Sven Fennema (Fotos), Petra Reski (Text): Nostalgia - Orte der verlorenen Zeit, Gilching 2015, Frederking & Thaler Verlag, ISBN 978-3-954161867, Hardcover, Leineneinband mit goldfarbener Prägung, 320 Seiten, rund 240 großformatige Farbfotos auf hochwertigem Papier, Format: 29,9 x 3,8 x 37,6 cm, EUR 98,00.
Mir geht es wie dem Fotografen dieses Bildbands: Ich bin fasziniert vom morbiden Charme verfallender Gebäude. Wenn die Natur sich das Menschenwerk Schritt für Schritt wieder zurückholt, bedauere ich zwar, dass man das schöne Objekt nicht restaurieren und retten konnte oder wollte, kann mich aber dem gespenstischen Zauber des Zerfalls nicht entziehen.
Historische Gebäude in verschiedenen Stadien des Verfalls
Vor Jahrzehnten schon habe ich davon geträumt, in Ruinen herumzuklettern und dort Fotos zu machen. Insbesondere in Andalusien gab es viele verlassene Wohnhäuser und Gehöfte, die mich interessiert hätten. Irgendwie ist es aber nie dazu gekommen. Wahrscheinlich ist es sowieso besser, so ein Projekt Leuten zu überlassen, die etwas davon verstehen. Und die italienischen Villen und Paläste, Kirchen, Klöster und Nobelhotels, Industriehallen, Krankenhäuser und Anstalten, wie Sven Fennema sie fotografiert, sind zweifellos lohnendere Motive als zerbröselnde spanische Bauernhäuser.
Heute nennt man die aufgelassenen Gebäude „Lost Places“ und die Leute, die (meist illegal) darin herumkrabbeln und sich intensiv umschauen „Urban Explorers“. Dass es tatsächlich eine Szene gibt, die meine Vorliebe für Ruinen in verschiedenen Stadien des Verfalls teilt, ist mir erst bewusst geworden, seit ich bei facebook aktiv bin.
Jetzt gibt’s mit NOSTALGIA ein hochedles Coffee Table Book für die Liebhaber dieses Sujets. Das Buch ist wirklich ein Riesending, deutlich größer noch als ein Schulatlas. Ich habe den Bildband auf der Personenwaage gewogen: Er wiegt vier Kilogramm. Und er bietet ordentlich was zu gucken: Szenarien wie aus einem Gruselfilm sowie Aufnahmen von einstmals prachtvollen Immobilien, bei denen man sich fragt, warum um Himmels Willen man die derart hat verkommen lassen. Bei manchen ahnt man, dass sie eine tolle Lage an einem See oder in den Bergen haben müssen. Das verrät schon ein Blick aus dem Fenster.
Die Lage der Lost Places bleibt geheim
Weitere Details erfährt man meist leider nicht. Um die Gebäude vor neugierigen Besucherhorden, Plünderern und dergleichen zu schützen, verrät der Fotograf nicht „wo sich die Schätze befinden, die er nach einer aufwendigen Suche in Archiven, auf alten Postkarten und anderen verschlungenen Wegen gefunden hat. Mit seinen Bildern erweckt er diese Orte mehr zum Leben, als es eine gut gemeinte, aber schlecht ausgeführte Instandsetzung vermag.“ (Seite 23/24)
Gut, okay, das leuchtet irgendwie ein. Aber damit fallen alle die Informationen weg, die mich hauptsächlich interessiert hätten: ein bisschen was von der Geschichte der maroden Immobilie und historische Abbildungen, auf denen man sehen könnte, wie das Objekt ursprünglich mal ausgeschaut hat. Das gibt’s hier alles nicht. Die Bildunterschriften sind bewusst vage gehalten und steigen jeweils mit einem italienischen Stichwort ein. Ja, sicher, die Fotos sind allesamt in Italien aufgenommen worden. Aber dass man Lost Places mag, setzt ja nicht automatisch voraus, dass man Italienisch versteht. Und so wirkt das italienische Wortgeklingel ein ganz klein wenig bildungsbürgerlich-angeberisch: „Ätsch, ich spreche die Landessprache – und du nicht!“
Die Begleittexte spiegeln die Stimmung der Fotos wider
Die Texte, die Petra Reski den einzelnen Kapiteln voranstellt, passen schon irgendwie zum Thema. Mal sind’s ihre eigenen Assoziationen zu den Bildern, mal kleine Szenen, die sich in Gemäuern wie diesen abgespielt haben können. Ob das auf realen Ereignissen basiert oder ob die Szenen der Phantasie der Autorin entstammen, bleibt offen. Manche der Texte lesen sich wie Auszüge aus einem Roman. Sie spiegeln perfekt die melancholische Stimmung der Aufnahmen wider. Ergänzende Informationen dürfen sie nur in wenigen Ausnahmefällen liefern. Das finde ich, wie gesagt, schade. Aber im Grunde wirken die Bilder auch ohne Text. Es gibt Aufnahmen von unwirklicher Schönheit, die man sich gerne gerahmt an die Wand hängen möchte, Bilder von traumhaften Objekten die man am liebsten herrichten und beziehen würde und solche, die bestens dazu geeignet sind, einem nachts in den Albträumen zu erscheinen.
Schön, dass man sich dazu entschieden hat, das Schloss Rocchetta Mattei in der Emilia Romagna zu sanieren. Zu diesem Objekt darf die Autorin in ihren Texten auch ein paar harte Fakten liefern. Das Schlösschen ist eine ziemlich kitschige Anlage im maurischen Stil, die eigentlich gar nicht in die Landschaft passt. Die hauseigene Kapelle erinnert an die Mezquita (einst Moschee, heute Kathedrale) von Cordoba. Dieses Schloss würde ich mir wirklich gern nochmal ansehen, wenn sie es wieder hergerichtet haben. Ob’s an Charme verliert, wenn’s nicht mehr so vergammelt ist? Das wäre durchaus möglich.
Ein bisschen verrückt ist es natürlich schon, fast 100 Euro für ein Buch auszugeben. Das macht man auch nur bei absoluten Lieblingsthemen – wenn sie einem so brillant und opulent präsentiert werden wie in diesem Bildband.
Der Fotograf
Sven Fennema, 1981 geboren, kam 2007 als Autodidakt zur Fotografie und nimmt seit 2009 an nationalen und internationalen Ausstellungen und Publikationen teil. Viele Reisen führten ihn zu verlassenen Orten in ganz Europa. Für seinen ersten groß angelegten Bildband »Nostalgia« recherchierte er im Norden Italiens. Seine Bilder werden auch von der Galerie Lumas vertreten. Er lebt in Krefeld.
Die Autorin
Petra Reski ist Journalistin und Schriftstellerin und lebt in Venedig. Seit 1989 schreibt sie über Italien, nicht nur Reportagen und Sachbücher, sondern auch Romane. Einer ihrer Themenschwerpunkte ist die Mafia.