• Broschiert: 464 Seiten
• Verlag: Diogenes; Auflage: 3 (26. August 2015)
• Sprache: Deutsch
• ISBN-10:
ASIN/ISBN: 3257300204 |
• ISBN-13: 978-3257300208
• Originaltitel: The Marrying of Chani Kaufman
Kurzbeschreibung (Amazon)
Sie haben sich dreimal gesehen, sie haben sich noch nie berührt, aber sie werden heiraten: die neunzehnjährige Chani Kaufman und der angehende Rabbiner Baruch Levy. Doch wie geht Ehe, wie geht Glück? Eine fast unmögliche Liebesgeschichte in einer Welt voller Regeln und Rituale. Das freche und anrührende Debüt von Eve Harris.
Über die Autorin
Eve Harris, geboren 1973 in London, Tochter polnisch-israelischer Eltern, arbeitete zwölf Jahre als Lehrerin, darunter an katholischen und jüdisch-orthodoxen Mädchenschulen in London und Tel Aviv. ›Die Hochzeit der Chani Kaufman‹ ist ihr erster Roman; er schaffte es auf die Longlist des renommierten Man Booker Prize 2013 und war Finalist bei den National Jewish Book Awards 2014. Eve Harris lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London.
Meine Meinung
„Die Hochzeit der Chani Kaufmann“ ist eines der besten Bücher, das ich in diesem Jahr lesen durfte, absolut großartig! Ich hoffe sehr, dass die Autorin ihrem Debüt-Roman noch viele ähnlich lesenswerte folgen lässt.
Sie öffnet hier die Tür zu einer Welt, von der man sich kaum vorstellen kann, dass sie auch heute, und noch dazu in einer Metropole wie London, existiert. Zeitweise hab ich mich gefühlt wie in einem Paralleluniversum. Ich kann mich nicht erinnern, jemals derart intensiv in das jüdisch-orthodoxe Leben eingetaucht zu sein. Wenn überhaupt, dann eher in einem historischen Roman.
Die Geschichte beginnt mit dem Tag der Hochzeit von Chani und Baruch und gleich zu Anfang wird eine erwartungsvolle Spannung um deren Hochzeitsnacht aufgebaut. Für beide, da streng jüdisch-orthodox aufgewachsen und erzogen, ein Mysterium, ersehnt und gefürchtet zugleich. Wie wird diese erste intime Begegnung zwischen den beiden jungen Menschen verlaufen, die ihre Hochzeit gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt haben, und derer gab es einige. Und je näher man Chani und Baruch kennenlernt, desto gespannter sieht man diesem „Event“ entgegen, aber man muss Geduld mitbringen, es dauert ;-).
Im weiteren Verlauf geht die Autorin immer wieder zurück in der Zeit, berichtet aus dem familiären Umfeld der beiden und rekapituliert den nicht ganz unkomplizierten Verlauf dieser Beziehung. Dabei erheitert sie ihre Leser mit kleinen Anekdoten. Eine meiner liebsten ist diejenige, als 100 jüdisch-orthodoxe Mädchen bei einem Ausflug nach Cornwall versehentlich von ihrer Lehrerin zu einem FKK-Strand geführt werden – herrlich. Ratet, welches Mädchen als einziges sehr genau hinschaut, gerade auf männliche Wesen *g*. Ihre Gedanken in dieser Szene waren - :rofl.
Rebecca/Rivka, die Frau von Rabbi Zilberman, soll Chani auf die Ehe vorbereiten, steckt jedoch selbst in einer tiefen Krise. Als sogenannte säkulare Juden, weltoffen und religionskritisch erzogen, haben sie und ihr Mann Chaim sich in Jerusalem kennengelernt und waren sogleich verzaubert, von der Stadt und von einander. Chaim fühlte sich zunehmend von dem streng orthodoxen Glauben angezogen. Rebecca verspürte zwar eine gewisse Faszination, hat sich aber letztlich nur aus Liebe zu Chaim für die enge Welt des orthodoxen Lebens entschieden. Nun ist sie schon lange seine „Rebbetzin“, doch trägt ihre Liebe noch angesichts der Probleme in ihrer Familie?
Die Autorin sieht sehr genau hin, spricht offen über Tabuthemen, die gerade junge orthodoxe Juden beschäftigen oder bedrücken. Deren Nöte und Gefühle schildert sie ebenso glaubwürdig wie einfühlsam. Sie tut das in wunderschöner Sprache mit feinem Humor und oft sehr bildhaft. So schreibt sie einmal über Chanis Vater und dessen Zerstreutheit angesichts seiner immer zahlreicher werdenden Familie: “Er irrte durch das Haus im Nebel seiner nicht enden wollenden Vaterschaft“, irgendwie tragisch und humorvoll zugleich :-). Man begegnet in diesem Buch einer Vielzahl von beeindruckenden Sätzen und einen möchte (muss) ich noch zitieren: „Er war ihr Freund, ihr Liebhaber und ihr Partner. Es fühlte sich an, als stürzte sie in ein warmes Meer und stellte fest, dass sie schwimmen konnte“.
Viele Dinge, wie z. B. die Riten anlässlich der Eheschließung, lassen einen beim Lesen grinsen, noch öfter aber entsetzt oder ungläubig aufseufzen. Unfassbar, auf gewisse Weise aber auch anrührend, wie sehr diese Menschen, insbesondere die Rabbiner-Familien, ihren Traditionen bis heute verhaftet sind. In einem bis ins kleinste durch die Religion reglementierten Leben gefangen und geborgen zugleich. „Ein Leben ohne Chaos“ und „ein Gefühl der Zugehörigkeit“, die Gewissheit „Teil eines Ganzen“ zu sein. Diese Werte sollte man nicht unterschätzen. Was macht glücklich…? Unser heutiges freies Leben mit seinen vielen Möglichkeiten, bietet dafür keine Garantie, warum sonst sind so viele Menschen davon überfordert und/oder auf Sinnsuche.
Eve Harris erfüllt all ihre Figuren, in den Haupt- wie in den Nebenrollen mit einer warmherzigen Lebendigkeit ohne zu verdammen oder zu beschönigen.
Dieser Roman ist großartig erzählt, scharfsinnig, mit augenzwinkernder Ironie und feinem Humor. Er ließ mich staunen und schmunzeln und von Anfang bis Ende nicht mehr los.
Von mir gibt es dafür alle 10 Eulenpunkte.