie verloren augenscheinlich nach dem Eintreten allen Mut. Andererseits aber war auch von dort hinten leicht zu erkennen, dass die Bude voll war, alle Bänke belegt. In den vorderen Reihen beidseits des Ganges saßen stets die Honoratioren, der Gemeindevorstand. Einmal hörte ich eine Dame dort zischen: „Lichtscheues Gesindel“.
    Nun, Albert Mackels hatte das auch gehört. Den Blick habe ich nie vergessen. Die Dame aber auch nicht, da bin ich sicher.
    Welch ein Bild! Er stieg, angetan mit dem prächtigsten Priestergewand, die Altarstufen hinab, breitete die gewaltigen Arme aus und marschierte den Gang hinunter zum Tor. Wir hörten ihn sagen: „Kommt, ich begleite euch!“
    Einmal nahm er eine nicht mehr junge Hure, an deren löcherige Strümpfe ich mich nach all den Jahren noch erinnere, an die Hand, legte einem ziemlich betrunkenen Mann in schmutziger Kleidung die Hand auf die Schulter und dirigierte sie durch den Gang. Eine Handvoll anderer bunter Gestalten folgte und bildete so regelrecht eine kleine Prozession.
    Vorn angekommen, forderte Pfarrer Mackels mit seiner tiefen Stimme, bei deren Klang niemand einen Widerspruch auch nur in Erwägung gezogen hätte, die Gemeinde zum Zusammenrücken auf. Es seien Menschen hier, die am Weihnachtsabend das Wort Gottes hören wollten, und dabei müssten sie natürlich nicht stehen – jedenfalls nicht in seiner Kirche. Die meisten der bemerkenswerten Gäste platzierte er vorzugsweise in den ersten Reihen zwischen den Honoratioren. Ich war damals schon und bin heute noch sicher, dabei ein paar ganz unpassend diabolische Lachfältchen in seinen Augenwinkeln gesehen zu haben.
    Inbegriff von gelebtem Christentum – das war es, was der Knabe, der ich damals war, dabei gefühlt hat. Ich habe diesen Mann dafür geliebt.

    Albert Mackels ist 2005 im Alter von 92 Jahren gestorben. In den Sechzigerjahren haben wir uns noch ein paarmal getroffen. Später ist unsere Verbindung abgerissen. Ich glaube heute nicht mehr an Gott. Gut, dass ich ihm das nicht mehr sagen muss.

  • 23. Dezember 2015 von churchill


    Zwei ganz normale Wochen im Advent


    Advent und Weihnachten sind sogenannte Familienzeiten. Wir stellen uns vor: Familienmitglieder sitzen in trauter Runde zuerst um den Adventskranz, später um den Weihnachtsbaum, erfreuen sich der wachsenden Lichterpracht, verzehren die in Eintracht und Harmonie gebackenen Weihnachtsplätzchen einträchtig und harmonisch. Dazu lauschen sie weihnachtlichen Klängen oder, noch besser, erzeugen diese mithilfe verschiedenster Musikinstrumente selbst und eigenhändig. Wochenlang beherrschen Frieden, Jauchzen und Frohlocken das Familienleben und alle, alle freuen sich gar sehr.


    Soweit die Theorie. Ich möchte euch exemplarisch an zwei Wochen unseres Familienadvents teilhaben lassen. Wer in den letzten Jahren schon einmal in den Adventskalender hineingeschaut hat, wird eventuell alte Bekannte wiederentdecken.


    Montag, 7. Dezember


    Mrs. Churchill hat wie jedes Jahr aufwändige Adventskalender für jedes Kind angefertigt. An einem Ast hängen jeweils 24 Päckchen. Eins davon darf jeden Morgen geöffnet werden. Eins davon. Sohn Nr. 3 hat da andere Vorstellungen. Heute hängen an seinem Ast noch 24 Schnüre. Die Päckchen sind geöffnet. Alle. Der Inhalt liegt verteilt in seinem Zimmer. Das Geschenkpapier in der ganzen Wohnung. Diskussionen sind zwecklos.
    Er findet sein Vorgehen nach wie vor logisch.
    In seinem System.


    Mittwoch, 9. Dezember


    Sohn Nr. 2 hat seine nächste Fahrstunde. Stunden später sitzt er im Wohnzimmer, liest und spielt irgendwas. Plötzlich holt er etwas aus seiner Hosentasche. Seinen Führerschein. Er hat niemandem etwas vom Prüfungstermin gesagt. Fast auf den Tag genau vor 32 Jahren hatte ich meinen einzigen unentschuldigten Fehltag in der Schule. Weil ich niemandem etwas von meiner Fahrprüfung sagen wollte. Sohn Nr. 2 ist jener aus Adventskalender 2013, der sich über Geschenke eher still und unauffällig freut ...


    Donnerstag, 10. Dezember


    Wir verabschieden uns. Mal wieder. Diesmal von Kurzzeittochter Nr. 5. Sie ist vier Jahre alt, kam vor drei Monaten gemeinsam mit ihren beiden zweijährigen Geschwistern zu uns. Die Zwillinge sind schon seit sechs Wochen bei einer neuen Familie. Nun also auch Nr. 5. Immerhin zwei Wochen vor dem Fest. Nicht wie letztes Jahr bei ihrem "Kollegen" einen Tag vor Heiligabend. Im letzten Vierteljahr hat sie Riesenfortschritte gemacht.
    Und eine neue Brille bekommen.
    Ciao, kleine Maus ...


    Freitag, 11. Dezember


    Zwei Auftritte in verschiedenen Lehrerchören. Guter Rotwein. Zuviel davon.


    Samstag, 12. Dezember


    Großes Weihnachtskonzert unseres Chores. Gelungen. Anschließend kein Wein. Sondern Bier. Bin ja lernfähig.


    Sonntag, 13. Dezember


    Runder Geburtstag der Schwiegermutter. Mit der ganzen Familie und einem neu getexteten Lied im Gepäck fahren wir los. Halt, nicht mit der ganzen Familie. Sohn Nr. 2 kam mit Gehirnerschütterung von seinem Fußballspiel zurück. Bleibt zu Hause.


    Montag, 14. Dezember


    Die neue Mutter von Kurzzeittochter Nr. 5 vermeldet stolz, sie habe durchgesetzt, dass der große Kuschelteddy nicht mehr im Bett von Nr. 5, sondern daneben platziert wird.
    Möchte am liebsten losfahren und Nr. 5 holen.
    Heim.
    Mit Teddy.


    Mittwoch, 16. Dezember


    Termin beim Amtsgericht. Der Rechtspfleger setzt uns formal als Betreuer unserer 18jährigen Tochter Nr. 2 ein. Sie lebt seit vierzehn Jahren bei uns. Ganz selbständig wird sie nie leben können. Sowas kann passieren, wenn der Alkohol auch in der Schwangerschaft gut schmeckt.


    Freitag, 18. Dezember


    Großer Umschlag in der Post. Vom Bundespräsidialamt.
    "Herr Bundespräsident würde sich freuen, Mrs. Churchill und Sie zum Neujahrsempfang in Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen."


    Wir? Zum Bundespräsidenten? Als "Bürgerin und Bürger, die sich um das Gemeinwohl ..."


    Wo ist die versteckte Kamera?


    Als Begründung wird angeführt, wir hätten seit zwanzig Jahren neben drei eigenen auch sieben Pflegekinder betreut. Mrs. Churchill wendet ein, dass es entweder sechs Pflegekinder waren, wenn man die dauerhaft bei uns lebenden zählt oder aber mehr als zwanzig, wenn man alle Bereitschaftskinder einrechnet. Ich erwidere, dass ich die angegebene Zahl dennoch nicht in Zweifel ziehen möchte. Immerhin muss ja irgendein Vorschlagender diese Information weitergegeben haben. Heimlich zähle ich nach.


    Gleichzeitig schießen mir Gedanken durch den Kopf:
    Wer kümmert sich um unsere Bande, wenn Mrs. Churchill und ich zum ersten Mal seit 23 Jahren zu zweit ein paar Tage unterwegs sind?
    Wo bekomme ich den vorgeschriebenen dunklen Anzug her?
    Und vor allem: Was wird Voltaire von mir halten, wenn ich die Einladung annehme?


    Samstag, 19. Dezember


    Ich habe ein bisschen Bauchweh, weil noch ein paar Adventstage übrig sind …

  • 24. Dezember 2015 von harimau


    Heilige Nacht in Rupse Chahara


    „Das schaffen wir nicht mehr“, sagte Steffi und setzte sich resigniert auf einen Felsbrocken am Wegesrand.
    Ich nickte und setzte den Rucksack ab. Nur wenige Kilometer talabwärts waren die Dächer von Tatopani zu erkennen, doch der Eintritt ins gelobte Land blieb uns verwehrt. Den schmalen, aus Geröll und rutschigem Fels bestehenden Pfad über der Schlucht in der einsetzenden Dunkelheit weiterzugehen, wäre für Ortsunkundige wie uns lebensgefährlich. So ein Mist!
    Drei Wochen lang waren wir – bergauf, bergab - im Himalaja unterwegs gewesen, hatten weit über zweihundert Kilometer hinter uns gebracht und dabei immer vor Augen gehabt, quasi als Belohnung für die Strapazen, Heiligabend nach einer solarbeheizten Dusche und dem Genuss des auf dem ganzen Treck berühmten Apfelstrudels in halbwegs komfortablen Betten zu schlafen; am ersten Weihnachtstag sollte dann ein ausgiebiges Bad in den für den Ort namenstiftenden heißen Quellen folgen.
    Aus der Traum. Nur weil wir getrödelt oder eine Pause zu viel eingelegt hatten, schlug uns die Pforte zum Paradies vor der Nase zu.
    „Wie heißt das Kaff hier?“, fragte ich und begutachtete missmutig ein Häufchen erdbebenschiefer, sich an die Felswand schmiegender Natursteinhäuser. Als wäre das Dorf nicht trostlos genug, stürzte gleich dahinter ein tosender Wasserfall über die Talkante; der Anblick war beeindruckend, aber an Schlaf war bei dem Lärm sicher nicht zu denken.
    Steffi zog die Wanderkarte aus dem Rucksack und warf einen Blick darauf. „Rupse Chahara, wenn ich mich nicht täusche.“
    „Klingt ja großartig. New York, Rio, Rupse Chahara“, grummelte ich und bereitete mich innerlich auf ein weiteres fades Abendessen und eine Nacht auf brettharter Pritsche vor.


    „You need room?“ Auf uns kam, einen Wasserbüffel an der Leine hinter sich herziehend, eine Bäuerin in landstypischer Tracht zu. Mit ihrem rotbäckigen, von Entbehrungen und harter Arbeit gezeichneten Gesicht sah sie aus wie fünfzig, war aber wohl kaum älter als dreißig.
    „Sure“, sagte Steffi, und wir folgten der Frau im Windschatten des breiten Büffelhinterns zu ihrem Haus.
    Das Zimmer war karg und zugig, aber immer noch besser, als überhaupt kein Dach über dem Kopf. Ich musste an ein prominenteres Ehepaar denken, dass vor zweitausend Jahren unter schwierigeren Bedingungen nur einen Stall zum Übernachten gefunden hatte. Wir wurden zumindest nicht von den Schergen eines Kindermörders verfolgt, und Steffi war auch nicht hochschwanger. Schlimmer geht immer, tröstete ich mich.
    Ein Abendessen gäbe es auch, verkündete unsere Wirtin, nachdem wir uns notgedrungen für das Zimmer entschieden hatten. Wenig überraschend standen weder Gänsebraten noch Karpfen Blau auf der übersichtlichen Speisekarte, sondern ausschließlich Dal Bhat, das nepalische Nationalgericht. Wieder einmal hatten wir die Wahl zwischen Reis mit Linsen oder Linsen mit Reis. Auch gut. Irgendetwas musste schließlich dran sein an dem Zeug, dass in grauer Vorzeit ein Kerl namens Esau sein Erstgeborenenrecht dafür verscherbelt hatte.


    Als wir in die kleine Gaststube traten, saß bereits ein halbes Dutzend junger Menschen unterschiedlicher Nationalität am einzigen Tisch und aß; allein ein Japaner, Quotenasiat der Gesellschaft, hatte sein Mahl bereits beendet und führte, eine halbvolle Flasche des lokalen Aprikosenschnapses vor sich aufgebaut, rotgesichtig und vom Geist des Alkohols inspiriert, schwungvolle Reden, deren Inhalt in Ermangelung der nötigen Sprachkenntnisse niemand verstand, was weder ihn noch die anderen störte.
    Mir fiel auf, dass außer dem Japaner beim Essen niemand sprach, während sich normalerweise in jeder noch so bunt zusammengewürfelten Gruppe von Wanderern lebhafte Diskussionen über Gott und die Welt ergaben. Lag es daran, dass an diesem besonderen Abend die Gedanken den Familien zu Hause, guten Freunden, gar dem Jesukind oder, ganz profan, den verpassten Annehmlichkeiten von Tatopani galten?


    Steffi und ich stellten uns aufgrund der trüben Stimmung schon auf eine frühe Nacht ein, als die Gastgeberin nach dem Abräumen der letzten Teller mit einer Flasche Schnaps zurückkam und zur Feier des Tages jedem ein Gläschen einschenkte. „And now you singing!“
    Verwirrung machte sich breit, bis wir begriffen, dass andere Gäste in den Vorjahren offenbar Lieder gesungen hatten, um den Heiligen Abend zu begehen, und die Wirtin nicht willens war, auf dieses urkomische Vergnügen zu verzichten. Nach kurzer Absprache stellte sich heraus, dass wir weder über geeignete Stimmen noch ein gemeinsames Repertoire verfügten, woraufhin die Amerikanerin, dem ureigenen Pragmatismus ihres Volkes Ehre machend, die Aufführung eines Krippenspiels vorschlug.
    Die Rollen waren schnell verteilt. Die Amerikanerin riss wie selbstverständlich Regie samt weibliche Hauptrolle an sich und verwandelte sich mittels eines aus dem Nichts hervorgezauberten, schnell aufgepusteten und unter dem Pullover platzierten Luftballons in die schwangere Gottesmutter, fürsorglich unterstützt von ihrem spanischen Joseph; Steffi übernahm den Part der Hirten, der Franzose spielte (nachdem mein Vorschlag, den Wasserbüffel zur Steigerung der Authentizität aus dem Stall in die gute Stube zu zerren, aus praktischen Gründen leider mehrheitlich abgelehnt wurde) das obligatorische Viehzeug. Der Argentinier bestand aus unerfindlichen Gründen darauf, Pontius Pilatus darzustellen, höchst überflüssig, da bekanntlich abwesend in besagter Szene, aber wer waren wir, seine Obsession in Frage zu stellen? Sollte er zusehen, wie er den Händewäscher in die Handlung integrierte. Dem Japaner, inzwischen stockbesoffen und in völliger Unkenntnis der Story, wurde durch Gesten aufgetragen, als Stern von Bethlehem den Ort des Geschehens zu umkreisen, während sich der große Moment anbahnte.


    Ein Knall, ein Schrei, und fertig war das Wunder: Auf den mittels eines Nadelstiches geplatzten Luftballon folgte mit perfektem Timing der Auftritt des unter Schmerzen geborenen Gotteskindes in Person der mit Dreadlocks bewehrten Norwegerin. Steffi auf den Spuren des torkelnden Japaners, der Franzose muhend, blökend und meckernd, dass es die reine Freude war, während der Argentinier sich die Hände reibend danebenstand, als ob ihn die Sache nicht das Geringste anging. Was für ein fabelhafter Tumult! Schließlich mein Auftritt als die Heiligen Drei Könige in Personalunion, die dem Jesukind in Ermangelung von Weihrauch und Myrrhe ersatzweise Aprikosenschnaps und eine Schachtel unsäglich schlechter Zigaretten der Marke Yak darbrachten. Unsere Wirtin bog sich vor Lachen, als das ihr komplett unverständliche Spektakel sein Ende fand und wir Darsteller uns glücklich in die Arme fielen.
    Danach war die Stimmung grundlegend verändert, sozusagen von einem neuen Geist beseelt, um es angemessen salbungsvoll auszudrücken; wir redeten, lachten und tranken Schnaps bis in die Nacht. Als der Japaner schließlich umkippte, schleppten der Franzose und ich ihn fürsorglich in seine Kammer, entledigten ihn seiner Stiefel und stopften den widerstrebenden Leib in einen Schlafsack, damit er nicht fror. Sofern er sich überhaupt an diesen Abend erinnerte, sollte es mit Freude geschehen.
    Als wir uns weit nach Mitternacht von unseren Freunden für eine (Heilige) Nacht verabschiedeten, nahmen wir uns alle gegenseitig in den Arm, bevor jeder auf sein Zimmer verschwand. Obwohl ich solchen Vertraulichkeiten gewöhnlich mit Skepsis gegenüberstehe, weil sie mich an überkommene Hippierituale oder, noch schlimmer, die Waltons erinnern, fühlte sich dieser Ausdruck ehrlicher Verbundenheit unter Fremden erstaunlich gut und richtig an.


    Um eine letzte Zigarette zu rauchen und den ungewöhnlichen Abend in mir nachhallen zu lassen, beschloss ich, einen kurzen Spaziergang zu unternehmen, bevor ich schlafen ging. Die Luft war kalt und frisch, wie es sich für eine Winternacht in den Bergen gehörte. Als ich am Rand der Schlucht ankam und die Lichter von Tatopani unter mir blinken sah, war ich plötzlich sehr froh, dass wir es nicht mehr hinabgeschafft hatten.