Der Büchereulen-Adventskalender 2015

  • 2. Dezember 2015 von Belladonna



    Das Wichtelgeschenk


    Es war ein gelungener Abend. Bernd, ihr Abteilungsleiter, war ein eher bodenständiger Mensch und so trafen sie sich zur alljährlichen Weihnachtsfeier im „Meyer’s“, einem kleinen Restaurant mitten in der Stadt mit gutbürgerlicher Küche. Das Essen war gut und hinterher wurde wie jedes Jahr gewichtelt. Diesmal war das Motto „Grün“ und alle lachten herzlich, als Bernd eine grasgrüne Pudelmütze mit einer großen weißen Bommel auspackte. Wahrscheinlich würde er die sogar anziehen. Noch mehr Gelächter gab es, als Marco, der Abteilungsgigolo, sein Geschenk öffnete: eine grüne Boxershorts mit dem Gesicht von Rudolf dem Rentier an exponierter Stelle. Wenn man auf die rote Nase drückte, spielte ein eingenähter Musikchip: „Rudolph the red-nose reindeer“. Auch wenn sie nie offiziell auflösten, wer wen bewichtelte, so war es doch ein offenes Geheimnis, dass die Shorts von Marianne kam, die seit Jahren hoffnungslos in Marco verschossen war.
    Ihr eigenes Geschenk war eher unspektakulär: eine Weihnachtsmix-CD mit grünem Cover und dazu grüner Tee mit Weihnachtsaroma. Den mochte sie zwar nicht, aber wenigstens würde sie damit nicht noch wochenlang aufgezogen werden. Sie selbst hatte Kai als Wichtelkind zugelost bekommen, einen netten Kollegen in ihrem Alter, mit dem sie schon bei mehreren Projekten zusammengearbeitet hatte. Da sie wusste, dass Kai Werder-Bremen-Fan war, hatte sie ihm eine grün-weiße Bade-Ente gekauft und dazu einen Satz grüne Teelichter – sollte er damit machen, was er wollte.


    Gegen Mitternacht löste sich die Feier auf. Sie alle waren müde nach einem langen Arbeitstag und würden auch am nächsten Morgen wieder früh aufstehen müssen. „Wollen wir zusammen laufen?“ Die Frage kam von Kai. Er wohnte wie sie in der Innenstadt, nur wenige Straßen von ihr entfernt, trotzdem begegneten sie sich außerhalb der Arbeit so gut wie nie. Das einzige, was sie von ihm wusste, war, dass er wie sie Single war und sich seine Wohnung mit zwei Katzen teilte, die er von einer älteren Nachbarin übernommen hatte, als diese nach einem Schlaganfall in ein Pflegeheim umziehen musste.


    Sie liefen schweigend nebeneinander her, jeder in seine Gedanken versunken. Morgen war Freitag, dann kam schon das vierte Adventswochenende und danach war auch schon wieder Weihnachten. Sie arbeitete ehrenamtlich in einem Flüchtlingsheim und hatte sich bereits freiwillig für die Feiertage zum Dienst gemeldet, nicht ganz uneigennützig, wie sie zugeben musste. Aber auf Weihnachten bei ihren Eltern hatte sie überhaupt keine Lust; diese aufgesetzte Fröhlichkeit, unter der doch immer der unausgesprochene Vorwurf ihrer Mutter lauerte, weil sie mit ihrem knapp 30 Jahren immer noch solo war und ihre Mutter weiterhin auf die ersehnten Enkelkinder warten musste – wenn es denn überhaupt jemals welche geben würde. Da verbrachte sie die Weihnachtstage lieber im Flüchtlingsheim, wo sie wenigstens das Gefühl hatte, etwas Sinnvolles zu tun statt nur ihre Zeit abzusitzen.


    „Wir sind da!“ Kai blieb stehen und sie blickte überrascht hoch. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie ihr Haus längst erreicht hatten. Das Licht über der Eingangstür brannte und irgendein Scherzkeks hatte einen Mistelzweig über die Tür gehängt, wahrscheinlich einer der Studenten aus der WG im Erdgeschoss. „Na dann…“ Sie zögerte. „Danke fürs Heimbringen!“ Kai zögerte ebenfalls, blickte erst zu ihr, dann zu dem Mistelzweig, unter dem sie stand, und wieder zu ihr zurück. Plötzlich machte er einen Schritt auf sie zu, nahm sie in die Arme und küsste sie. Sie war völlig überrumpelt und wäre beinahe unwillkürlich zurückgewichen, wenn Kai sie nicht gehalten hätte. Seine Lippen fühlten sich warm und weich an und sein Kuss war so zart und vorsichtig, als wolle er um Erlaubnis fragen. Etwas begann in ihr zu schmelzen und ein Glücksgefühl breitete sich in ihr aus, wie sie es lange nicht mehr gespürt hatte. Sie legte ihre Arme um Kais Nacken, öffnete die Lippen und erwiderte seinen Kuss. Sie küssten sich immer leidenschaftlicher, als plötzlich aus einem Fenster im Erdgeschoss Pfiffe und Beifallklatschen ertönten. Die komplette Studenten-WG samt Freundinnen hing aus dem Fenster, johlte und applaudierte.


    Sie ließen voneinander ab und sahen sich an; ihre Blicke spiegelten gleichermaßen Verwirrung, Überraschung und auch einen Rest des Glücksgefühls, das sie eben empfunden hatte und das immer noch in ihr nachhallte. „Magst du noch mit raufkommen?“, fragte sie Kai mit rauer Stimme. Der schüttelte den Kopf: „Ich fürchte, dass ist keine gute Idee. Ich hab morgen schon ganz früh einen Kundentermin!“ Er seufzte. „Aber morgen Abend, wäre das was? Dann ist auch Wochenende!“ Sie überlegte kurz, ob sie noch einen Überredungsversuch starten sollte, doch dann siegten auch bei ihr Müdigkeit und Vernunft: „Morgen Abend ist prima. Wir sehen uns dann in der Firma, ja? Komm gut heim und schlaf gut!“ Sie gab Kai einen Kuss auf die Wange, sperrte die Haustür auf und ging in ihre Wohnung.


    In dieser Nacht schlief sie sehr unruhig. Zuviel ging ihr im Kopf herum und immer wieder flackerte das Glücksgefühl in ihr auf, das sie eben bei Kais Kuss verspürt hatte. Aber Kai und sie? Wie kam denn das??? Gut, sie hatten sich eigentlich schon immer gut verstanden, aber dass Kai mehr als nur freundschaftliche Gefühle für sie hegen könnte, darauf wäre sie im Traum nicht gekommen. Und was ihre eigenen Gefühle anging… Sie drehte sich ratlos auf die andere Seite. Es half ja alles nichts, sie würde den morgigen Tag abwarten müssen. Wer wusste schon, ob es überhaupt eine Wiederholung geben würde – vielleicht war Kais Kuss ja nur eine spontane Aktion unter einem albernen Mistelzweig gewesen.


    Am nächsten Morgen radelte sie müde ins Büro. Ihr erster Weg führte sie in die Teeküche, wo sie den grünen Tee aus ihrem Wichtelpäckchen unbemerkt im Gemeinschaftsschrank deponierte und sich einen großen Becher Kaffee einschenkte. Mit dem Kaffee in der Hand ging sie dann zu ihrem Arbeitsplatz. Es waren nur wenige Kollegen anwesend, die meisten mit ähnlich unausgeschlafenen Gesichtern wie sie selbst. Kai war nirgends zu sehen, vermutlich war er schon zu seinem Kundentermin unterwegs. Sie stellte den Kaffeebecher auf den Tisch, setzte sich und wollte gerade ihren Rechner einschalten, als sie, halb versteckt zwischen mehreren Akten, einen grünen Notizzettel bemerkte, beschwert von einem Ferrero-Küsschen. Neben der Zeichnung eines Mistelzweigs stand dort nur ein Satz: „20:00 Uhr im „Mücke“ xxx Kai“. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus; sie faltete den Zettel vorsichtig zusammen und steckte ihn tief in ihre Hosentasche – ein kleiner grüner Zettel, das schönste Wichtelgeschenk von allen!

  • 3. Dezember 2015 von Paradise Lost



    Der andere Dezember


    Der Schnee liegt bestimmt 20cm hoch. Praktisch über Nacht war Anfang Dezember der Winter hereingebrochen. Keiner hatte damit gerechnet, gerade nach diesem warmen November, der überall in Deutschland Rekordtemperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnung brachte. Die Straßen waren inzwischen zum Glück halbwegs befahrbar, der Winterdienst hatte sich ins Zeug gelegt und so war das schlimmste Chaos überwunden. Aber hier liegt er immer noch fast unberührt um mich herum.


    Es ist früh am Morgen, die Sonne ist noch nicht lange aufgegangen und ich bin ganz alleine unterwegs. Ich lasse den Blick schweifen über die weiße Decke die hier und da glitzert wo ein Lichtstrahl darauf fällt. Bei jedem Schritt höre ich das Knirschen der Schneekristalle unter meinen Stiefeln und freue mich an dem Geräusch wie als kleines Kind. Ich atme durch den Mund, weil ich ein wenig erkältet bin und mein Atem schwebt als kleine weiße Wolke vor mir her. Die kalte, klare Luft fühlt sich gut an.


    Man hört das Rauschen und Gluckern des nahe gelegenen Flusses und leise die schnatternden Enten, die trotz der Kälte unverdrossen in der Strömung treiben und nach Fressbarem suchen. Ich komme an einer Hecke vorbei und sehe zwischen den kahlen Zweigen aufgeregte kleine Vögel hin- und herfliegen, die an den dort aufgehängten Meisenknödeln picken. Der Schnee hat eine fast hypnotische Wirkung, während ich so durch ihn hindurchstapfe. Hinter mir trägt die vormals unberührte Landschaft die Spuren meiner Anwesenheit. Nicht völlig unberührt, wie ich merke. Ich sehe Tierspuren. Die von Hasen kann ich erkennen und noch andere, möglicherweise von Rehen. Ich bin doch nicht ganz so allein. Plötzlich läuft ein kleines Eichhörnchen über den Weg. Bleibt stehen, schaut mich erwartungsvoll an. Ich werfe ihm zwei Haselnüsse zu. Wenn ich hierher komme, stecke ich immer ein paar ein. Es sammelt die Nüsse begierig auf und macht sich dann schnell davon. Ich bleibe noch etwas stehen und blicke ihm nach, bevor ich meinen Weg wieder aufnehme. Es ist jetzt nicht mehr weit.


    Die Luft riecht immer noch nach Schnee. Scheinbar ist es noch nicht so schnell vorbei mit der weißen Pracht. Es wäre schön, wenn es bis Weihnachten so bleiben würde. Alles um mich herum wirkt so ruhig und fast feierlich. Die Äste der Bäume die sich in den langsam wieder grauer werdenden Himmel recken sehen auf melancholische Art schön aus. Unter der Schneedecke zeichnen sich viele Formen ab die vielleicht Pflanzen sind, vielleicht Steine oder kleine Figuren. Es bleibt der Fantasie überlassen, was sie daraus macht.
    Schließlich bin ich an meinem Ziel angekommen.


    Der einfache Grabstein trägt eine neue Inschrift. Hier liegt seit nicht ganz zwei Monaten ein sehr geliebter Mensch. Einfach so, ganz plötzlich ging es. Man weiß um die Sterblichkeit und doch ist man oft, so scheint es, nicht dankbar genug für das Leben, das eigene wie das der Menschen die man liebt. Es ist die Erinnerung an die Endlichkeit, die so vieles in eine andere Perspektive rückt.


    Es wird der erste, in einer langen Reihe anderer Dezember. Mein erster Geburtstag ohne ihn. Das erste Weihnachten ohne ihn. Ein Mensch, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hat, der immer da war, ist jetzt nicht mehr da. So eine einfache Wahrheit. Und nur so schwer zu fassen. Es ist nicht vorstellbar, dass er dort unten liegen soll, in der gefrorenen Erde. Ein Mensch, der so voller Leben war, voller Späße. Aus den Taschen meiner Jacke hole ich jetzt ein Öllicht und eine Schachtel mit Streichhölzern. Vorsichtig entzünde ich das Licht, warte bis die Flamme aufhört zu zittern und stetiger brennt, und stelle es dann in die Grablaterne.


    Ich denke zurück an die Weihnachtsfeste der Vergangenheit. An die, die vor Lachen fast geborsten sind und an die ruhigeren, stilleren, an denen man einfach nur froh war, alle zusammen zu sein, wieder ein Jahr gemeinsam überstanden zu haben. Ich durfte ihn lange haben und doch war es zu kurz. Meine Gedanken ziehen vorüber und ich bin aufrichtig dankbar für die vielen, vielen schönen Erinnerungen. Sie tun noch weh, aber ein bisschen heilen sie auch.


    Das Zwitschern eines kleinen Vogels reißt mich aus meinen Gedanken. Er sitzt nicht weit entfernt in den Ästen eines Ahornbaumes. Andere Vögel antworten seinem Ruf.
    Mir fällt auf, wie friedlich es hier doch ist. Friedlich, nicht totenstill. Der Unterschied ist überraschend tröstlich. Das Zwitschern der Vögel hat ihm immer gefallen. Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch. In Gedanken verabschiede ich mich. Dann öffne ich die Augen wieder, kuschle mich noch etwas tiefer in meine warme Jacke und gehe den Weg zurück den ich gekommen bin.
    Der kleine Vogel pfeift weiter sein Lied. Es begleitet mich noch eine Weile.

  • 4. Dezember 2015 von Sonne79



    Welches ist das schönste Geschenk?


    Heilig Abend 2015, 16:00 Uhr


    In der Weihnachtswerkstatt kehrte Ruhe ein. Die Elfen legten sich gemütlich zurück. Sie hatten in diesem Jahr ihre Arbeit getan. Alle Geschenke waren verpackt und auf den Rentierschlitten gespannt. Sie waren mit Etiketten der Namen versehen, damit Verwechslungen ausgeschlossen wurden. Der Weihnachtsmann gab den Startschuss. In diesem Jahr begann sein Flug über Europa. In Amerika würde er enden. Denn da gab es die Geschenke erst am Weihnachtsmorgen. Es war bereits dunkel als er los flog.



    Irgendwann wurde den Geschenken, die gut verpackt auf dem Schlitten lagerten langweilig, als sich plötzlich das größte von ihnen zu Wort meldete:


    "Na, ihr? Es ist wieder soweit. Wir werden ausgeliefert. Die Kinder freuen sich schon auf uns. Ich komme zu Klausi in Deutschland. Er hat sich ein Fahrrad gewünscht und bekommt es auch."


    "Auja. Ja, ja, du bist wahrscheinlich das größte Geschenk", meldete sich ein mittleres, das sich gerade zwischen zwei anderen Geschenken gelöst hatte und ein Stückchen nach unten gepurzelt war. "Aber ob du das wertvollste bist, ist die andere Frage. Ich bin auch nur ein Kuscheltier. Für die kleine Lisa."


    "Also das wertvollste Geschenk sind ja wohl wir", piepste eine engelsgleiche Stimme von ganz unten." Weitere Engelsstimmen stimmten mit ein. "Ja, uns gibt es dieses Jahr sehr viele. Für die Kinder, die keine großen Geschenke bekommen können. Wir wurden von den Weihnachtselfen persönlich angefertigt. Das ganze Jahr über. Weil es dieses Jahr so viele Kinder gibt, deren Eltern arm sind."


    "Aber mit euch können die doch gar nicht spielen", beschwerte sich das Fahrrad.


    "Doch, doch. Sie können sich an uns schmiegen. Wenn ihnen mal nach kuscheln zumute ist. Auch wenn wir sie nicht umarmen können. Doch sie werden die Wärme spüren, die wir ausstrahlen. Außerdem beschützen wir sie. Wir haben immer ein Auge auf die Kleinen."


    "Pah. Das ist doch gar nichts. Auf mir wird Klausi sitzen, mich wird er bewegen."


    "Und mit uns wird gemalt. Wir malen das Malbuch aus", kreischten die Stifte und das Malbuch bejahte mit tiefer Stimme.


    "Also, wir Engel, wir bieten nicht nur den Kindern Schutz. Auch den Eltern. Und anderen Familienmitgliedern."


    "Aber immer könnt ihr doch gar nicht da sein. Das geht nicht." Das Fahrrad schüttelte sich. Es war nur mit einer Schleife verpackt und musste sich ganz oben auf dem Geschenketurm gut festhalten. Die Rentiere hatten einen raschen Flug drauf und die ersten Geschenke wurden herabgelassen.


    "Doch die Weihnachtselfen haben uns einen geheimnisvollen Zauber gegeben. Er wirkt allerdings nur wenn man auch an uns glaubt."


    "Ha. Und das macht bestimmt nicht jeder."


    "Ach Fahrrad, du hast zu schlechte Filme gesehen."


    "Es gibt Menschen die in Angst, Not und Armut leben und für diese Menschen sind wir da. Ihnen geben wir die Kraft an das Gute zu Glauben. Und ein Engel zur Weihnacht hat bis jetzt noch jedem Kind ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Wenn du nach Europa kommst, liegt dort Schnee. Erst im Frühjahr kann Klausi mit dir seine Runden drehen. Nicht schon heute Abend."


    "Hmm." Jetzt wurde das Fahrrad doch nachdenklich.


    "Aber mit uns kann Tina sofort malen", trällerten die Stifte.


    "Richtig. Aber wenn das Malbuch vollgemalt ist, ihr abgespitzt seid, dann ist auch eure Lebensdauer vorbei. Wir Engel, wir sind immer, aber auch immer da. Uns können die Kinder zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Hand nehmen. Uns ihre Gedanken anvertrauen. Wir geben zwar keine Antwort. Aber wir strahlen Vertrauen, Zuversicht, Liebe, Glaube und Hoffnung aus. Das ist es worauf es ankommt."


    "Hmm. Trotzdem bleibe ich das größte Geschenk. Oh. Wir sind schon in Deutschland. Ich glaube, gleich ist es soweit."


    "Ja. Viel Spaß bei Klausi. Ich wünsche dir, dass er dich gut in Ehren halten wird und dich viel bewegt."


    "Danke. Wird er schon. Hat sich mich so sehr gewünscht."


    Langsam wird das Fahrrad vom Geschenketurm gelöst und die Rentiere setzen zur Landung an. Vorsichtig wird das Fahrrad herunter gelassen.


    "Machts gut Engel. Und euch auch viel Glück bei den Kindern. Das sie an euch glauben."


    "Das werden sie schon." Alle Engel winkten dem Fahrrad nach und auch die anderen Geschenke. Die Rentiere waren nur kurz in der Luft, dann setzten sie erneut zum Landeanflug an. Erste Engel wurden ausgeliefert. Sie haben kein Gesicht, aber zwei Flügel und sind aus weißem Holz. In Klarsichtfolie verpackt. Mit Glitzer bestreut.


    Der Engel, der mit dem Fahrrad die Unterhaltung geführt hatte, machte auch den anderen Geschenken noch einmal klar:


    "Ich hoffe, ihr vergesst die Diskussion zwischen dem Fahrrad, dem Kuscheltier, dem Malbuch, den Stiften und mir ganz schnell. Wir Engel sind etwas ganz besonderes. Und die Kinder werden uns lieben. Denn außer dass wir die Kinder beschützen haben wir noch eine ganz besondere Eigenschaft. Wir kommen von Herzen. Deshalb sind wir das kostbarste Geschenk. Gleich werde auch ich herunter gelassen. Ich wünsche allen Kindern und allen Menschen auf der Erde ein friedvolles Weihnachtsfest. Und denkt daran: Nicht, was man schenkt ist wichtig, sondern wie man etwas schenkt."


    Frohe Weihnachten

  • 5. Dezember 2015 von arter



    Nikolaus‘ größter Coup


    Schon wieder ist ein Jahr vergangen und inzwischen ist es für mich eine wohltuende Gewohnheit geworden, mich vor meinem Ehrentag bei den Büchereulen auszuheulen. Eulen heulen nicht, ich weiß... Aber Nikoläuse schon! Wusstet ihr eigentlich, warum gerade der 6.12. „mein“ Tag ist? Nein? Nun ja, man behauptet, das sei der Tag meines irdischen Ablebens. Ich kann das weder bestätigen noch dementieren. Zu lange her. Und außerdem... Ich habe davon gar nichts mitbekommen. Irgendwann war mir natürlich klar geworden, dass da etwas nicht stimmt, dass ich längst hätte tot sein müssen. Das Verblüffende ist: An die beiden wichtigsten Tage seines Lebens kann man sich hinterher so gar nicht mehr erinnern. Nicht an den Tag der Geburt und auch nicht an den Tag des Todes.


    Aber ich schweife ab. Eigentlich wollte ich euch ja wieder mal mein Herz ausschütten. Das ist die liebgewordene Tradition Anfang Dezember, bevor der Stress der Weihnachtszeit beginnt, wo Nikolaus und seine amerikanisch pervertierte Inkarnation namens Santa Claus, zu Deutsch „Weihnachtsmann“ wieder allgegenwärtig sind und jede Menge zu tun haben.


    Ich erzähle euch heute die Geschichte vom Kornwunder und was die mit dem Heiligen Geist zu tun hat. Ja ich weiß... Harter Stoff. Aber da müssen wir jetzt durch, ich hoffe ihr folgt mir bis zum Ende.


    Wir begeben uns gedanklich nach Myra, wo ich Bischof bin, vor fast Tausendsiebenhundert Jahren. Hungersnot. Eine schreckliche Dürre hat das Land heimgesucht. In ganz Lykien sind die Getreidespeicher wie leer gefegt. Die Menschen hungern und obwohl ich jeden einzelnen Engel angefleht habe, ein Einsehen zu haben und dem Land Regen zu spenden, die Lage wird immer schlimmer.


    Ich habe alle irdischen Möglichkeiten ausgenutzt, um von irgendwoher Nahrung zu beschaffen, aber den Nachbarprovinzen in Kleinasien geht es ähnlich. Selbst in Byzanz sollen die Vorräte zur Neige gehen. Und das ausgerechnet jetzt, wo Kaiser Konstantin beschlossen hat, sich hier im Osten dauerhaft niederzulassen. Die Leute werden immer unzufriedener, schon beginnen die ersten – viele von denen sind gerade erst getauft worden - sich von Jesus Christus, dem Erlöser loszusagen. Sie vertrauen sich wieder den heidnischen Göttern an, entschließen sich zu barbarischen Opferritualen und suchen die Orakelstätten auf, statt ihr Seelenheil in der Buße zu suchen.


    Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, wird meine Kirche bald genauso verkümmert sein, wie die wüstengleichen Getreidefelder vor der Stadt. „Bist du nicht der berühmte Bischof Nikolaus, der die Wunder vollbringt“, scheinen mir die Blicke der ausgemergelten Gestalten zuzurufen, die trotz alledem noch in das Gotteshaus kommen. Sie sprechen es nicht offen aus, aber mir ist klar. Sie erwarten es. Ich tue es doch laufend. Wunder vollbringen. Meine leichteste Übung. Es ist Zeit für ein neues. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen?


    Wie aufs Stichwort eilt mir der Zufall zu Hilfe. Im Hafen landet ein gigantisches Kielschiff, das aus Ägypten kommend auf dem Weg in die neue Kaisermetropole ist. Es ist voll beladen mit Getreide für den Imperator. Unter der Besatzung befindet sich ein bis an die Zähne bewaffneter Trupp ehemaliger Prätorianer. Der Kaiser hat die Garde längst aufgelöst, aber die fähigsten Spießgesellen hat er für besondere Einsätze im Dienst behalten. Und die Mission ihres aktuellen Einsatzes ist es, dafür zu sorgen, dass jedes einzelne Getreidekorn der Fracht seinen Bestimmungsort erreicht und sei es unter Einsatz des eigenen Lebens. Das Schiff wird nur einige Vorräte auffrischen und dann mit der wertvollen Ladung davonsegeln. Die Händler lungern am Kai herum wie Bettler, bieten horrende Preise, um den Kaiserlichen doch etwas von ihrer wertvollen Ladung abzuschwatzen. Aber vergebens.


    Vielleicht kann mein Leumund als Wundervollbringer noch etwas erreichen, um die Besatzung zu erweichen. Also mache ich mich in meinen prächtigsten Gewändern, eskortiert von den wichtigsten Repräsentanten und der halben Kirchengemeinde auf den Weg zum Hafen. Wir wollen vor den Augen der Besatzung eine opulente Messe zelebrieren und das Schiff zu Ehren des Kaisers segnen. Es ist inzwischen bekannt, dass ich bei den Seeleuten einen exzellenten Ruf genieße, da die Errettung von Schiffen aus Seenot zu meinen Hauptwundern gehört. Vielleicht schindet das Eindruck bei der Besatzung, so mein Kalkül.


    Wenn da nicht die unbestechlichen Prätorianer wären…


    Das tatsächliche Wunder ereignet sich in Person meines Spezis Alexandros, dem zufälligerweise die Aufgabe obliegt, das Unternehmen Kornlieferung für Konstantin zu leiten. Vielleicht erinnert ihr euch an die Geschichte, die ich euch vor zwei Jahren erzählte und wisst daher noch, dass Alexandros den irdischen Versuchungen und dem Abschluss für ihn vorteilhafter Geschäfte nicht abgeneigt ist. Wir begrüßen uns mit großem Hallo und trotz des engen Zeitplans, verspricht er mir, auf einen Krug Wein und ein Bad bei den Mädels für die Nacht in der Stadt vorbeizuschauen.


    „Dein Angebot ist wirklich großzügig“, verrät er mir später und wischt sich mit dem Ärmel den roten Schaum vom Mund. Ich stelle fest, wie es in ihm arbeitet. Ein lebenslanger Gutschein in Myras Badehäusern und das Privileg der Handelsrechte für den Getreideverkauf, wenn er das Schiff um ein Drittel seiner Ladung erleichtert. „Aber mein Kopf ist mir doch eigentlich noch ein bisschen mehr wert“, führt er ein Argument ins Feld, das mir allzu selbstsüchtig erscheint. Ich wäre nicht als Überheiliger in die Geschichte eingegangen, wenn meine Ausstrahlung nicht groß genug und jederzeit in der Lage wäre, Zweiflern jeglicher Couleur etwaige Bedenken auszureden. Irgendwann faselt er etwas von „Beziehungen“ und „Gewichte mit hölzernem Kern“, Details der Überzeugungsarbeit gegenüber dem Kaiser, von denen ich gar nichts Näheres wissen will.


    Jedenfalls sind die Speicher der Stadt am nächsten Tag gut gefüllt, wofür etliche Truhen mit nicht essbarem Krempel (hier sind mir die Details über die genaue Art der Artefakte entfallen) auf das Schiff geschafft worden sind.


    Glücklich winken wir Myrer den davonsegelnden Mannen hinterdrein. Die Minen der Prätorianer an Bord erscheinen etwas bleich, sie wirken immer noch unschlüssig, ob sie den Beteuerungen ihres kleinen Dienstherren glauben können, dass sie dereinst mit der vollständigen Anzahl von Häuptern aus dem lukrativen Abenteuer hervorgegangen sein würden, wenn der Imperator die Ladung erst habe überprüfen lassen. Alexandros hat ganze Arbeit geleistet. Das muss ich neidvoll anerkennen. Ich frage mich heute, warum er es eigentlich nicht zum Heiligen gebracht hat.


    Auch in meinem Magen spüre ich an jenem Tage eine gewisse Flauigkeit, doch zunächst erscheint es mir ratsam, das geschehene Wunder propagandistisch auszuschlachten. Einige Zwiespalt sähenden Mitbürger äußern die Befürchtung, dass die kaiserlichen Truppen bald erscheinen könnten, um sich das geraubte Korn zurückzuholen und den Rest der verbliebenen Reichtümer Myras dazu. Mir gelingt es, sie in die Schranken zu weisen, denn schließlich handele es sich um gesegnetes Getreide, welches sich durch meine Fürbitte bei den Engeln von selbst vermehre. Nicht ein Körnchen würde fehlen, wenn der Kaiser die Ladung überprüfte. Zum Beweis meiner These richte ich eine „Kammer des heiligen Korns“ ein, in der vermittelt durch meine Gesänge das eingelagerte Saatgut seine Wundertätigkeit für immer bewahrt.


    Das Hungern hat jedenfalls bald ein Ende, und das ist den meisten Menschen Wunder genug. Die Bauern der Gegend kommen Jahr für Jahr herbeigepilgert und erwerben für eine großzügige Spende an die Armen eine Handvoll des wundertätigen Weizens, um es unter ihr eigenes zu mischen. Mir spielt ein wenig in die Karten, dass dank meiner Gebete die Dürre nur kurze Zeit später ein Ende findet und ausgesprochen fruchtbare Jahre folgen. Somit ist es nicht besonders schwierig, die „Wunderkammer“ immer wieder von neuem aufzufüllen. Und automatisch auch die Schatzkammer unter der Krypta.


    Ja, so geht die Geschichte mit dem Kornwunder, für das ich über alle Zeiten gerühmt wurde und noch heute werde. Vielleicht vermisst der eine oder andere noch die Auflösung. Nehmt ihr mir die Wundertätigkeit nicht ab? Zweifelt ihr etwa daran, dass Konstantins Verwalter an der Lieferung nichts auszusetzen hatten? Muss ja wohl so gewesen sein, sonst wäre es ja kein Wunder für alle Zeiten geblieben. Schließlich heiße ich ja Nikolaus und nicht Franz Beckenbauer, für den das Licht seiner Gestalt sich bereits im Vorgang des Verblassens befindet.


    Ich schaue auf meine Word-Funktion „Wörter zählen“. Es tut mir aufrichtig leid, aber wir liegen schon weit über der 1000 und ich kenne das heilige Eulengesetz: „Du kannst hier über alles schreiben nur nicht über tausend Wörter“. Deshalb muss ich mich sputen. Auch die Kinder warten bereits auf die Befüllung ihrer Schuhe und Strümpfe. Ich wünsch euch mal noch ganz schnell eine schnuckelige Adventszeit, einen fleißigen Nikolaus und so weiter. Und denkt dran: Die Welt ist voller Wunder, für alle die, die dran glauben.


    P.S.


    Und für alle anderen… Okay, ich denk drüber nach. Ich hätte da noch den zweiten Teil der Geschichte. Nämlich die Sache mit dem Heiligen Geist. Vielleicht im nächsten Jahr, vielleicht auch schon früher, wenn ihr allzu neugierig seid…


    …und nicht an Wunder glauben wollt.


    Euer Klaus

  • 6. Dezember 2015 von Marlowe



    Im Himmel ist die Hölle los


    Auch im Himmel gibt es wichtige Feiertage. Einer davon ist der Todestag des Nikolaus, also der sechste Dezember. Ihr wisst schon, wie unten so oben!
    Nach seiner getanen Arbeit an diesem Tag wurde er im Himmel gefeiert und alle warteten auf seine Ankunft. Gott Vater saß auf seinem Thron, trommelte etwas ungeduldig mit den Fingern seiner Rechten auf dem kleinen Tisch vor ihm und schob sich noch einen Mannakeks in den Mund. Eilig schenkte der Erzengel Raphael Rotwein nach, reichte den Becher seinem Herrn und flüsterte: „Er wird bestimmt gleich hier sein, Herr.“
    Gemeinsam blickten sie über die himmlische Schar geladener Gäste, die fröhlich plaudernd herumstanden, dabei Mannasnacks genießend und dem köstlichen Rotwein schon reichlich zusprechend. „Das kann ja wieder heiter werden“, meinte Gott und trommelte weiter auf der Tischplatte herum.
    In diesem Augenblick ertönte lautes Geschrei vor der Himmelspforte, ein donnernder Schlag hallte durch das Gewölbe, alle standen wie erstarrt und schauten gebannt auf das Portal, das plötzlich von zwei Engeln aufgerissen wurde und ein entsetzter Petrus stürzte herein. „Zur Seite“, brüllte er, stieß die Umstehenden zurück und rief wieder: „Zur Seite, schnell. Herr, er ist verrückt geworden. Total verrückt! Er dreht durch!“ „Ja, wer denn, bitte schön?“ Gott versuchte die Ruhe zu bewahren. „Da, sieh doch, der Nikolaus, total verrückt.“ Petrus deutete nach draußen und man sah durch das riesige Portal jetzt hinaus auf den Vorplatz und von weit hinten sah man den Nikolaus auf seinem Schlitten, gut, auf dem Rest davon, was noch übrig war, von panischen Rentieren gezogen und immer näher kommend. Sie flogen herein, der Nikolaus brüllte: „Stopp, Rudolf, stopp! Cupid, Donner, Blitz und Vixen, Brrrrrr!“
    Kurz vor dem goldenen Thron Gottes und dem Tischchen, das bedenklich wackelte, Raphael konnte den Weinbecher gerade noch auffangen, kamen die anschlitternden Rentiere samt Restschlitten mit Nikolaus darauf zum Stehen. Der Nikolaus warf die Zügel wütend auf den Boden, gab den durchaus noch elegant wirkenden Kufen einen Tritt und stampfte zornig mit dem rechten Fuß auf den wolkenweichen Boden. „Es reicht, Herr, es reicht für immer und ewig. Ich mag nicht mehr. Nie mehr werde ich diesen Job machen. Ich hasse es, ich hasse es!“ Er schluchzte heftig auf und heute dabei anklagend auf den Rest des Schlittens.
    Der Heilige Geist flatterte aufgeregt über dem Nikolaus, den Rentieren und besah sich den Schaden von oben. „Uih, uih, uih“, gurrte er, „schlimme Sache aber auch!“ Dann, als würde er es jetzt erst sehen: „Uih, Rudolf, Du hast ja eine blaue Nase!“ Der nickte betrübt. „Un' ein paar Sähne habe ich auch ausgespuukt.“ Inzwischen waren der Nikolaus und das ehemals schöne Gefährt von vielen Gästen umringt und alle redeten aufgeregt durcheinander.
    „Ruhe!“ Der Erzengel Michael stand nun drohend vor dem Thron und schwang sein Schwert hoch nach oben. „Ruhe alle miteinander!“ Es wurde schlagartig still im himmlischen Gewölbe. Na ja, nicht ganz still. Aus einem Nebenraum waren nun klirrende Gitarrenlaute und eine schrille Stimme zu hören. „Wer ist das?“ fragte Michael und sah in die Runde. Die Taube gurrte vergnügt. „Das ist Dschieses, der versucht sich am Stones-Song Sympathy for the Devil!“ „Hol ihn her, Täubchen“, befahl Gott, „und sag ihm, er soll mit diesem Geschrei aufhören!“ Die Taube flog in den Nebenraum, zuerst passierte nichts, dann ein Riesengeschrei und ein aufgeregter Jesus, seine Gitarre über dem Kopf weit ausholend, lief hinter dem Heiligen Geist her und versuchte, ihn mit seinem Instrument zu treffen. „Komm her, Du Scheißvogel, ich dreh Dir den Hals um!“ „Jesus, jetzt reicht es aber“, Gottvater sprach ein Machtwort, „er macht doch nur was ich gesagt habe!“ „Du hast ihm gesagt, er soll auf meine Gitarrensaiten scheißen?“ rief Jesus. Gott lächelte. „Nicht so genau, nur, dass er Dich herholen soll.“
    Innerlich aber seufzte der Herr. Es war manchmal nicht leicht, die Ruhe zu bewahren, auch für ihn nicht. Wie zur Bestätigung schrie der Nikolaus wieder los. „Kann sich mal wieder jemand um mich kümmern? Um mich! Ich bin fassungslos, entsetzt, geschockt!“ Raphael brachte ihm einen großen Weinbecher. Gierig schlürfte der Nikolaus den Becher leer und reichte ihn zurück. „Mehr“, sagte er nur. Raphael sagte mal nichts dazu und ging zum Krug.
    „So, Nikolaus“, sagte der Herr, „jetzt erzähle mal, was ist denn diesmal passiert?“ Nikolaus, nur kurz besänftigt vom Wein, rülpste laut und berichtete dann mit zittriger Stimme, was geschehen war. Bei seiner jährlichen Auslieferung hatte er, um Zeit zu sparen, eine Abkürzung über Syrien genommen. „Ich habe alle Vorsichtsmaßnahmen eingehalten, die Glöckchen an den Rentieren haben laut gebimmelt, ich wie ein Nebelhorn dauernd Hohoho gerufen und mit einem Affenzahn sind wir über das Land gesaust, aber es nutzte alles nichts. Von allen Seiten wurde ich beschossen, die Kugeln und Raketen schossen nur so durch die Luft. Ich flog Slalom und ich kann fliegen, besser als alle anderen, ich bin allem ausgewichen und hätte es fast geschafft. Aber plötzlich tauchte rechts über uns etwas auf, es blitzte kurz auf und zack, traf eine Rakete meinen Schlitten, ich verhedderte mich Gott sei Dank in den Zügeln, verhakte meine Beine am Bodenteil des Schlittens, die Pakete und Päckchen flogen nur so durch die Luft und ich sah keinen anderen Ausweg, als geradewegs senkrecht nach oben und hierher zu fliegen, um wenigstens meine Haut und die der Rentiere zu retten. Und jetzt bin ich hier und sage Dir, Herr, nie wieder werde ich diesen Job machen. Nie wieder! Jedes Jahr seit hundert Jahren und noch länger ist es das Gleiche, irgendwo ist immer Krieg und ich muss mitten rein. Nein danke! Das ist nicht mein Ding, nicht mehr, nie mehr, niemals mehr!“ Gott wollte etwas sagen, aber der Nikolaus war noch nicht fertig. „ Ich fang mal an mit 1900, der Russisch-Chinesische Krieg, dann in Folge, Venezuela, der Russisch-Chinesische Krieg, Mittelamerika und Honduras, Nicaragua, Spanien, Marokko, Italien und Türkei, Balkankrieg, der erste und gleich der zweite, dann der 1. Weltkrieg, danach der baltische Unabhängigkeitskrieg, der russische Bürgerkrieg, dann Irland, Fiume, Sowjetisch-Polnischer Krieg und so weiter, dann der 2. Weltkrieg, Korea, Algerien, Vietnam und so weiter. Nein. Ich mag nicht mehr, denn diesmal wurde ich getroffen. Ich! Getroffen! Es reicht!“
    Gottvater seufzte. „Ja, es ist nicht leicht, das gebe ich zu. Aber Nikolaus, ein Mann muss eben tun, was...“ „Papperlapapp“, schrie der Nikolaus, „das hat John Wayne schon besser gesagt, halt Dich lieber an Charles Bronson. Das Gesetz bin ich! Nimm diesen verdorbenen Menschen den freien Willen, die größte göttliche Fehlentscheidung aller…“! „Niko! Jetzt ist es aber genug.“ Der Nikolaus schwieg lieber. Den Ton kannte er.
    Der Erzengel Camael meldete sich. „Wie konnte das überhaupt geschehen, da hatte doch bestimmt wieder der Teufel seine Hand im Spiel.“ Der Herr nickte. „Das müssen wir jetzt klären, Petrus, sag Luzifer, er soll sich sofort hier einfinden.“ Petrus raufte sich die Haare. „Lieber Gott, bitte nicht. Bitte Luzifer nicht hierher, Du weißt doch, was letztes Mal passiert ist.“ „Letztes Mal?“, stellte Gott sich unwissend und schüttelte den Kopf, doch Petrus runzelte die Stirn, jetzt war er wirklich verärgert. „Ja, letztes Mal. Da hat Dir Luzifer eine Wette angeboten und Du hast verloren.“
    „Ach das“. Gott winkte ab, „das war doch nicht so schlimm.“
    „Nicht schlimm! Er hat Mutter Teresa verführt und Du musstest an der Höllenpforte klingeln und fragen, ob alles gut sei und alle zufrieden wären.“
    Gott zupfte verlegen an seinem Bart. „Ja das, ach, das war eigentlich ganz lustig, sie war ja schon heilig, da hat sie ein paar Freispiele verdient. Nur der Gestank die Tage danach in meinen Haaren, das war unangenehm. Aber ich werde ja nicht mehr mit ihm wetten. Also, es hilft nichts, hol ihn her.“
    Petrus drehte sich beleidigt um. „Hol ihn her, hol ihn her“, maulte er leise, tat aber, was der Herr befohlen hatte. Der Teufel ließ sich nicht zweimal bitten und erschien mit Funken, Gestank und einem fröhlichen Lachen an der Himmelspforte. „Du rufst, ich gehorche“, rief er laut und genoss seinen Auftritt. Jesus begrüßte ihn mit einem lauten High Five. „Dschieses“, rief der Heilige Geist entsetzt. „Was denn, ich bin nicht nachtragend, ich habe ihm in der Wüste damals widerstanden. Er macht doch auch nur seinen Job.“ Der Teufel reichte Jesus einen Beutel mit Keksen. „Hier, ein kleines Geschenk, Kekse mit herrlichen Kräutern, vermehren kannst Du sie ja selber.“ Jesus strahlte. „Oh, danke, das ist aber eine nette Geste.“ Camael wollte ihm den Beutel wegnehmen, aber der Herr winkte ab. „Lass nur, ich weiß ja, was drin ist, vielleicht hilft es seiner musikalischen Begeisterung.“ Jesus zog los und verteilte großzügig Kekse.
    „Luzifer, was hast Du Dir dabei gedacht, den Nikolaus abschießen zu lassen, leugne es nicht, ich weiß, dass Du daran Freude hast, ihn zu ärgern.“ Luzifer zuckte mit den Schultern. „Weil es Spaß macht und ich, ich habe ihn ja nicht abgeschossen.“ „Soso, wer war es denn dann?“ „Die Amerikaner, mit einer Drohne.“
    „Diese elenden Kreationisten“, schimpfte der Nikolaus, „ich mach es nicht mehr, Herr, schon gar nicht mehr in den USA. Senta Kloos, wie sich das schon anhört!“


    „Luzifer, da hörst Du es, wir stören doch Deine höllischen Feste auch nicht!“
    „Herr, aber Eure Feste stören meine Arbeit“, antwortete der Teufel. „Bei diesen Festen wird die Arbeit eines ganzen Jahres manchmal vernichtet, weil sich alle vornehmen, besser zu werden. Es ist sehr mühselig, dann wieder von vorne anzufangen.“ Gott seufzte wieder. „Aber so ist das nun mal geregelt. Wieso beschwerst Du Dich? Gerade jetzt, wo die Dschihadisten zu Hunderten bei Dir einziehen.“
    „Wieso ich mich beschwere? Ich finde keine Näher mehr, die den Jungfrauen neue Jungfernhäutchen anpassen, so viele Eunuchen habe ich nun auch wieder nicht in der Hölle.“
    Der Nikolaus rief ihm zornig zu: „Dann zwick doch einfach den Kreationisten die Eier ab!“
    Die Gäste und Engel im Himmelsgewölbe stöhnten entsetzt auf. „Nikolaus, mäßige Dich“, ermahnte Gott ihn, auch wenn er innerlich grinsen musste. „Luzifer, viele dieser Dschihadisten kommen doch auch als Eunuchen zu Dir.“ „Ach die, die gönnen den anderen doch keine höllischen Freuden, was die da dann alles einnähen... Nein, das musste ich stoppen und die meisten der Selbstmordattentäter tragen jetzt einen Genitalschutz aus Eisen, der wirkt sogar bis sie bei mir ankommen und dann bestehen sie auf die zweiundsiebzig, wenn auch höllischen, Jungfrauen.“ Er grinste diabolisch. „Auch ich halte meine Versprechen, das lohnt sich bei der Ernte.“
    Jesus stand neben dem Nikolaus, hatte den Arm um ihn gelegt und fütterte ihn mit den grünlich gesprenkelten Keksen. „Mit vollem Mund schreit es sich nicht so einfach“, dachte er. Dabei grinste er breit vor sich hin. „Dann gib doch jedem nur eine zweiundsiebzigjährige Jungfrau und sag, sie hätten sich verhört“, rief er fröhlich dem Teufel zu. „Deine Witze waren auch schon mal besser“, antwortete der.
    „Also, das muss jedenfalls ein Ende haben“, sagte Gott. „Nikolaus, wir machen folgendes: Für dieses Jahr kannst Du ab jetzt in Urlaub gehen. Auch wenn Luzifer den Amerikanern den Gedanken eingegeben hat, sie haben immer noch ihren freien Willen und sie haben eine Entscheidung getroffen. Wie immer ohne über die Folgen nachzudenken, aber so sind sie eben. Deine Arbeit kann Amazon in den USA erledigen und zwar mit ihren Auslieferungs-Drohnen. Mal sehen, wie viele von denen dann abgeschossen werden. Das nennen wir jetzt einfach mal einen Himmel-Hölle-Kompromiss. Michael, kümmere Dich darum.“ Der Erzengel nickte und verschwand. „Luzifer“, wandte sich Gott wieder dem Teufel zu, „der Erzengel Zadkiel wird mit Dir einen Vertrag aushandeln, der uns ab nächstes Jahr dann zumindest im Dezember eine Art Waffenruhe garantiert, damit sich so was nicht noch mal wiederholt. Lass Dich mit Duftwolken einschäumen und dann kannst Du solange hierbleiben, bis der Vertrag ausgehandelt ist“.
    Der Teufel grinste fröhlich und zustimmend. Das war ja mehr, als er erhofft hatte. „Einverstanden“, sagte er. „Und jetzt, mein Sohn“, sagte Gott, „gib mir endlich auch einen von diesen Keksen.“
    Seitdem ist im Himmel die Hölle los, denn die Verhandlungen werden sich hinziehen, dafür wird der Teufel schon sorgen.

  • 7. Dezember 2015 von Kirsten S.



    Zu spät!

    Das gab es nicht! 7. Dezember! Er hatte total verpennt.
    Nikolaus blätterte verzweifelt in seinem magischen Kalender. Aber es war nicht zu ändern. Die Zahlen sprangen ihn an: 7.12. 0:15 Uhr. Er war einen Tag zu spät dran. Ein wahrhaft lästerlicher Fluch entschlüpfte seinen Lippen.
    „Und wo ist dieser dreckspatzige Ruprecht?“
    Mit eben jenem war er am 4. Dezember versumpft. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatten nachmittags eine Schlittenfahrt unternommen, um den Schlitten zu testen, und waren prompt in einer riesigen Schneewehe stecken geblieben. Nachdem sie es endlich geschafft hatten, ihr Gefährt freizuschaufeln, begossen sie ihr Glück mehr als kräftig. Zunächst mit Glühwein, dann waren sie auf Rotwein umgestiegen, um schlussendlich beim Kirschwasser zu landen. Letzteres war ein fataler Fehler gewesen. Sein Kopf dröhnte noch heute.


    „Was soll ich denn jetzt tun, verflucht noch mal. Die Kinder warten doch auf mich!“, murmelte Nikolaus vor sich hin, um gleich darauf sein Spiegelbild anzufunkeln. Seine weißen Haare standen in alle Richtungen ab, sein Bart war schrecklich verzottelt und seine Augen wirkten etwas verquollen. Dass er mehr als zwei Tage geschlafen hatte, konnte er kaum verstehen.
    „Du Depp, du! Auf dich wartet keiner mehr. Und über deine Kopfschmerzen brauchst du überhaupt nicht zu jammern.“
    Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er an die ganzen Stiefel dachte, die leer vor den Haustüren stehen geblieben waren. Er schluckte, aber der Kloß verschwand nicht. Nach einer Runde durch sein Haus stellte er fest, dass er völlig allein war. WO steckte Ruprecht? Warum hatte er ihn nicht geweckt?
    „Ist ja schnurzpiepegal, wo der Kerl steckt, du Dödel.“ Nikolaus streckte seinem Spiegelbild die Zunge raus. „Mit den Kindern hast du es jetzt ein für alle Mal verschissen.“
    Ob er ...? Sein Blick zuckte zum Telefon. Dann schüttelte er den Kopf. Nein, vor dem Christkind würde er jetzt nicht katzbuckeln.
    „Hast du denn eine andere Wahl?“, flüsterte eine Stimme in seinem pochenden Kopf.
    Nikolaus' Augen wurden feucht, als seine Augen über die vielen Bilder im Wohnzimmer glitten, auf denen lauter strahlende Kinder zu sehen waren. Eine Träne entschlüpfte seinem rechten Auge und kullerte über die Wange.



    „Hallo, Christkind. Ich bin's, der Nikolaus“, nuschelte er ins Telefon.
    „Ach, hallo Nikolaus“, antwortete Christkind mit hoher Stimme.
    „Ja, ich bin's.“
    „Hast dich ja schon lange nicht mehr bei mir gemeldet.“
    „Äh … ja … hatte viel zu tun.“
    „Bist du gut von deiner Reise zurück gekommen?“
    „Na …na ja … nein.“
    „Wie nein? Ist etwas passiert?“
    „Ach, komm. Tu doch nicht so. Du weißt doch sonst immer alles.“
    „Kann schon sein.“
    Daraufhin herrschte eine ganze Weile Funkstille. Nikolaus vernahm nur das unerbittliche Ticken des Sekundenzeigers.
    „Ich hab' ein Problem“, platzte er heraus.
    „Aha. Und?“ Mehr sagte das Christkind nicht.
    „Nuuun … .“ Das Wort dehnte sich unendlich.
    „Ich höre.“


    Nikolaus rollte die Augen. Das war typisch für das Christkind. Es wusste doch genau, warum er anrief, und trotzdem sollte er alles erzählen und erklären. Ha! Aber hatte er eine andere Wahl?


    „Na ja, ich hab doch verschlafen“, begann er zerknirscht. „Sowas ist mir noch nie passiert, und mir absolut unerklärlich. Und jetzt kann ich nur an die Kinder denken, die ich versetzt hab. Und … und … kannst du mir helfen?“, platzte er schließlich heraus.
    „ICH soll dir helfen? Nachdem du mich letztes Jahr so abgekanzelt hast?“
    Nikolaus rollte die Augen. Das Christkind verstand absolut keinen Spaß. Genau das hatte er ihm im vergangenen Jahr, nach Weihnachten, vorgeworfen. Woraufhin sie sich geschlagene drei Stunden lang gestritten hatten. Er hatte ihm alles Mögliche an den Kopf geworfen und sich regelrecht in Rage geredet. Mit einem Mal war das Christkindchen aufgestanden, hatte ihn wutentbrannt angefunkelt, ein „wirst schon noch sehen“ gemurmelt und ihn stehen gelassen. Seither waren sie etwas reserviert miteinander umgegangen.


    „Und wie meinst du, soll ich dir jetzt helfen?“, säuselte Christkind mit seiner hohen Stimme.
    „Kö … könntest du so ein klein wenig an deinem magischen Zeitrad drehen? Nur so ein klitzekleines Bisschen?“
    „Ich?“
    „Okay, ich entschuldige mich in aller Form bei dir.“
    „So ernst klingt das jetzt aber nicht! Eher zweckgebunden.“
    „Soll ich mich etwas auf die Knie werfen?“
    „Das wär' ein Anfang.“
    Nach einer Pause, in der die Zeiger der Uhr weiter voran rückten, lenkte Nikolaus ein: „Es tut mir echt leid, dass ich mich so unmöglich benommen habe. Ich lad dich auch zu einem Festessen ein, wenn wir alle mit unserer Arbeit fertig sind. Wär' das in Ordnung?“
    „Hm. - Ja, das klingt gut.“
    „Und?“
    „Und jetzt schnapp' dir deinen Sack und verschwinde zu den Kindern. Die warten auf dich! Und der Ruprecht sitzt auch schon auf dem Schlitten. Ich hab' ein wenig an deinem Kalender gespielt. Hihihi, hast du vorhin blöd aus der Wäsche geguckt. Hahaha …hihihihi … . Von wegen ich versteh' keinen Spaß!“

  • 8. Dezember 2015 von Suzann



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    Unter dem Kreuz des Südens

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    Weiße Weihnachten bei 40 Grad im Schatten. Das kann man auf einem besonderen Kontinent erleben, auf dem viele Kulturen friedlich zusammenleben. Dort haben sich die Menschen ihre Weihnachtstraditionen nach eigenem Gutdünken selbst zusammengestellt. Das weiße an dieser besonderen Weihnacht ist allerdings nicht der Schnee, sondern der heiße Sand am Strand. Es beginnt im Hochsommer, Anfang Dezember, dann werden die Weihnachtsbäume aufgeblasen oder zusammengesteckt und geschmückt. Dabei wird ausgiebig diskutiert, wer in diesem Jahr dem Plastikbaum die Spitze aufsetzen darf. Schon während der Vorweihnachtszeit werden die Geschenke unter den Baum gelegt. Verführerisch liegen sie dort und die Kinder versuchen herauszufinden, von wem sie sind und was es wohl sein könnte.


    So ohne Kälte, Dunkelheit und Schnee könnte man glatt übersehen, dass gerade Weihnachtszeit ist, deswegen werden in und um die Häuser Lamettaschlangen und Lichterketten gewunden. Mancherorts übertrifft dabei ein Haus das andere an Lichterglanz. Die schönsten werden mit Anfahrtsplänen in der Zeitung abgedruckt und ein Familienausflug in der Weihnachtszeit führt oft zu solchen grandios geschmückten Villen.


    Weihnachtsmärkte sucht man vergebens, aber die stimmungsvollen „Carols by Candlelight“ machen das mehr als wett. Die Menschen finden sich in Parks zusammen, um unter freien Himmel Sängern, Chören oder Symphonieorchestern zu lauschen und gemeinsam Weihnachtslieder zu singen. Mit tausenden brennenden Kerzen zaubern die Zuschauer ein wahres Lichtermeer. Wer da nicht in weihnachtliche Stimmung kommt, ist selber schuld. Höhepunkt des Abends ist meist ein atemberaubendes Feuerwerk. Tagsüber winden sich bunte Weihnachtsparaden über den heißen Asphalt und Gebäude verwandeln sich in riesige Adventskalender.


    Endlich ist es dann soweit. Am 24. Dezember legen die Kinder abends nach dem traditionellen Putenbraten und Plumpudding eine Möhre, ein Schälchen Milch und einen Keks vor das Haus. Der Weihnachtsmann und seine tierischen Helfer sollen sich stärken und viele Geschenke da lassen, schließlich ist der Weg durch die Schornsteine anstrengend. Vor seiner Ankunft auf der Südhalbkugel tauscht er allerdings seinen dicken, roten Mantel und die Rentiere gegen Shorts, Sonnenbrille und sechs weiße Kängurus. Am nächsten Morgen hängen dann die mit Weihnachtsmotiven verzierten Kopfkissen prall gefüllt am Bettgestell. Kein Kind schläft lange in dieser Nacht.


    An ersten Weihnachtsfeiertag trifft man sich zum Picknick oder Barbecue mit Familie und Freunden am weißen Sandstrand oder zu Hause, wo sich endgültig alte Adventstraditionen in sommerlicher Partystimmung verlieren. Es werden landeseigene Versionen bekannter Weihnachtslieder gesungen, wie Jingle Bells* und zwischendurch Abkühlung im Pool gesucht. Der aufblasbare grüne Weihnachtsbaum darf natürlich mit ins Wasser. Am zweiten Weihnachtsfeiertag brechen die Menschen dann auf, um die großen Sommerferien am Strand oder in den Bergen zu verbringen oder lang vermisste Familienmitglieder in Neuseeland zu besuchen.


    Und wer bei alledem trotzdem richtige Kälte und Schnee vermisst, der feiert Weihnachten einfach im Juli, beim sogenannten Yulefest in den Snowy Mountains, wo so etwas wie winterliche Stimmung aufkommt, wenn man eine duftende Tasse Glühwein am warmen Kachelofen genießt. Dort könnte dann auch schon mal die eine oder andere Schneeflocke vom Himmel rieseln, wenn man Glück hat.


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    *Aussie Jingle Bells
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    "Dashing through the bush,
    in a rusty Holden Ute 1)
    kicking up the dust
    Esky 2) in the boot,
    Kelpie 3) by my side,
    singing Christmas songs.
    It's Summer time and I am in
    my singlet 4), shorts and thongs 5).


    Oh! Jingle bells, jingle bells, jingle all the way,
    Christmas in Australia on a scorching summers day, Hey!
    Jingle bells, jingle bells, Christmas time is beaut!
    Oh, what fun it is to ride in a rusty Holden Ute.


    Engine's getting hot,
    we dodge the kangaroos.
    The swaggie 6) climbs aboard,
    he is welcome too.
    All the family's there,
    sitting by the pool,
    Christmas Day the Aussie way,
    by the barbecue.


    Oh! Jingle bells, jingle bells, jingle all the way,
    Christmas in Australia on a scorching summers day, Hey!
    Jingle bells, jingle bells, Christmas time is beaut!
    Oh, what fun it is to ride in a rusty Holden Ute.


    Come the afternoon,
    Grandpa has a doze,
    The kids and Uncle Bruce,
    are swimming in their clothes.
    The time comes 'round to go,
    we take the family snap 7),
    Pack the car and all shoot through 8),
    before the washing up 9).


    Oh! Jingle bells, jingle bells, jingle all the way,
    Christmas in Australia on a scorching summers day, Hey!
    Jingle bells, jingle bells, Christmas time is beaut!
    Oh, what fun it is to ride in a rusty Holden Ute.”

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    1) Pick up, 2) Kühlschrank, 3) einheimische Hunderasse, 4) ärmelloses Oberteil, 5) Badelatschen, 6) Landstreicher, 7) Schnappschuss, 8) verduften, 9) abspülen

  • 9. Dezember 2015 von leselampe



    Süßer die Kassen nie klingeln, als zu der Wei-hei-nachtszeit...


    Das kommt Ihnen irgendwie bekannt vor? Sie meinen dieses Lied, das wie Zuckerguss an den Wänden des Weihnachtswohnzimmers herunterläuft und Tränen der sentimentalen Erinnerung in die Augen der Erwachsenen treibt? Genau. Aber mit dem Text würde etwas nicht stimmen? Sie haben recht. Computerkassen klingeln nicht, sie piepsen nur noch dezent, wenn sie die Einkaufsrechnung präsentieren. Also: Süßer die Kassen nie piepsen...


    Sie meinen Weihnachten sei ein religiöses Fest, das nichts mit Geld zu tun hat? Natürlich. Eine riesige globale religiöse Geburtstagsparty, bei der alle dabei sind, die das große C auf ihre Fahne geschrieben haben. Alle. Nur nicht das Geburtstagskind. Wäre ja auch eine nicht zumutbare Belastung bei seinem Alter. Über 2000 Jahre. Da nutzt sich doch einiges ab. Auch der Sinn und die immer gleichen Rituale. Und wenn das Geburtstagskind nie auf seiner eigenen Fete erscheint kommt es mitunter vor, dass die Feier zum reinen Selbstzweck verkommt und keiner mehr weiß, um wen oder um was es eigentlich geht. Da war doch was mit Friede und Freude. Für alle Menschen die guten Willens sind? Oder die Gutes wollen? Die Anständigen also. Die Botschaft richtet sich an die anständigen Menschen. Und die findet man in geordneten Verhältnissen, mit festgefügtem Weltbild und garantiertem Wohlstand im Alter. Wohlstand macht friedlich. Damit bringt Wohlstand automatisch Frieden, denn Wohlstandsmenschen sind friedliche Menschen, solange ihnen niemand ihren Wohlstand streitig macht. So schließt sich der Kreis und es ist Frieden unter den Wohlanständigen, die guten Willens sind.


    Deshalb müssen die Computerkassen piepsen, sonst sind Wohlstand und Friede dahin, und sie piepsen nie so heftig wie an Weihnachten. Da machen einschlägige Geschäfte die Hälfte ihres Jahresumsatzes.


    Weihnachten ist zum Wirtschaftsmotor Nummer eins geworden, und dieser Motor muß am Laufen gehalten werden. Und so wird die Party aufgepeppt mit Nikolo und Nikola, mit Weihnachtswichteln, Jingle Bell und Rentierschlitten, mit aufgeblasenen Weihnachtsmännern auf den Balkonen und Dauer-LED-Lichterketten an Häusern, Büschen und Bäumen. Von riesigen Plakaten lächeln glückliche Frauen in sexy Flatterkleidern mit zarten Feenflügeln und freuen sich vor einem piktogrammartig gestilten Weihnachtsbaum unbändig über ihre neue Flatrate. Hunde, Kühe und Wäschemodels tragen rote Zipfelmützen. Aber einen Weihnachtszauber erzeugt so eine rote Nikolauszipfelmütze nicht. Auch nicht die einfallslosen sterilen aber aufdringlichen Dekorationen in den Konsumtempeln. Kälte geht von ihnen aus, fast schon Feindseligkeit.


    Etwas scheint verloren gegangen zu sein. Etwas, das die Herzen warm und die Augen feucht macht.


    Wo ist das Licht, das in die Welt gekommen ist? Hat es jemand ausgeblasen? Oder ist unsere technisierte Welt zu hell ausgeleuchtet um die Flamme einer Kerze noch wahrzunehmen. In den dunklen Altarräumen der Kirchen vielleicht noch, dem letzten Zufluchtsort des Christengottes, dessen Anhänger es wagten sich ein Bild von ihm zu machen, und dieses Bild zum kommerziellen Abschuss frei gaben. Weihnachten ist ein entkerntes Gebäude, das unter Denkmalschutz steht, aber schon lange zum Konsumtempel des reinen Kapitalismus umgebaut ist. Zwar wird die Fassade alle Jahre wieder neu getüncht und dekoriert, mit den Farben der Sentimentalität, der jahreszeitlich bedingten Nächstenliebe und mit viel Kerzenwachs, Flittergold und Glimmer, aber die Dekoration wirkt deplaziert, die Farbe blättert schnell ab; sie hält nicht mehr auf den in den Feuern der heiligen Kriege und Ketzerverfolgungen verkohlten Wänden. Die Bausubstanz verfällt immer mehr. War denn jemals Substanz da? Die heilige Familie ist längst ausgezogen, falls sie jemals im Sentimenteltempel gewohnt hat.


    Und jetzt auch noch der Schnee, der nicht planmäßig eintreffen will. Da ist gleich die ganze Theaterdekoration beim Teufel. Wie soll man denn da noch die Heilige Familie bei ihrer Herbergsuche gebührend bemitleiden, wenns gar nicht so kalt ist und ein schöner warmer Heuschober deshalb gar nicht so schlecht?


    Lasst es doch einstürzen dieses morsche Gebäude mitsamt seiner verkitschten Fassade. Dann finden wir vielleicht in den Trümmern den letzten Funken, der imstande ist, einen Flächenbrand zu entzünden, der nicht Friede durch Wohlstand, sondern durch Menschlichkeit bringt.

  • 10. Dezember 2015 von Batcat



    Weihnachten bei Schröders


    *** Dinner anläßlich des Heiligen Abends 2015 bei Sanne und Julius Schröder ***


    1. Gang Maronenschaumsüppchen mit Weißbrotcroutons


    2. Gang Sautierte Jakobsmuscheln an Karotten-Pastinakenstampf mit Pernodsauce


    3. Gang Kartoffel-Safran-Türmchen mit Nußkruste


    4. Gang Glasierte Entenbrust mit Portweinbirne an Sherryjus, selbstgemachte Klöße und Zimtrotkraut


    5. Gang Salzburger Nockerl vom Straußenei, dazu flambierte Sherrykirschen


    **************************************************************


    Heiligabend bei den Schröders war immer eine feine Sache – fanden zumindest all ihre Gäste, die die Ehre hatten, sich zu diesem Anlaß zu einem erlesenen Schlemmermenü einzufinden.


    Nur Fips und Tine, der Schrödersche Nachwuchs, fand das nicht. Aber sie wurden nicht gefragt. Weihnachten war für die Zwillinge – von den Geschenken mal abgesehen – der schrecklichste Tag des Jahres.


    Ständig waren sie im Weg und egal, wo sie waren und was sie taten – stets störten sie bei den aufwendigen Vorbereitungen fürs Galadinner.


    Am besten sollten sie an diesem Tag unsichtbar und unhörbar sein. Ein Ding der Unmöglichkeit – war es doch der aufregendste Tag des Jahres. So sehr sie sich auch bemühten, einen Blick aufs Christkind zu erhaschen, ständig wurden sie ermahnt, auf ihr Zimmer zu gehen und sich dort ruhig zu verhalten.


    Es war 17 Uhr und im Haus herrschte Hochbetrieb. Während Papa Julius Schröder den Baum mit Kugeln, Lametta und unzähligen Lichterketten schmückte, wirbelte Mama Sanne beidhändig in der Küche herum. Sie trug eine bunte Schürze mit der Aufschrift „Küchenfee“ und hatte ihre Haare zu einem wilden Knoten zusammengezwirbelt.


    Während sie gleichzeitig in Töpfen und Pfannen rührte, lief auch der Backofen bereits auf Hochbetrieb. Der Radio, in dem sie einen Sender mit Weihnachtsliedern eingestellt hatte, wurde immer wieder vom Dröhnen des Thermomix übertönt, mit dem sie Nüsse und andere Zutaten zerkleinerte, pürierte und zu Teigen und Pasteten verarbeitete.


    Gegen 18 Uhr war Sanne mit den Vorbereitungen fertig. Jetzt mußten die Gerichte alle nur noch der Reihe nach in den Ofen und auf den Herd. Pünktlich trafen die Gäste ein – ihre Eltern und ihr Bruder Sven samt Familie.

    Zur Einstimmung gab es erst einmal ein Glas Sekt für alle im Eßzimmer, da Julius noch im Wohnzimmer zugange war.

    Auch Julius' Werk näherte sich seinem Ende. Hochzufrieden betrachtete er den perfekt geschmückten Baum, unter dem sich zahlreiche Geschenke auftürmten. Doch als er die Lichterketten in die Steckdose einsteckte, tat es plötzlich einen lauten Schlag, aus der Steckdose begann es zu rauchen und alle Lichter verlöschten.

    Wie ärgerlich! Doch bestimmt war nur eine Sicherung rausgeflogen! Zuversichtlich begab sich Julius in den Keller und tauschte die Sicherung aus, was im Dunkeln nicht so einfach war, da die Batterie der Taschenlampe ihren Geist aufgegeben hatte. Doch nichts tat sich.


    Als Julius sich wieder nach oben tastete, bemerkte er, daß auch die anderen Häuser dunkel waren. Rasch rief er vom Handy aus bei den Stadtwerken an, doch es meldete sich nur eine Ansage vom Band, die allen Kunden ein fröhliches Weihnachtsfest wünschte.


    Betreten setzte er sich zu den anderen ins Wohnzimmer und starrte in die Dunkelheit. Nichts ging mehr: Kein Licht, kein Herd, kein Ofen, sogar die Heizung war ausgefallen. Maulend kamen die Kinder nach unten, denn natürlich liefen auch der Fernseher und ihre Playstation nun nicht mehr.


    Sanne faßte sich als Erste und zauberte Kerzen und Teelichter herbei. Rasch wurde der Kamin angezündet, damit wenigstens das Wohnzimmer nicht auskühlte. So entstand zumindest ein bißchen Weihnachtsstimmung. Nach einer halben Stunde fuhr ein Wagen der Stadtwerke vor und begann, an der Straßenecke im fahlen Lichtschein von aufgestellten Lampen zu werkeln und zu buddeln. Doch so fleissig auf der Straße auch gearbeitet wurde, um 19 Uhr saßen die Einwohner der Fliederstrasse noch im Dunkeln.


    Sanne machte sich keine großen Illusionen mehr: ihr so sorgfältig vorbereitetes Essen fiel ins Wasser. Ein Ende des Stromdebakels war nicht abzusehen, aber sie brauchte für jeden einzelnen Gang den Herd oder den Ofen. Selbst wenn jetzt sofort und auf der Stelle der Strom wiederkäme, stünde das Essen erst zu sehr später Stunde auf dem Tisch.


    Mit einer Kerze in der Hand begab sie sich auf Nahrungssuche in der Vorratskammer... und sie wurde fündig. Mit zwei Dosen Ravioli, Oliven und eingelegten Tomaten kehrte sie zurück. Not macht erfinderisch!


    Innerhalb kurzer Zeit richtete sie auf dem Eßtisch ein kleines Potpourri an aus kalten Ravioli, den Antipasti, dem Weißbrot, das eigentlich für die Croutons gedacht war und diversen Käse- und Salamiresten, die sie noch im Kühlschrank fand. Die mußten ja schließlich auch weg. Dazu den guten Rotwein. VIEL davon! Um vom dürftigen Essen abzulenken, dekorierte sie den Tisch besonders schön. Viele Kerzen, die hübschen Weihnachtsservietten...


    Während des Essens stieg die Laune stetig, was aber natürlich auch am Wein liegen konnte, dem alle Erwachsenen fleissig zusprachen. Die Kinder waren happy – endlich einmal gab es an Weihnachten etwas Leckeres zu essen statt der sonst üblichen komischen Sachen!


    Nach dem Essen sangen sie gemeinsam alle Weihnachtslieder, die ihnen einfielen. Es war wahrhaft schrecklich schön! Die Kinder begleiteten sie dabei genau so schräg auf der Blockflöte und der Melodika.


    Danach besannen sie sich auf ihre Kindheit und spielten Teekesselchen, Stille Post und machten Scharaden. Sie hatten so viel Spaß, daß sie sich erst spät auf die Bescherung besannen. Schnell waren die Geschenke ausgepackt, aber für diesen Abend auch schon wieder abgehakt: Fips und Tine konnten ihre neuen CDs ebensowenig anhören wie ihre Mutter den Ipod ausprobieren. Auch die anderen machten kurzzeitig lange Gesichter: DVDs, Computerspiele... irgendwie waren alle Geschenke „elektrisch“.


    Doch Sanne rettete die Stimmung, als sie sich an die Marshmallows erinnerte, die noch in irgendeinem Küchenschrank herumlagen. Schnell scharten sich alle um den Kamin, steckten die süßen Dinger an Äste, die sie fix aus dem Garten geholt hatten und genossen den klebrigen Nachtisch.


    Danach verabschiedeten sich die Gäste und alle waren sich einig: obwohl es erst so gar nicht danach ausgesehen hatte, war dies doch das schönste Weihnachten aller Zeiten gewesen. Besonders Fips und Tine fanden das. Zum ersten Mal waren sie nicht schon nach dem Essen mit den Geschenken auf ihre Zimmer geschickt worden, damit die Erwachsenen sich in Ruhe unterhalten konnten. Und endlich einmal war auch das Essen lecker gewesen!


    Glücklich standen alle Schröders gegen Mitternacht in der Haustüre und winkten den abfahrenden Gästen nach.


    In diesem Moment gingen alle Lichter an und aus dem Haus dudelte das Küchenradio „Last Christmas“.

  • 11. Dezember 2015 von beisswenger



    Aramäische Weihnacht im Anderswo – Zwölf Monate später


    Der Schleuser sagte, es seien nur drei Seemeilen bis Kos. Mama runzelte die Stirn. Mein Vater nickte und wir sprangen in eins der aufblasbaren Boote. Es war fünfundzwanzig Fuß lang. Viel zu kurz für vierzig Personen.


    Als die Küste vor uns auftauchte, schöpften wir Hoffnung. Vorher schöpften wir Wasser, das unbarmherzig ins Boot eingedrungen war. Es half nichts. Wir sanken. Panik brach aus und mindestens zehn Personen gingen über Bord. Einige Pechvögel hatten Glück im Unglück: Sie waren mit Schwimmwesten bekleidet und trieben lautlos im Meer. Andere konnten schwimmen und versuchten, sich dem Boot zu nähern. Der Rest zappelte, schluckte Wasser und rief um Hilfe.


    Ein Schreck durchfuhr mich und ich schaute nach links. Mein kleiner Bruder Bartolmai saß nicht mehr neben mir. Mein Vater stand auf und brüllte den Namen meines Bruders in die Dämmerung. Immer wieder, immer ängstlicher. Dann sprang er ins Wasser. Plötzlich tauchte Bartolmai auf, hustete und spuckte. „Da vorne ist er!“, krächzte meine Mutter. Inzwischen hatte Papa ihn auch gesehen. „Halt aus, ich komme!“ Papa war so nah und doch so fern. Als er ankam, wo mein Bruder kurz zuvor noch mit seinem Leben gerungen hatte, war Bartolmai verschwunden. Papa fluchte und weinte. Einen Moment später verstummte er. Kraftlos trieb er im Meer. „Ruhig, Papa, bleib ganz ruhig, Hilfe naht!“, rief ich ihm zu.


    Ich hatte sie zuerst gesehen. Die Küstenwache, die aus dem Nichts aufgetaucht war, konnte zwanzig Personen retten, darunter Papa. Mein kleiner Bruder war einer von siebzehn Toten.


    Das war vor einem halben Jahr, sechs Monate vor Christi Geburt.



    Mein großer Bruder Denir ist gefallen. Die Brigade konnte nichts ausrichten. Die Pick-up-Teufel kamen näher und näher. Mein Vater verkaufte unser Hab und Gut. Wir packten unsere Siebensachen und machten uns auf den Weg ins Ungewisse. Auf der Flucht sagte mein Vater, er sei zornig, weil der Westen uns keine Schutzzone eingerichtet habe. Unsere Kirche ist die älteste der Welt. Wir sprechen die Sprache Jesu. Man hat uns vergessen.


    Meine Familie ist geschrumpft. Ich habe beide Brüder verloren. Meine Tante hat die Entehrung nicht überlebt und ihr Mann ist am Gram zugrunde gegangen. Meinen Onkel George haben wir zurückgekauft. 50 000 Dollar wollten sie, bekommen haben sie 15 000. Für die Flucht hat mein Vater 10 000 Euro pro Kopf bezahlt. Mein Bruder und 10 000 Euro sind ertrunken.


    In meiner Heimat gibt es das Christentum nicht mehr. Meine Heimat gibt es nicht mehr. Nach drei Monaten bin ich mit Mama und Papa in unserer neuen Heimat angekommen.


    Das war vor drei Monaten, ein Vierteljahr vor der Christmette.



    Wir sind in Deutschland, in einer Stadt namens Borken untergekommen. Hier leben viele von uns. Ein Onkel meines Vaters hat uns aufgenommen. Die Deutschen haben Angst vor uns, weil wir schwarze Haare haben. Nachdem sie herausgefunden haben, dass auch wir Christen sind, sind sie freundlicher. Mein Vater hat Angst, dass noch mehr Muslime nach Deutschland kommen. Früher haben wir friedlich mit ihnen zusammengelebt. Heute sei das nicht mehr möglich, sagt er.


    Mein Cousin Oshana studiert in Bochum. Es sagt, an der Uni werde der radikale Islamismus unaufhaltsam stärker, doch die Behörden reagieren nicht darauf. Obwohl mein Cousin zur Übertreibung neigt, wundere ich mich über die Deutschen. Sie lassen alles gewähren, obwohl sie Angst haben. Vor allem vor dem Islam. Und doch tun sie nichts dagegen, obwohl sie es könnten.


    Seit zwei Wochen gehe ich in die Schule. In eine Willkommensklasse, in der ich Deutsch als Fremdsprache lerne. Für die anderen Fächer besuche ich eine Regelklasse. Deutsche wollen nicht lernen. Sie sind laut und stören den Unterricht. Wir nennen sie Computerkinder. Sie spielen ständig mit ihren Handys und sitzen vor der Spielkonsole oder vor dem Computer. Draußen spielen sie nicht. Draußen spielt hier niemand.


    Ich habe eine Freundin gefunden. Sie heißt Aischa und kommt auch aus Syrien. Meine Mutter sagte, ich solle mich von ihr fernhalten, mein Vater schwieg. Sie ist Muslima und ich mag sie sehr. Zum ersten Mal habe ich nicht auf meine Eltern gehört.


    Dass ich dieses Jahr Weihnachten in der Fremde feiere, hätte ich letztes Jahr nicht gedacht. Unsere Gemeinde hat eine Kirche von den Protestanten erworben. Die Deutschen gehen nicht mehr in die Kirche.


    Wenn der Krieg vorbei ist, kehren wir zurück, sagt Mama. Niemand glaubt mehr daran.
    Trotz allem freue ich mich auf das Weihnachtsfest in unserer Kirche. Etwas von uns lebt auch in der Fremde weiter.


    Darüber denke ich heute nach, dreizehn Tage vor unserem zweithöchsten Fest.

  • 12. Dezember 2015 von StellaLuna15



    Zauber einer Weihnachtsnacht


    Die Nacht ist schwarz wie Tinte,
    kein Laut ist zu hören.
    Gewartet wird auf das heilige Feste,
    es sind geschlossen sämtliche Haustüren.


    Doch da sind Lichtpunkte,
    in der Ferne am Himmelszelt.
    Man vernahm ein leises Knallen, es funkte,
    Ein Licht löst sich und es fällt.


    Gen Erde rast es,
    gefolgt von zehn weiteren Lichtern.
    Bei genauem Hinsehen sind es Elfen, gewiss,
    beflügelt und strahlend, mit hübschen Gesichtern.


    Voll Güte und Liebe in ihren Blicken
    nähern sie sich den Städten.
    Fliegen vor jedermanns Fenster, machen sich bereit,
    ihre Lichter zu schicken,
    sie bleiben ungestört, alle Menschen ruhen in ihren Betten.


    In ihren Handflächen bilden sich winzige Feuerkugeln,
    nur zarte Flammen, warm und unbewegt.
    Vergessen ist schnell der Weihnachtszeit Trubel,
    als sich ebenso die ersten Kerzen hinter den Fensterscheiben entzünden,
    und jedes Elflein Hand anlegt.


    Sie lassen ihre Lichter nicht erlischen,
    nicht, bis die ganze Stadt in einen romantischen Schein gehüllt ist.
    Da spüren sie gleichzeitig, wie die Menschen aufstehen,
    die lichtbringenden Elflein verschwinden und die Lichter werden auch in diesem Jahr nicht vermisst.


    Ob Häuser, ob Läden, ob Straßen,
    alles wurde so erhellt.
    Drum lasst uns dafür dankbar sein, für diese alljährliche Phase,
    so entsteht das Weihnachtslicht, so wurde es schon immer angestellt.

  • 13. Dezember 2015 von Groupie


    Das Festzelt


    „Julius, jetzt beeil dich, bitte! Papa steht bestimmt schon draußen und wartet auf uns.“ Der kleine Junge trottet langsam hinter seiner Mutter her und beobachtet seine Umwelt aufmerksam. „Julius, komm jetzt.“ Der Vorweihnachtsstress war nicht spurlos an Luise vorbeigegangen. Sie will doch nur ihren Mann von der Arbeit abholen und in der Stadt die letzten Weihnachtseinkäufe erledigen. „Julius, ich zähle jetzt bis drei, wenn du dann nicht bei mir bist, lasse ich dich hier stehen.“ Den Jungen lässt auch diese Drohung kalt. Er ist weiterhin nur mit der Umgebung beschäftigt. Als seine Mutter sich gerade auf den Weg macht, um ihren Jungen zu holen, fragt er plötzlich: „Was ist das da?“ Mit den kleinen Fingerchen zeigt er auf ein riesiges weißes Zelt, das auf dem Parkplatz der Polizei errichtet ist. Die junge Frau folgt der Hand ihres Sohnes, erklärt ihm, dass es sich um ein Zelt handele und hofft, eine lange Diskussion damit im Keim ersticken zu können. „Warum ist da ein Zelt? Sind die Autos jetzt da drin?“ „Nein, sind sie nicht. Da wohnen jetzt Flüchtlinge.“ Sie hat das Zelt nicht mal registriert, schließlich steht es schon seit ein paar Wochen da und macht die Parksituation für ihren Mann zu einem Glücksspiel. Jeden Morgen. Sie würden alle aufatmen, wenn das Ding endlich wieder abgebaut würde. „Mama, was sind denn Flüchtlinge?“ Julius‘ Mutter atmet tief durch. Sie hat keine Lust, jetzt mit ihrem 4-jährigen Sohn eine Flüchtlingsdebatte zu führen. Das überlässt sie lieber anderen. Die Medien sind jedenfalls täglich voll davon. Und gefühlt gibt es kaum noch ein anderes Thema. Trotzdem weiß sie, dass ihr Sohn niemals locker lassen wird, also versucht sie es: „Das sind Leute, die nicht in ihrem Zuhause bleiben können, weil da Krieg ist. Sie müssen von zu Hause weglaufen.“ Schon als sie es ausgesprochen hat, weiß sie, was als Nächstes passieren wird und schließt in Erwartung die Augen. Julius denkt kurz nach: „Was ist Krieg?“


    Luise hat schon lange mit der Frage gerechnet, will einem 4-Jährigen das Thema aber nicht zwischen Tür und Angel näherbringen und wählt deshalb nur eine Kurzantwort in der Hoffnung, dass Julius dann bis zu Hause Ruhe gibt: „Krieg ist, wenn sich zwei Gruppen streiten. Aber nicht nur wie du und dein Freund Alex, wenn ihr euch um ein Spielzeug streitet, sondern mit richtigen Pistolen. Damit verletzen sie Menschen und machen ihre Häuser so kaputt, dass niemand mehr darin wohnen kann. Darum verlassen die Flüchtlinge dann ihr Zuhause.“ „Aha!“ Damit ist das Thema für Julius offenbar erledigt. Seine Mutter wundert sich zwar, ist aber froh, dass der kleine Junge ihr jetzt endlich ein bisschen schneller folgt.


    Am Abend zu Hause greift Julius das Thema „Krieg“ nicht wieder auf. Auch in den folgenden Tagen nicht. Er fragt jedoch hin und wieder, was die Flüchtlinge wohl machen, was sie essen oder woher sie eigentlich genau kommen. Er will alles Mögliche wissen und jedes Mal, wenn er Süßigkeiten oder ein Spielzeug bekommt, stellt er sich die Frage, ob die Flüchtlinge das wohl auch gerne hätten. Luise und ihr Mann sind jedoch erleichtert, dem Kleinen nicht noch mehr über Krieg erzählen zu müssen und beantworten deshalb die meisten Fragen ihres Sohnes bereitwillig, wenn auch kurz und knapp, während sie sich auf die letzten Weihnachtsvorbereitungen konzentrieren.


    Dann ist er endlich gekommen, der Heilige Abend. Julius ist schon seit Tagen ein Nervenbündel. Luise hantiert den ganzen Tag in der Küche und bereitet einen leckeren Kuchen und das Abendessen vor. Sie ist hektisch und nie findet sie, was sie sucht. Ihr Mann Jonas kümmert sich währenddessen im Wohnzimmer um den Tannenbaum. Auch er scheint etwas planlos und braucht länger als sonst, um den perfekten Baum zu gestalten. Julius betritt den Raum. „Papi, können wir vielleicht einen Spaziergang machen?“ Der Vater lacht kurz auf, schaut auf das Kugel-und-Lichterketten-Chaos um sich herum und erklärt seinem Sohn ruhig aber bestimmt, dass er das sicher nicht schaffen werde. Schließlich müsse der Baum bis zur Messe geschmückt sein. Traurig macht sich der kleine Junge auf den Weg zu seiner Mutter. „Mami, können wir vielleicht einen Spaziergang machen?“ Sie schaut ihn an, um zu sehen, ob er das ernst meint und sieht in seine erwartungsvollen Augen. Dann wirft sie einen Blick auf das Durcheinander in ihrer Küche und vertröstet ihren Jungen auf die nächsten Tage. Julius zieht sich traurig in sein Zimmer zurück.


    „Jonas, wie sieht es aus?“, ruft Luise aus der Küche etwas abgehetzt. „Wir müssen gleich los zur Kirche. Ich muss mich nur noch schnell umziehen. Machst du Julius bitte schon mal fertig?“ Jonas antwortet mit einem zustimmenden Murmeln und macht sich auf den Weg ins Kinderzimmer. „Luise, wo ist Julius denn?“ „Na, in seinem Zimmer. Er wollte ein bisschen spielen gehen.“ „Aber hier ist er nicht.“ „Er muss aber da sein. Hast du mal unter seinem Bett oder im Schrank nachgesehen? Er versteckt sich bestimmt wieder.“ Auch Luise betritt das Kinderzimmer und hilft ihrem Mann beim Suchen. Doch beide finden nichts. Sie suchen das gesamte Haus ab und langsam setzt Panik ein. Sie waren so beschäftigt, dass sie nicht mehr wissen, ob ihr Sohn ihnen vielleicht mitgeteilt hat, wo er hingehen wollte. Sie suchen im Garten, rufen bei seinen Freunden in der Nachbarschaft an, doch ihr Sohn bleibt verschwunden. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe und Luise kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Jonas telefoniert mit seinen Kollegen von der Polizei. Er fleht sie fast an, seinen Jungen zu finden. Die Eltern selbst können nichts tun. Jonas macht sich deshalb auf den Weg und sucht die Umgebung ab, während Luise das Telefon bewacht. Bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckt sie zusammen. Fünfmal drückt sie den grünen Hörer, um zu testen, ob die Leitung vielleicht tot ist. Dann klingelt es wirklich.


    Luise erkennt die Nummer sofort und nimmt ab. „Ja!“, brüllt sie panisch in den Hörer. „Luise, hier ist Mike. Wir haben euren Jungen gefunden. Ihr solltet sofort herkommen.“ Augenblicklich fließen die Tränen wieder. Sie kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Schluchzend informiert sie Jonas und bestellt ihn zu seinem Arbeitsplatz. Sie selbst ist schon halb auf dem Weg. Am Tor angekommen fällt sie ihrem Mann in die Arme. Kurz darauf werden sie auch schon von Jonas‘ Arbeitskollegen in Empfang genommen. Er fordert sie auf, ihm zu folgen: „Das müsst ihr euch ansehen.“


    Als sie das Flüchtlingszelt betreten, sehen sie Julius sofort. Er steht inmitten eines großen Kreises und verteilt sein Spielzeug, Süßigkeiten und Weihnachtsdeko an die vielen Flüchtlinge, die dort untergekommen sind. Luise und Jonas erkennen viele Dinge wieder, die sie den ganzen Tag über so erfolglos gesucht hatten. Auch viele Spielsachen ihres Sohnes registrieren die zwei. Alle Augen strahlen. Ganz besonders die von Julius. Luise und Jonas werden langsam ruhiger. Als ihr Sohn sie erblickt, rennt er sofort auf sie zu und fällt seiner erleichterten Mutter in die Arme. „Meint ihr, das Christkind ist böse auf mich, weil ich schon mal angefangen habe, Geschenke zu verteilen? Ich dachte, so viele Menschen auf einmal schafft es vielleicht nicht alleine.“

  • 14. Dezember 2015 von polli



    Friede auf Erden


    Erinnert ihr euch noch an die ewig währende Konkurrenz der Dörfchen Villarriba und Villabajo?
    Ungefähr so ähnlich ging es in Oberalpdorf und Unteralpdorf zu. Seit vielen Jahren fühlten sich die Oberalpdörfler den Bewohnern jenseits der Brücke, die über das Flüsschen Illms führt, überlegen. Ihre Häuser waren mit prächtigeren Motiven bemalt, ihr Marktplatz war gepflastert und nicht wie in Unteralpdorf mit einer kümmerlichen Kiesschicht bedeckt, und ihnen gehörte das Sporthotel am Hang ebenso wie die Kirche. Den Unteralpdörflern gehörte nichts.
    Alles wäre wie immer geblieben, wenn nicht eines Tages im Dezember ein dünner, schnauzbärtiger Mann und einige Schritte hinter ihm eine kleine, ziemlich dicke und von Kopf bis Fuß verhüllte Frau ins Oberdorf gekommen wären. Der Mann schob ein Fahrrad neben sich her, an den Lenkergriffen baumelten Plastiktüten mit ein paar Habseligkeiten.
    Natürlich bringen solche Fremden Unruhe. Die Touristen machen einen großen Bogen um sie und die Einheimischen mustern sie durch die Küchengardine. Man kann schließlich nie wissen, mit wem man es zu tun hat.
    Mitten auf dem Marktplatz blieben die beiden stehen. Die Frau ließ sich auf die Bank neben dem Dorfbrunnen fallen, der Mann schöpfte mit seinen Händen Wasser aus dem Bassin und schlürfte es geräuschvoll. Dann holte er eine zerdrückte Plastikflasche aus einer der Tüten, füllte sie mit Brunnenwasser und reichte sie der Frau. Sie trank, dann legte sie schwerfällig die Beine hoch und lehnte sich zurück. Kein schönes Bild, solche herumlungernden Gestalten.
    Die Einheimischen, zumindest die, die ihren Beobachtungsposten hinter der Küchengardine eingenommen hatten, konnten sehen, wie der Metzger aus seinem Laden trat, gefolgt von seinen beiden kräftigen Söhnen. Er stellte sich breitbeinig vor den Fremden auf und verschränkte die Arme. Was er sagte, war nicht zu verstehen, doch seine Mimik war eindeutig: Er forderte das Paar zum Verschwinden auf. Der dunkle Mann schien sich zu widersetzen, er gestikulierte und zeigte auf seine dicke Frau. Der Metzger – man ist schließlich kein Unmensch – half ihr auf und schob sie von der Bank. Seine Söhne blickten finster drein, was den dünnen Mann sichtlich ängstigte. Er nahm sein Fahrrad, blickte sich nach der Frau um, machte ihr ein Zeichen, sie solle sich beeilen, und dann zogen sie weiter, Richtung Illms und über die Brücke zu den Unteralpdörflern.
    Es kehrte Ruhe in Oberalpdorf ein. Sie hielt eine Woche lang.
    Beim Stammtisch hatten sie dem Metzger auf die Schulter geklopft und ihm zu seinem beherzten Eingreifen und zu seinen kräftigen Söhnen gratuliert. Er spendierte eine Runde und hielt eine beeindruckende Rede, in der die Wörter Heimat, Ordnung, Sauberkeit und Durchgreifen eine große Rolle spielten.
    Doch dann tauchte etwas atemlos der Huber Senior abends beim Stanglwirt auf und nahm seinen Platz am Stammtisch ein. „Jessasmariaundjosef“, rief er, „das hat uns gerade noch gefehlt! Die alte Garage vom Mayer, das wird jetzt eine Kapelle und all die Wallfahrer und Busladungen mit Touristen sind schon da, und wir haben das Nachsehen und du, du Obermetzger mit deinem Spatzenhirn, du hast uns das alles eingebrockt!“
    Der Metzger sprang auf. Beleidigen ließ er sich von niemandem. „Sag mal spinnst du? Noch ein Wort, und ich pack dich an deinen Hosenträgern und befördere dich nach draußen.“
    Anders als sonst ließ sich der Huber nicht einschüchtern. „Los, erzähl doch erst mal“, forderten ihn die anderen auf.
    Und dann erzählte er eine völlig irre Geschichte von dem Typen mit dem Fahrrad und der dicken Frau, die in Wirklichkeit hochschwanger war und in der alten Garage vom Traktor-Mayer das Jesuskind gekriegt hatte. Ohne Hilfe. Weil der Mayer nicht wusste, dass sie schwanger war. Die Fremden redeten ja nix.
    Etwas nachdenklich setzte sich der Metzger wieder hin. „Huber, du meinst also, da drüben in Unteralpdorf beim Traktor-Mayer sitzen jetzt Maria und Josef und das Kind und lassen sich von zwanzig Touristen bestaunen? Echt jetzt?“
    „Nicht zwanzig, eher so hundertzwanzig. Oder tausend. Auf jeden Fall ist der Marktplatz der Unterdörfler voller Busse. Der alte Bäcker hat seinen Laden wieder eröffnet und jeder drüben hat Zimmer an die Touristen vermietet. Da rollt jetzt der Rubel, das sag ich euch!“
    Die Stammtischrunde verfiel in ein wenig andächtiges, eher finsteres Schweigen. Übertölpelt von den Unteralpdörflern! Warum nur hatte dieses Riesenrindviech von Metzger mit seinen strunzdummen Söhnen die beiden Fremden fortgeschickt? Ach was, weggezerrt hatte er sie, alle hatten es genau gesehen. Wäre es nach ihnen gegangen, so hätte man den beiden die Honeymoonsuite im Sporthotel gegeben!
    Und während sich alle darin überboten, wie schön es doch ist, wenn man aufrichtig und uneigennützig Fremde willkommen heißt, schlich sich der Metzger unauffällig von dannen.


    Tja, und die Moral von der Geschichte? Ich fürchte, die muss sich jeder der Unter- und Oberalpdörfler selber zusammenreimen und wir natürlich auch. Dem Jesuskind geht es übrigens gut, auch wenn es in echt Aylin heißt und mittlerweile in München registriert ist, zusammen mit Papa Kioomars und Mama Tahira. Und wie sich die zu Geld gekommenen Unteralpdörfler wegen der neuen Wallfahrtskapelle auf dem Gelände vom Traktor-Mayer hoffnungslos zerstritten haben, das erzähle ich ein anderes Mal.

  • 15. Dezember 2015 von LyFa



    Weihnachten


    Sie stand am Fenster, stützte die Hände auf das Fensterbrett. Es war dunkel. Schon jetzt. Im gegenüberliegenden Wohnblock sah sie blinkende Girlanden und Sterne an den Fenstern. Hinter einigen Gardinen konnte sie Tannenbäume erkennen.
    In ihrem Radio lief Weihnachtsmusik. Laut.
    Heute war Heiligabend. Aufgeregte Menschen liefen, schwer bepackt, die Straße entlang. Sie nahm die Streichholzschachtel und entzündete die Kerze auf dem Gesteck am Fenster. Feiner Bienenwachsduft erfüllte den Raum. Keine elektrische Beleuchtung, nein, eine goldgelbe Kerze, die Letzte aus der Packung.
    Sie schaute hinaus. Am Himmel zeigten sich die ersten Sterne. Ob Er von da oben zu ihr schaute?
    Hatte es geklingelt? Sie nahm ihren Stock und humpelte zum Eingang. Es polterte auf der Treppe. Sie öffnete die Tür, vorsichtig, nur einen Spalt. Die Kinder des Nachbarn hasteten die Treppe hinunter. Kein Besuch für sie. Die Schwester, die sie sonst jeden Abend besuchte, um ihr die Medikamente zu geben und die Kompressionsstrümpfe auszuziehen, würde heute nicht kommen.
    »Kann ihre Tochter das an den Feiertagen übernehmen?«, hatte die Pflegerin gefragt. »Wir sind so schlecht besetzt.«
    Sie hatte genickt. »Kein Problem, meine Tochter kommt vorbei.«
    Sie hatte der Schwester nicht gesagt, dass ihre Tochter über Weihnachten in Mexiko war. Sie würde die Strümpfe einfach ein paar Tage anbehalten, was war schon dabei. Die Medikamente konnte sie selbst nehmen, hat sie früher auch gemacht. Hatte sie die für heute Abend schon genommen? Sie war sich plötzlich unsicher. In der Küche lag die Wochenbox. Welcher Tag war heute? Mit zitternden Händen versuchte sie, den Behälter zu öffnen. Das Teil fiel auf den Boden. Die Tabletten verteilten sich auf dem Linoleum. Ächzend bückte sie sich. Welche war für abends? Die große Blaue, eine Weiße? Sie klaubte sie auf und schluckte sie mit etwas Wasser. Und dann fiel ihr ein, dass sie ihre Abendmedizin schon genommen hatte. Heute. Oder war das gestern gewesen? Ihr Herz klopfte. Sie musste etwas essen. Und trinken. Sie stellte den Wasserkocher an, nahm einen Teebeutel und suchte eine Tasse. Sie würde eine Gute nehmen, aus dem Wohnzimmer. Langsam tappte sie zur Vitrine. Was wollte sie hier noch einmal? Ihr Blick fiel auf den handgeschnitzen Engel. Vorsichtig nahm sie ihn in beide Hände. Dann trug sie ihn zum Fenster und stellte ihn neben die Kerze. Der Kerzenschein beleuchtete sein feingemaltes Gesicht, es sah aus, als wäre er lebendig. Sie lächelte. Sie war doch nicht allein!
    Der Wasserkocher in der Küche gab ein Signal und stellte sich ab. Sie hörte es nicht. Selig lächelnd saß sie in ihrem Sessel und schaute auf den Engel. Er leuchtete jetzt, immer heller wurde das Leuchten. Glücklich schloss sie ihre Augen. Nur ein bisschen ausruhen. Ein Tannenzweig begann zu glimmen. Das Gesteck war trocken. Ein Zweig berührte die Vorhänge. Die schweren Übergardinen fingen an zu schwelen. Sie verlor das Bewusstsein, bevor Flammen, nach Nahrung suchend, ihren Engel erfassten.
    Die Feuerwehr kam schnell und doch zu spät.

  • 16. Dezember 2015 von Voltaire



    Der banale Glühwein


    Es gibt Geschichten die sind wahr – es gibt Geschichten die sind erfunden. Ob diese kleine Geschichte nun wahr oder erfunden ist – das weiß außer mir niemand.



    Feierabend!
    Gerade die Vorweihnachtszeit, Zeit die eigentlich doch besinnlich und ruhig sein sollte, die scheint immer wieder in Sachen Hektik zu großer Form aufzulaufen. Und das war auch in diesem 23. Dezember, einem Freitag, nicht anders – ein Freitag, der dann zu etwas ganz Besonderem werden sollte.
    An sich hasste ich Weihnachten und alles was damit zusammenhing. Denn vor zwei Jahren hatte ich alles verloren was mir etwas bedeutet hatte. Ausgerechnet am Heiligen Abend.


    Es war 19 Uhr und ich wollte nicht nach Hause, wo mich eh nur eine dunkle und leere Wohnung erwartet hätte.
    Vielleicht dann doch noch auf einen Glühwein auf den Weihnachtsmarkt an der Petrikirche.
    Ich bestellte einen Becher Glühwein, zahlte und ging mit meinem Becher an einen der leeren Stehtische.


    Und da stand er plötzlich neben mir.
    Er war das, was man so abwertend als „Penner“ bezeichnet. Seine Kleidung schien sauber zu sein, wenn sicher auch schon etliche Male geflickt. Seine Haare waren grau und lang und auch sein Bart brauchten keinen Vergleich mit dem Bart von Billy Gibbons zu scheuen.
    Er schaute mich freundlich an. Eigentlich hatte ich keine Lust auf Gesellschaft, aber irgendwas an diesem Mann war anders, er war auf eine freundliche Art unheimlich.
    „Na, willst du auch einen Glühwein?“ Fragte ich ihn.
    „Da sage ich nicht nein, wenn du bezahlst.“ Er grinste.
    Ich gab ihm das Geld und er besorgte sich einen Becher Glühwein und gesellte sich dann wieder zu mir.
    Wir plauderten über dieses und jenes – und leerten dabei noch so manchen Becher dieses Gesöffs, ein Gesöff, das angeblich auch das Innere des Körpers wärmen soll.


    Dann fing es auch noch zu schneien an und ich dachte so bei mir: Das ist ja wie in einem dieser wunderbaren Kitschfilme aus Hollywood.


    Dann schaute er mich ernst an und meinte:
    „Ich würde dir gern eine kleine Geschichte erzählen, vielleicht keine Geschichte – sondern wohl eher ein Bericht warum ich jetzt der bin der ich bin und warum ich hier gelandet bin.“


    Sein Blick schien in die Ferne zu gehen.


    „Ich war nicht immer ein Penner. Nein, absolut nicht,“ begann er.
    „Ich habe Jura studiert und bin dann in einer gutgehenden Anwaltskanzlei gelandet. Dann lernte ich ein wunderbares Mädchen kennen die dann schon nach kurzer Zeit meine Frau wurde. Bald darauf bekamen wir eine kleine Tochter, die unser oder mein Glück, ganz wie man will, vollkommen machte.“


    Er hielt inne. Schien tief in Gedanken versunken.
    Dann fuhr er fort:
    „Und leider musste ich dann erleben, wie schnell doch das was man Glück nennt sich in blanken Horror verwandeln kann. Es war am Heiligabend vor 15 Jahren, als meine Frau und meine Tochter tödlich mit dem Auto verunglückten. Irgendwie schien damit auch mein Leben zu Ende gegangen zu sein. Ich wurde quasi zu einem Zombie. Alles verrichtete ich nur mechanisch. Meine Arbeit litt darunter, ich vernachlässigte mein Äußeres und zahlte auch keine Rechnungen mehr. Und es kam wie es kommen musste, ich verlor meine Arbeit, mein Haus wurde zwangsversteigert und ich landete auf der Straße. Und da lebe ich nun seit vielen Jahren. Du siehst, ein ganz banale Geschichte – wo sie schon sehr viele Menschen haben erleben müssen.“
    Wieder machte er eine Pause.
    „Und dann wurde mir ein Job angeboten, den ich einfach nicht ablehnen konnte. Es war ein ganz besonderer Job. Ein Job ohne Bezahlung. Ich sollte zu den Menschen gehen und ihnen sagen, wie es um sie in der Zukunft stehen würde – aber nur den Menschen, die sehr schlimme Zeiten durchmachen mussten. Ich sollte ihnen Hoffnung geben, ihnen Kraft und Zuversicht vermitteln. So wie ich es jetzt bei dir versuche!“
    „Du weißt doch gar nichts von mir,“ sagte ich leise.
    „Doch, ich weiß alles von dir. Ich weiß, dass du deine Frau und deine Tochter vor zwei Jahren am Heiligabend durch einen Unfall verloren hast. Ich weiß wie du in 15 Jahren aussehen wirst, lange graue Mähne und ein Bart wie der von Billy Gibbons. Und ich weiß auch, dass du in 15 Jahren auf einem Weihnachtsmarkt von einem unglücklichen Menschen einen Glühwein spendiert bekommst, dem du dann deine Geschichte erzählen wirst.“


    Ich war sprachlos. Und dann schaute ich diesem seltsamen Mann ins Gesicht. Und ganz langsam veränderte sich sein Gesicht – und (hatte ich vielleicht zu viel getrunken?) wurde zu meinem Gesicht. Ich stand mir selbst gegenüber, einem selbst, wie es in 15 Jahren sein würde.
    Und dann kapierte ich es endlich. Der Mann hatte mir meine eigene Geschichte erzählt und ich war wirklich auf dem Wege auch auf der Straße zu landen. Mein Arbeitgeber war mehr als unzufrieden mit mir, ich vernachlässigte meine Pflichten, ich wurde einfach mit meiner Trauer nicht fertig.
    „Es ist Zeit STOP zu sagen und umzukehren, mein Freund. Noch hast du dazu die Möglichkeit. Und lass mich dir noch eines sagen: Wenn man die Liebe verliert ist es fürchterlich, wenn man die Hoffnung verliert, dann ist es sehr, sehr schwer wieder in die Spur zu finden – wenn man aber sich selbst verliert, dann hat man alles verloren. Lass es nicht soweit kommen.“


    Er schwieg.
    „Und was soll ich machen? Denn ich weiß jetzt was es bedeutet wenn Menschen sagen, alles sei sinnlos.“


    „Das eigene Leben ist niemals sinnlos, so unwichtig es uns auch erscheinen mag. Und ich darf dir eines versprechen, das was du verloren hast, wirst du wieder finden.“

    Ich wollte etwas sagen – doch der Mann war verschwunden.


    Und ich glaube auch nicht, das ich mir das Folgende einbildete: Ganz winzig, noch nicht sehr hell – ab es war da, es wärmte sogar schon ein klein wenig – das kleine Flämmchen Hoffnung und Zuversicht war entzündet worden, ganz tief in mir.


    Ich holte mir noch einen Becher Glühwein, denn ich hatte einiges zu durchdenken.
    Kaum war ich wieder an meinem Stehtisch gelandet, trat Abraham Lincoln an meinen Tisch. Es war natürlich nicht Abraham Lincoln – aber diese Ähnlichkeit!!
    „Haben Sie einen Moment Zeit für mich?“ Fragte er sehr höflich mit einer sehr angenehmen Stimme.


    „Natürlich. Was kann ich für Sie tun?“
    Heute war eh alles schon merkwürdig, warum sollte ich mich also nicht mit Abraham Lincoln auf einem Weihnachtsmarkt in Hamburg unterhalten.


    „Wir hätten da einen Job für Sie, bezahlen können wir allerdings nichts……….“


    Und das Flämmchen Hoffnung und Zuversicht wurde heller und begann schon richtig zu wärmen.

  • 17. Dezember 2015 von Minusch



    Sie

    Ein letztes Mal prüft sie, ob sie nichts vergessen hat. Gleich kommt die Nachtschwester, an die sie die Patienten übergibt. In Hände, die sanft die kalten Finger der Kranken drücken, die Fieber messen und Spritzen aufziehen. Auch sie ist mittlerweile fast zehn Jahre dort, hat alles gesehen, was man nie sehen sollte. Momente, die an ihr nagen, und welche, die ihr Herz wärmen. Es gibt immer Licht und Schatten. Sie könnte ein Buch schreiben, mit all ihren Erlebnissen, und doch wüsste sie, dass das nicht reicht. Routine würde es niemals werden, auch wenn sie das anfangs zu glauben schien.
    Die Übergabe klappt nahtlos, man lächelt sich zu, isst noch ein Stück Stolle, nimmt einen Keks. Der Aufenthaltsraum hat sein steriles Weiß mit einer blinkenden Lichterkette getauscht – getränkt in bunten Farben erzählt man sich, was man vorhat oder auch nicht. Dann ist sie allein. Sie nimmt ihren Mantel, grau und abgewetzt, den sie schon längst hätte wegschmeißen müssen, es aber nicht tut. Nicht jetzt und nicht später. Wenn er Löcher hat oder gänzlich ausfranst, wird sie ihn in die einzige Truhe legen, die sie hat. Dorthin, wo schon Vergangenheit herausströmt, wenn sie sie öffnet.
    Bilder. Sie mit ihrem Vater, der lachend neben ihr steht, weil sie den Mund voller Kirschen hat, zu beider Füßen ein Korb mit den roten Früchten, deren Kerne sie in einem Wettstreit spucken. Sie gewinnt immer, tadelt den Vater dafür, der sich keiner Schuld bewusst ist. Der Schulanfang. Die Tüte mit den Leckereien ist fast größer als sie, sie balanciert sie gekonnt, damit das Schmuckstück mit der großen Schleife auch im Vordergrund zu sehen ist.
    Ihre Großmutter. Schlummernd auf dem Schaukelstuhl, die Züge völlig entspannt. Auf der schwarz-weißen Fotografie ist sie noch schöner. Die karierte Decke wärmt ihren Schlaf.
    Eine Flaschenpost, die sie am Strand findet, mit dem selbstgemalten Bild eines Mädchens.
    Ihr erstes aufregendes Kleid, feuerrot, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie 16, er 21. Die Nacht endet am nächsten Morgen. Schillerfalter um sie herum, die Wiese feucht vom Tau, das Kleid fast ruiniert, sie kann es retten. Ihn nicht, er macht sich davon.

    Sie steigt in den Bus, verdrängt die Erinnerung, hört dem Weihnachtslied zu, das der Busfahrer leise dudeln lässt. Ein Pärchen lacht, ein alter Mann schaut mit trübem Blick nach draußen auf das Lichtermeer. Die Straßen sind gesäumt von Weihnachtsreklame, Tannenzweige und Kugeln in den Schaufenstern. Sie sieht ihr Spiegelbild, es lächelt nicht, schaut sie starr und übermüdet an.
    Die Haltestelle.
    Sie steigt aus, schaut in den Himmel, der wie ein schwarzes Tuch über ihr hängt. Schnee wurde nicht angesagt. Viele meinen, das sei doch kein richtiges Weihnachten, so ganz ohne weiße Pracht. Vielleicht kommt sie noch, vielleicht ist sie noch nicht bereit für den 24. Dezember. Endlich ist sie zu Hause, wirft sich in bequeme Klamotten, macht das Radio an, aus dem Stille Nacht, heilige Nacht ertönt. Sie schaltet es aus, erwärmt das Essen, das sie vorgekocht hat und geht damit ins behagliche Wohnzimmer, in dem sie es nun mit dem Fernsehprogramm versucht. Irgendein Film, in dem zum Fest alles schief geht. Das ist gut. Sie schafft es zu lächeln, zündet eine Kerze an und kocht Tee. Ablenken, positiv denken, nicht nur dir geht es so, spricht sie sich Mut zu. Jedes Jahr dasselbe. Wach auf, nur du kannst es ändern. Sie strafft die Schultern, setzt sich auf das Sofa und lässt sich berieseln.
    Nächstes Jahr, sagt sie sich, schaffe ich es. Nächstes Jahr bin ich nicht mehr allein.

    Diese Geschichte ist all den einsamen Herzen gewidmet, und denen, die mit ihrem unermüdlichen Einsatz an Weihnachten dafür sorgen, dass es anderen gut geht.

  • 18. Dezember 2015 von imandra777



    Alltag


    Es war mal wieder einer dieser Tage. Helen kam geschafft nach Hause. Sie ließ ihre zwei Taschen zu Boden und streckte sich einmal, nachdem sie ihre Jacke abgelegt hatte. Etwas gähnend ging sie in die Küche und brühte sich einen Tee auf, den sie sich aufs Sofa mitnahm. Erleichtert legte sie ihre Beine hoch und genoss die Ruhe, während die Erfahrungen des Tages vor ihrem inneren Auge noch einmal abliefen.
    Die Kinder waren heute einfach nur unruhig und aufgedreht gewesen. Kaum waren sie mithilfe des Ruhezeichens etwas ruhiger geworden, erhob Elke ihre Stimme: „Der Max hat dumme Kuh zu mir gesagt!“ Der Schmollmund war aufgesetzt und eine empörte, fast weinerliche Miene wanderte zu Helen hin. „Habe ich gar nicht. Elke hat angefangen. Sie hat meine Knalltüte weggenommen!“, verteidigte sich Max. Innerlich seufzte Helen auf. Aber wirklich Ruhe wollte in dieser Stunde nicht mehr aufkommen. Als dann noch Jens, ein Inklusionskind (ein Kind mit einer emotional-sozialen Störung), nach einem Wutanfall – er fühlte sich von seinen Mitschülern unfair behandelt- auf den Flur floh, tobte erneut das Tohuwabohu im Raum. „Was hat Collin denn wieder?“ „Er wird ja nie bestraft. Immer heißt es nur Anke.“ Jeder Schüler meint aufzustehen und für ein Pläuschchen im Raum herumlaufen zu können. Nun hieß es Nerven bewahren, so wie Richard, der ruhig vor sich hinspielte, seine Schilde und Kronen aus Papier bastelte und in seiner eigenen Welt versunken war. Schließlich schellte die Schulklingel und die Kinder strömten nach draußen.
    Helen schloss ihre Augen. Bis sie den Klassenraum nach Richard abschließen konnte, war noch eine halbe Stunde vergangen. Er ließ sich einfach Zeit und wenn man ihm zur Schnelligkeit verhalf, fühlte er sich gleich angegriffen.


    Ihr Blick wanderte zu den Kerzen, die auf ihrem Adventskranz brannten und döste etwas, bevor sie an die nächsten Vorbereitungen für die Schule ging. Ob sie jedoch morgen mit ihrem Programm Erfolg haben würde, würde sich noch zeigen. Vielleicht waren die 29 Schüler ja etwas ruhiger.


    Am nächsten Morgen stand sie wieder vor der Klasse. „Guten Morgen zusammen!“ „Guten Morgen Frau Reichelt!“ Helen nutzte die Ruhe gleich aus und besprach kurz den Plan der Stunde mit den Kindern, bevor der Unterricht begann. Die Unruhe vom gestrigen Tag hatte sich gelegt und die wenigen Störungen konnte sie gut händeln. Am Ende der Stunde waren sogar noch ein paar Minuten übrig, in denen die Klassensprecherin das Wort ergriff: „Frau Reichelt, wir wollten uns wegen gestern entschuldigen. Wir waren wirklich unmöglich. Nehmen Sie unsere Entschuldigung an?“ Helen wurde warm ums Herz. „Wir versuchen uns zu bessern.“ Ein Lächeln legte sich auf Helens Lippen. „Ja, die nehme ich an. Heute habt ihr euch super im Griff gehabt. Ihr seid eine sehr lebendige und nette Klasse. Ich glaube, ihr könnt nur noch nicht untereinander auskommen.“ Helen schmunzelte und einige Schüler lachten.


    An diesem Abend kam Helen gut gelaunt nach Hause. Ein Schüler hatte ihr noch einen selbstgebastelten Frosch geschenkt und das Vertrauen, das ihr viele Schüler entgegenbrachten, rührte sie an. Hoffentlich konnte sie den Schülern helfen, das Unruheproblem in den Griff zu bekommen. Egal wie unterschiedlich sie alle waren. Jeder war gut so, wie er war. Ihr Blick wanderte in die Flamme. Vergeben zu können und zusammen eine schöne Zeit verbringen, war ein Gedanke von Weihnachten. Da konnten die Umstände noch so schwierig sein. Und da zählten kleine Gesten viel. Kleine Gesten wie die in ihrer Klasse. Ihr wurde warm ums Herz und sie schloss die Augen. Hoffentlich verlor sie nur nie den positiven Blick, mit dem sie jeden Schüler betrachtete. Er verhalf ihr zu den guten Nerven und dem guten Gefühl, mit dem sie jeden Tag nach Hause fuhr.

  • 19. Dezember 2015 von Steffi B.



    Lemminge


    Später meldeten sich aus allen Teilen der Stadt Augenzeugen, die das Phänomen schon ab den späten Vormittagsstunden beobachtet hatten. Interessanterweise handelte es sich bei den Zeugen fast ausnahmslos um Mitbürger jenseits der Siebzig. Mitbürger ohne Smartphones, wie der Einsatzleiter der Polizei kopfschüttelnd bemerkte, als er sich noch vorschriftsmäßig in seinem Büro befand.


    Zuerst fiel das Phänomen nicht weiter auf. Menschen, den Kopf über ihr Telefon gebeugt, zum Teil zusätzlich mit Kopfhörern von der Außenwelt abgeschottet, schlurften wie jeden Tag durch die Straßen der Stadt, standen in Pulks an roten Ampeln, saßen in der U-Bahn und in Bussen, ihre Aufmerksamkeit komplett absorbiert von E-Mails und Spielen, von whats app, facebook oder was auch immer. Man hatte sich längst an den Anblick gewöhnt. Doch dann änderte sich etwas. Erst langsam und fast unbemerkt, dann immer schneller griff es um sich. Mitarbeiter des eilig einberufenen Krisenstabs zerbrachen sich stundenlang den Kopf über die Vorfälle, die von Dutzenden Überwachungskameras der öffentlichen Personenbeförderung aufgezeichnet wurden. Keiner konnte sich einen Reim darauf machen.


    Der erste Vorfall wurde bereits um 11:16 registriert, in der U-Bahnlinie 3. Ein bis dahin unauffälliger Mann Mitte Dreißig, bart- und mützenlos, dunkler Mantel, Aktentasche, sprang plötzlich auf und verließ im letzten Moment, bevor die Türen sich schlossen, den U-Bahn-Wagon. Dabei rempelte er eine ältere Frau auf dem Bahnsteig so heftig an, dass sie stürzte. Ohne sich um den Protest der Frau zu kümmern, eilte der Mann zu den Rolltreppen, den Blick stur auf sein Smartphone geheftet. Die Kameras in der Station erfassten ihn noch zwei weitere Male auf seinem Weg nach draußen, dann verlor sich seine Spur. Niemand hätte seinem zugegebenermaßen grob unhöflichen Verhalten eine Bedeutung beigemessen, hätte die gestürzte Frau sich nicht umgehend mittels der Notrufsäule in der Fahrdienstzentrale gemeldet. Pflichtschuldig hörte sich ein Mitarbeiter der Notrufzentrale das Lamento der, im Übrigen unverletzten, Frau an, pflichtschuldig nahm er ihre Personalien auf, pflichtschuldig speicherte er das Band und vergaß es nach wenigen Sekunden, als ein weiterer Anrufer ihm mitteilte, Kinder würden direkt neben den Gleisen der oberirdischen Strecke der A 5 einen Schneemann bauen. Erst drei Stunden später erinnerte der Mann sich an das Band und stellte es den Polizeibeamten zur Verfügung. Aber da gab es schon Hunderte und Aberhunderte ähnlicher Verhaltensauffälligkeiten von Fahrgästen. Die Polizei war überhaupt erst eingeschaltet worden, als zwei Frauen, auch sie offensichtlich von dem Geschehen auf ihren Telefonen gefesselt, so heftig zusammenstießen, dass eine der beiden auf die Gleise fiel. Das Überwachungssystem funktionierte hervorragend, innerhalb von wenigen Sekunden war auf der entsprechenden Linie der Verkehr komplett lahmgelegt und der Strom abgeschaltet, damit die Frau nicht gegrillt wurde. Ein zufällig anwesender Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes sprintete zur Unfallstelle, um der Frau aus dem Gleisbett zu helfen. Er kam zu spät.


    Die Frau hatte sich bereits wieder aufgerappelt und erklomm mit Hilfe zweier Umstehenden, die nicht vom Schock gelähmt waren, die Plattform. Keinen Blick hätte sie dabei vom Telefon genommen, kein Danke für ihre Helfer übrig gehabt, gaben der Mann von der Sicherheitsfirma und weitere Zeugen einem eilig herbeigerufenen Polizisten zu Protokoll. Und dann sei sie gegangen. Einfach gegangen. Die Augen aufs Telefon gerichtet. Ob jemand versucht hätte, sie aufzuhalten? Nein, man wäre zu perplex gewesen. Übrigens sei auch die andere Frau, die, mit der sie zusammengestoßen war, auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Der Polizist, ein aufmerksamer Mann, vermerkte unter dem Protokoll zusätzlich, dass während der Zeugenvernehmung weitere Menschen plötzlich auf dem Absatz kehrt gemacht hätten und Richtung Ausgang marschiert seien. Er fand es befremdlich, aber da das Verhalten gegen kein ihm bekanntes Gesetz verstieß, gab er an seine Zentrale durch, es bestünde keine Gefahr mehr und der U-Bahnbetrieb könne wieder aufgenommen werden. Er selbst würde noch bis zur Einfahrt des nächsten Zuges bleiben, um gegebenenfalls panische Fahrgäste zu beruhigen.


    Und dann ging es richtig los.


    Die nächste U-Bahn war im Tunnel zwischen der letzten Station und jener, in der die Frau auf den Gleisen gelandet war, zum Halten gekommen und fuhr nun in langsamem Tempo in die Station ein. Der Polizist, wie erwähnt ein guter Beobachter, vermeinte, Irritation im Blick des Zugführers zu erkennen, dann war das Führerhäuschen an ihm vorbei, der Rest des Zuges folgte. An jedem der Ausgänge drängte sich eine Menschentraube, manche rüttelten an den Griffen der nach wie vor automatisch verriegelten Türen. So weit, so normal, dachte der Polizist, doch irgendetwas war seltsam. Mehr als seltsam: Unheimlich sei es gewesen, wie er später seinen Vorgesetzen berichtete. Unheimlich und völlig unerklärlich. Denn keiner der Menschen blickte aus dem Fenster, keiner sah einen anderen an, niemand schrie, tatsächlich sprachen die Leute nicht einmal miteinander. Alle waren ausschließlich mit ihren Telefonen beschäftigt. Als die Türen aufgingen, strömten die Menschen mit gebeugten Nacken stumm und zielgerichtet hinaus. Der Polizist versuchte, den einen oder anderen Fahrgast anzusprechen, jedoch niemand antwortete, nahm auch nur Notiz von dem ratlosen Mann. Dann klingelte sein privates Handy. Er zog es aus der Tasche, warf einen Blick darauf und gesellte sich umgehend zu der stummen Menschenmasse. Er sollte sich den ganzen Tag nicht mehr in der Zentrale melden, ebenso wenig nahm er die von dort an ihn ausgehenden Funksprüche an.


    In den Straßen manifestierte sich die Verhaltensabnormität bei einer immer stärker anschwellenden Zahl von Menschen. (Eigens befragte Soziologen diskutierten darüber, wie sich das, was sich in der Stadt abspielte, besser benennen ließe, aber es fiel ihnen nichts ein. Massenwahn war zu negativ. Die Leute taten ja nichts Böses. Sie gingen einfach durch die Stadt, die Köpfe gesenkt, blind und taub für alles um sie herum. Das Wort „Lemminge“ wurde – noch – nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Dann bekamen auch die Soziologen Anrufe unbekannten Inhalts, warfen sich ihre Jacken über und verließen ihre Arbeitsplätze, womit das Problem der Begriffsfindung erstmal auf Eis gelegt war.) Die Abnormität betraf, außer den eingangs erwähnten Über-Siebzigjährigen, alle Altersstufen, man sah selbst Kindergartenkinder auf den Straßen herumstolpern. Weder machte sie einen Unterschied zwischen den Geschlechtern, dem sozialen Status noch der Herkunft. Es war eine große, alle einende Lemmingwanderung. Entschuldigung, Verhaltensabnormität. Am frühen Nachmittag, als bereits mehr als ein Viertel der Bevölkerung ferngelenkten Puppen gleich durch die Stadt irrte, beorderte der Polizeipräsident jeden verfügbaren Beamten auf die Straßen, um die Menschen davor zu bewahren, vor Autos oder Busse zu laufen. Innerhalb kürzester Zeit meldeten sich auch diese Frauen und Männer nicht mehr, aber das Problem erledigte sich, bevor jemand zu Schaden kam, auf unerwartete Weise: Die Fahrer stellten ihre Autos ohnehin einfach dort ab, wo sie gerade Platz fanden, verließen ihre Fahrzeuge und folgten den geheimnisvollen Anweisungen ihrer Smartphones.


    Die Dunkelheit brach herein. Die Stadt kam komplett zum Erliegen. Aus der Stimme des Polizeihubschrauber-Piloten war deutlich seine Verwunderung, beinahe Ehrfurcht herauszuhören, als er die Beschreibung der tief unter ihm stattfindenden Ereignisse ins Funkgerät sprach. Gegen 20 Uhr begannen die Menschen sich zu formieren und sternförmig auf den zentralen Platz der Stadt zuzugehen. Alle hatten ihre Handys in Berieb, und es waren so viele, dass der Pilot das blaue Glimmen der Displays bis hinauf zu seinem Hubschrauber sehen konnte. Auch sah er, dass die Menge langsam ins Stocken geriet, weil die Straßen komplett mit parkenden Autos und Hunderttausenden Menschen verstopft waren. Verwundert berichtete er, dass trotzdem keine Panik ausbrach, fragte aber trotzdem, ob bereits der Notstand ausgerufen worden sei. Eine Antwort bekam er nicht, denn niemand war mehr da, der seine Funksprüche abhörte. Ein Mobiltelefon, mit dem er seine Kollegen oder Familie hätte anrufen können, trug er aus naheliegenden Gründen nicht bei sich. Der Bürgermeister und der Polizeipräsident waren zu diesem Zeitpunkt übrigens auch für die Wenigen, die noch nicht im Banne ihrer Handys unterwegs waren, nicht mehr auffindbar.


    Gegen Mitternacht ging gar nichts mehr. Die Menschen standen in dichten Klumpen in den Straßen und auf Plätzen und starrten in ihre Smartphones, deren Akkus wundersamerweise bisher nicht bei einem einzigen den Dienst versagt hatten. Sie sprachen nicht, nahmen nichts um sich herum wahr, stierten nur auf die flackernden Displays. Eine gespenstische Ruhe hatte sich über die Stadt gelegt. Dann gingen alle Handys gleichzeitig aus.


    Einen kurzen Moment hielt die ganze Stadt den Atem an, dann setzte leises Gemurmel ein. Die Menschen drückten hektisch auf die Tasten, versuchten, ihre Telefone wieder zum Leben zu erwecken, doch die Displays blieben schwarz. Schwarz, kalt und leblos.


    Niemand konnte später sagen, wer als erstes aufblickte, aber einer tat es. Vielleicht war es der junge Mann mit den wilden blonden Locken. Er sah die zusammengedrängten Menschen und wurde sich plötzlich ihrer Nähe bewusst, ihrer Wärme. Er blinzelte, versuchte sich zu erinnern, wie er hierher gekommen war. Kniff sich, um aus dem bizarren Traum aufzuwachen, aber alles blieb, wie es war. Um ihn herum standen Frauen, Männer, Kinder und hackten wie wild auf ihren toten Telefonen herum. Was war hier los? Dann bemerkte er den Schein, der sich über die Menschenmenge und die Gebäude ergoss, kaum wahrnehmbar erst, dann immer deutlicher. Er legte den Kopf in den Nacken und riss die Augen auf. Direkt über der Stadt stand ein riesiger Stern und verzauberte die Welt mit seinem Glanz.


    Der junge Mann begriff.


    Spontan umarmte er eine neben ihm stehende ältere Dame und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie stutzte, sah zum Himmel. Ein ergriffenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, dann zupfte sie am Ärmel des jungen Punk-Mädchens neben sich, und die wiederum drückte einem überraschten Rentner einen Kuss auf die Wange. Innerhalb kürzester Zeit hatten all die Hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen, den Blick zum Himmel gehoben. Lagen sich in den Armen, lachend, weinend, und fragten sich, was da nur passiert war.


    Unbemerkt von den fröhlichen Menschen hatten sich sämtliche Telefone wieder eingeschaltet. Sechs Worte leuchteten in warmem Gelb auf jedem einzelnen der Displays.


    Frohe Weihnachten, und Friede auf Erden.

  • 20. Dezember 2015 von Johanna


    Elias


    In der Großstadt fällt man nicht so sehr auf, fühlt sich unabhängiger. Nur zwei der Gründe, weshalb Susanna es vorzog, in Hamburg zu leben.
    Damals der Kleinstadtgemeinde in Niedersachsen entflohen, machte sie hier eine Ausbildung zur Arzthelferin, arbeitet einige Jahre in ihrem Beruf bis sie das Gefühl bekam, nochmals studieren zu wollen.
    Gedacht – Umgesetzt.


    Nun war sie bereits im 6. Semester des Medizinstudiums am UKE, das ihr viel Spaß machte, sie erfüllte, sie allerdings auch unter Geldmangel leiden ließ.
    So daß sie fast jeden Job annahm, der sich mit dem Studium vereinbaren ließ.


    Dieses Jahr sollte sie eine Art Christkind darstellen. Ihre Aufgabe war es, jeden Adventssonntag und am Heiligabend auf der Kinderstation die kleinen Kranken etwas abzulenken und ihnen ein paar schöne Momente zu bescheren.


    Ihr Kostüm stellt die Krankenhausverwaltung, die ebenso die kleinen Naschereien besorgte, die sie in ihrem Korb mit sich trug.
    So fand sie sich am 1. Advent auf der Kinderstation ein und viele Kinderaugen starrten sie erwartungsvoll an. Sie nahm den Korb und verteilte die darin enthaltenen Leckereien an die Kinder, die sie neugierig entgegennahmen.
    Sofort war ein freudiges knuspern zu hören, als sich die Kinder über die Kekse, Schokoladenkugeln, Nüsse und Orangen hermachten.


    Anschließend setzte sie sich und begann einige Märchen aus einem dicken Märchenbuch vorzulesen, denen die Kinder kochkonzentriert lauschten.
    Besonders stach ihr ein kleiner, etwa 5 jähriger Junge, ins Auge der offensichtlich Brandverletzungen davongetragen hatte.
    Bei ihm hatte sie fast das Gefühl, er lausche am andächtigsten und sie fühlte sich auf eine Weise , die sie sich nicht erklären konnte, zu ihm hingezogen.



    Dieses Jahr kam sie wohl nicht darum herum, an Weihnachten nach Haus in ihre kleine Heimatstadt zu fahren.
    Die letzten beiden Jahre hatte sie es erfolgreich vermeiden können, indem sie freiwillig die Nachtdienste über die Feiertage im Krankenhaus übernahm.
    Dieses Mal nahmen die Eltern ihr das aber nicht mehr ab und bedrängten sie, doch endlich wieder einmal nach Hause zu kommen und mit der Familie zu feiern.
    Obwohl ihr davor graute, hatte sie sich diesmal überreden lassen, Heiligabend am Abend anzureisen.
    Sie haßte es, sich mit ihren Geschwistern messen zu müssen, die allesamt Familie hatten, wenn nicht verheiratet, dann immerhin verlobt. Zu ihren Nichten und Neffen hatte sie daher wenig Kontakt.
    Jedesmal diese unangenehmen Fragen, denen sie sich ausgesetzt fühlte; wann sie denn endlich einmal gedenke eine Familie zu gründen. Sie würde ja auch nicht jünger werden, es könne doch nicht normal sein, das Alleinsein vorzuziehen und so weiter.
    Sie wand sich, wenn sie an die Fragen und indirekten Vorwürfe dachte und verdrängte die unangenehmen Gedanken schnell wieder.



    Am 2. Advent schlüpfte sie wieder in die Rolle des Christkindes.
    Erneut strahlten Kinderaugen sie an, leicht ängstlich, überrascht, erwartungsvoll. Einige waren bereits entlassen, dafür waren neue kleine Patienten hinzugekommen.
    Auch Elias, so hieß der kleine Junge mit den Brandnarben, wie sie mittlerweile herausbekommen hatte, war erneut dabei.
    Wieder wirkte er völlig versunken in die Geschichten, die Susanna den Kindern vorlas. Sagte kaum ein Wort, aber diesmal setzte er sich direkt neben Susanna.


    Am 3. Advent dachte sie direkt an ihn, bevor sie auf die Kinderstation ging, fragte sich, ob er noch dort sei.
    Er war dort und stand schon direkt an der Tür und guckte erwartungsvoll, als würde er sie erwarten.
    Als sie eintrat, stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht und diesmal kuschelte er sich direkt an sie beim zuhören der Märchen.


    Als später die Oberschwester eintrat und das sah, meinte sie überrascht, „das macht er sonst nie. Er ist sehr verschlossen und läßt kaum jemanden an sich heran.“
    Susanna fragte, was denn genau mit Elias passiert sei, daß er noch immer hier sei, obwohl seine Narben mittlerweile immer besser wurden Ob ihn denn seine Eltern nicht abholen wollten?
    „Er hat keine mehr“ erwiderte die Schwester.
    Seine Brandverletzungen stammen von einem Autounfall, bei dem er mit seinen Eltern unterwegs war und den er als einziger überlebte.
    Wir bringen es einfach nicht übers Herz, ihn ins Waisenhaus zu übergeben, auch wenn seine äußeren Verletzungen am abheilen sind.
    Wenigstens bis Weihnachten möchten wir ihn hierbehalten.“


    Susanna schluckte, bedankte sich bei der Oberschwester und verabschiedete sich bis nächste Woche.


    Am 4. Advent wich Elias ihr fast schon nicht mehr von der Seite und sprach sie auch das erste Mal schüchtern an. Sie unterhielten sich ein wenig und nach einiger Zeit erzählte er ihr in stockenden Worten von dem Unfall und wie sehr er seine Eltern vermißt.
    Sehr nachdenklich, fast schon traurig, ging Susanna nach Hause.


    Als sie am Heiligabend in ihrem Christkindkostüm erschien, wartete Elias wieder auf sie und wirkte gleichzeitig sehr erfreut aber auch etwas melancholisch.
    Susanna war klar, woran das lag, sagte aber erst einmal nichts. Ihr selber ging es merkwürdigerweise auch sehr nahe, daß sie Elias nach diesem Tag nicht wiedersehen sollte.


    Ganz plötzlich, wie eine Eingebung, überkam sie die Idee, Elias über die Weihnachtsfeiertage mitzunehmen.
    Sie besprach sich mit dem behandelndem Arzt, der die Idee positiv auffaßte und ging Schnurstraks zurück in das Zimmer von Elias und fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, ein paar Tage mit ihr bei ihrer Familie zu verbringen.
    Das Strahlen des Jungen entschädigte sie für sämtliche Zweifel, die sie insgeheim doch über ihren verrückten Einfall hatte.
    Nach der Bescherung auf der Kinderstation, diesmal erhielten alle Kinder jeweils ein kleines Geschenk, packte sie mit Elias seine Sachen zusammen und beide machten sich auf den Weg zum Bahnhof.


    Als sie in Susannas Elternhaus ankamen, waren die Eltern zwar kurz überrascht, nahmen Elias aber wie selbstverständlich auf. Susannas Geschwister nebst Anhang und Kindern waren bereits dort und ihre Neffen und Nichten nahmen Elias gleich neugierig in Beschlag, zeigten ihm das Haus und spielten mit ihm.


    Der Abend verlief ungewohnt angenehm für Susanna, ohne nervende Fragen oder verdeckte Vorwürfe. Sie fühlte sich tatsächlich wohl in ihrem alten Zuhause, etwas, das sie nicht mehr erwartet hatte.
    Als sie Elias sah, der beinahe glücklich wirkte, wußte sie, daß sie das richtige getan hatte.


    Wie es weitergehen würde, wußte sie nicht. Adoptionen waren nicht leicht für Alleinstehende. Aber das war heute nicht wichtig, sie wußte nur, daß sie immer auf irgendeine Art und Weise für Elias dasein wollte und sich ein Weg finden würde.