Manfred Spitzer - Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert.
Ich sah dieses Buch so unschuldig in der Athesia in Meran liegen, und musste es sofort haben. Die Selbstdiagnose fiel sehr leicht, denn ich kenne das beschriebene Problem seit ich vor fast zwanzig Jahren auch privat online ging, und ehrlich: wer von uns kennt es nicht?:
Irgendwie wird die Freizeit aus einem Grund immer knapper; wenn man sich Dinge nicht aufschreibt, merkt man sie sich nicht mehr, man ist beständig abgelenkt und schnell irritiert, man ist müde und unkonzentriert, und abends kann man doch nicht einschlafen, weil man irgendwie zu aufgekratzt ist und nicht mehr runter kommt.
Da ist etwas falsch: Jede halbe Stunde schaut man auf das blautaglichtige Handy, ob sich irgendwas getan hat, in der Angst, etwas nicht mitzukriegen; man hockt für Stunden verkrampft vor dem Computer, man sollte eigentlich Arbeiten, aber irgendwie kommt man - pling - Sie haben eine Mail - nicht weiter; zwischendurch schiebt man sich schnell ein Brötchen, Banane, Apfel und vielleicht noch einen Müsli- oder Schokorigel rein, denn das Kochen dauert viel zu lange, die Tiefkühlpizza verbrennt im Backrohr / das Mikrowellenessen wird im Herd kalt, weil... es ist jetzt grad keine Zeit, die Mail muss fertig geschrieben werden; ach, das Spiel da wollte ich auch ausprobieren! - man leert Kaffe und Teetassen völlig unbewusst, denn man braucht was gegen das Kopfweh und zur Konzetration, und noch eine Schoggi oder gleich etwas mit noch mehr Zucker, (etwa Gummibärchen - warum ist der Sack denn schon leer? Ich hab doch gar nicht?) denn der Geist sollte wach bleiben, rasch auf Monster reagieren, oder schnelle Antworten in fünf gleichzeitig geführten Diskussionen finden; der Nacken schmerzt, die Augen tun weh, der Mausfinger ebenso...
Man ist cyberkrank,
- wenn man ein Computerspiel anfängt, und es drei, vier Stunden später eigentlich schon spät genug für's Bett wäre, aber: ach, nö, bin grad so munter, der nächste Level geht noch...
- wenn die Diskussion in den vier Threads und im Chat sich schon über Stunden hinzieht, sich teilweise im frustrierenden Kreis dreht, aber im anderen Fenster ist die Gruppenspielaktion im Onlinegame noch nicht vorbei, und die fünfte Diskussion ist wirklich gut, denn die eine Studentin da in New York, und die andere in Buenos Aires sind wirklich schlagfertige und witzige Personen, die in Madrid auch, aber die meint schon seit einer Stunde, sie ist müd und will eigentlich ins Bett... - Ich muss noch auf den anderen Administrator warten, damit er die Diskussionsleitung von mir übernimmt, aber der Australier steht erst in einer Stunde auf...
- Oh, und der Chef wollte vorhin, vor fünf Stunden, dass ich die Mails da heute abend noch schnell checke und beantworte, drum hab ich mich ja eigentlich erst hergesetzt... - verdammt, die Patience die ich beim Warten auf die Antwort im offenen Fenster vergessen habe, geht so nicht auf...
- Ah, und jetzt smst auch noch die Arbeitskollegin, ob das mit dem Abholen morgen um 7h früh eh klar geht. Sie weiß, es ist schon spät, aber sie hat gesehen, dass ich auch noch online bin, und ist genauso schlaflos, aber ob ich das witzige Video da mit den beiden Hunden schon gesehen hätte... sie redet im Chat grad mit einer anderen Freundin, die ich ja auch kenne... was!? warum bin ich mit der noch nicht befreundet, wir haben uns doch schon mindestens dreimal gesehen... und sie lädt mich zu dem neuen Facebook-spiel ein...
- Und weil einem plötzlich beim chatten nicht mehr einfällt, wie der Käfer-kerl bei Kafka eigentlich geheissen hat, Georg Hamster? So ähnlich war's doch? Gregor Homsa? War der andere, oder? - Ach, was, grüble nicht lange nach, befrag Wiki! - Wiki weiß, was ich eigentlich eh, wusste, nur nicht mehr fand: Gregor Samsa.
- Und es ist schon ein Uhr früh... halb zwei, um genauer zu sein... und um halb sieben muss ich auf...
- Gottseidank ist bald Wochenende, dann kann ich dann endlich wieder einmal bis zum späten Nachmittag durchschlafen.
Spitzer, der schon vor 20 Jahren berechtigte Bedenken über Fernseher im Kinderzimmer und die unausweichliche Herz- und Leberverfettung der kleinen colatrinkenden Chipsfressmaschinen hatte, findet es sei eindeutig noch viel schlimmer geworden, und diagnostiziert uns und unsere nachwachsende Generation - wenig überraschend - als krank.
Was tun wir da eigentlich? Warum tun wir das? Unser Belohnungssystem läuft auf Hochtouren, weil das Pling-ding (so nenn ich alles, was Facebookmeldungen/sms mit Geräusch anzeigt) oder das Wisch-ding (MagMatisch für alle Touchscreen i-Dinger) uns sofort Feedback gibt, und uns beständig zum 'Daddeln' (so sagt Spitzer) auffordert.
Manfred Spitzer macht sich keine Sorgen um uns 'Erwachsene', obwohl unter den 400 von ihm zitierten Studien des Problems zwei Manager und Angestellte, also Erwachsene, betreffen; er denkt, wir Älteren erkennen noch, was da mit uns läuft, und haben (meistens) die mentale Kraft und Festigkeit festzustellen: es reicht, jetzt ist Feierabend, und das Ding einfach auszuschalten, wegzulegen.
Seine Sorge gilt den Kindern, deren körperliche Bewegung eingestellt wird, wenn sie gebannt auf den blauen Schirm starren, deren Gehirne nach Energiespendern schreien, um Aufmerksam zu bleiben, und die dabei immer fetter und kränker werden, Herz-/Kreislaufprobleme, Diabetes 2, Krebs. Und auf dem Weg dahin: nachts Schlaflosigkeit und unkontrollierte Fressattakken, Unfähigkeit Gelerntes zu rekapitulieren und verknüpfen, tagsüber mit dem Schwinden direkter sozialer Kontakte einhergehend: Vereinsamung, Depressionen, Tagesmüdigkeit, Heißhunger auf Süßes, Aufmerksamkeitsdefizit, Ungeduld, Aggressivität und Empathielosigkeit. - Ganz zu schweigen von den schlechten Schulnoten und der zweiten Ehrenrunde in der selben Klasse.
- Schreiben wird in den Schulen durch Tippen ersetzt, um den digitalen Feinmotorikkrüppeln entgegen zu kommen und Orthographie wird allgemein unpopulärer (denn was soll der Scheiss, es ging ja auch vor Grimm's Wörterbuch, die Inventare und Archivalien aus dem 15.-18 Jhd lassen sich ja auch mit etwas Phantasie lesen, denkt sich zumindest MagMa immer) - [Der zukunftsträchtig-rechtschreibreduzierende Epilog aus Kapitel Neun ist sehr lesenswert - mir fiel im ersten Drüberfliegen vor der Smiley-/Dingsymbolzeile gar nicht auf, dass da in jedem Absatz ob möglicher Vereinfachungen mehr fehlt; ich bin cyber-geeicht und musste es zweimal genauer lesen, bevor ich es überhaupt mitbekam :lache]
(Übrigens: nur vier Tätigkeiten verbrauchen weniger Muskelaktivität als 'Ausruhen': Telefonieren, LESEN :wow, Computer und der Tiefpunkt - kurz vorm dazugehörigen Schlaf: TV.)
Spitzer hat sich die Mühe gemacht, die Erkenntnisse von 400 Studien aus aller Welt zusammen zu fassen. Seine Gegner, sagt er, können nur 13 Studien - und immer dieselben - zitieren, die FÜR die Smartphonisation, Tabletisierung und das Net und Computerspiele sprechen (Interessanterweise ist das Net wirklich gut für bewegungseingeschränkte Senioren, und hält deren Geist - auf einem niederen Level - rege). - Am Vernichtendsten sind die Studien, die von Marketing-experten und der Werbebranche selbst kommen, und sich so salopp formulieren: Wir Computer-Menschen hätten inzwischen nur noch eine Aufmerksamkeitsspanne von 8 Sekunden - wie ein Goldfisch. Spitzer meint, so krass ist es nicht, so blaue Schirme können die Evolution nicht umdrehen, aber wir verlieren viele Fähigkeiten, die uns eigentlich zum Menschen machen, und unsere Gesundheit nebenher, vor allem bei Kindern öffnen und schliessen sich Fenster in der Gehirnentwicklung, und was an Zeit, die zum Erlernen dieser Fähigkeiten nötig gewesen wäre, aber vor dem Schirm verloren ging, ist unwiederbringlich dahin, und kann später nicht mehr nachgeholt werden.
Ein Buch, das uns Älteren Usern nur mit Daten zeigt, was wir schon aus kritischer Selbstbeobachtung ahnen/wissen: Einfach abschalten, wenn es zu viel ist, eine Runde Jogging oder sonst einen Sport oder einfach nur mit Freunden face-to-face abhängen, um sich sozial und mitmenschlich aufzutanken.
Ein Buch für Eltern, die glauben, dass man einfach mit der Zeit gehen muss, wenn man dem Kind zu Weihnachten ein Smartphone schenkt, oder denken, ein Touchscreen über der Wiege sei gut, weil es das Baby beschäftigt und weitgehend still hält. - Spitzer meint, das glaubten frühere Eltern auch vom schnapsgetränkten Mohnschnuller, den heute keiner mehr seinem Kind in den Mund stecken würde.
So, das ist jetzt nicht wirklich eine Rezi, aber ich denke, dieses Buch ist wichtig: es sollten alle gelesen haben, um danach nicht sagen zu können: wir haben das nicht gewusst / es ist uns nie bewusst geworden.
Und ja: man kommt aus der Anspannungstretmühle heraus. Total-verzicht ist illusorisch, dafür haben diese Dinger inzwischen viel zu viele Alltagsfunktionen übernommen. Aber ich selbst habe mir meine Computer-/ und Onlinezeit inzwischen scharf reglementiert (Ok, mit dem Tippen von diesem Text habe ich sie schon wieder überschritten), habe Schirm-Knabbereien auf Beeren und Nüsse reduziert, abgenommen und mache stattdessen abends Sport und schlafe wieder wesentlich besser. Nur mein Familien-Handy ist des Nachts noch an, aber die Nummer kennen nur Verwandte und die fünf engsten Freunde, und denen habe ich gesagt: ein Anruf oder eine SMS nach 21:30 heisst, dass jemand im Sterben liegt, sonst gibt es nichts, das nicht bis zum nächsten Tag warten kann, und wer sich nicht dran hält, dem wird die Freundschaft gekündigt.