Sandra Weihs: Des grenzenlose Und [14 bis 17 Jahre]

  • Sandra Weihs: Des grenzenlose Und
    Frankfurter Verlagsanstalt 2015. 192 Seiten
    ISBN-13: 978-3627002206. 19,90€
    Vom Verlag empfohlenes Alter: 14 - 17 Jahre


    Verlagstext
    Marie, achtzehn Jahre alt, von der Welt enttäuscht und Borderline-gestört, gehört nicht in dieses Leben. Sie hasst die Abende in der Wohngemeinschaft, an denen die Betreuerin die Mädchen an den Tisch der Gleichberechtigung lockt und mit ihnen über ihre Ängste sprechen möchte. Wann kapieren die bloß endlich, dass das Leben für WG-Mädchen kein Happy End bereit hält? Das nämlich, glaubt Marie, ist die bittere Wahrheit. Schlimmer noch als die WG-Sitzungen ist die Psychiatrie, dahin will sie auf keinen Fall zurück. Und so stimmt sie dem Kuhhandel zu, den ihr Therapeut Willi vorschlägt: Er sorgt dafür, dass sie nicht wieder in die Geschlossene kommt, sie dagegen verspricht, ihren Plan, sich das Leben zu nehmen, auf Eis zu legen – mindestens für ein Jahr. Und sie muss zustimmen, regelmäßig zu den Therapiesitzungen zu kommen. Dort trifft sie auf Emanuel, und obwohl sie Gleichaltrige aus Prinzip für notgeile Idioten hält, machen sie sein kreatives Fluchen und die karamelläugigen Blicken neugierig. Auf die Gefahr hin, dass sie es mit einem Psychopathen, Narzisst oder – noch schlimmer – Burn-out-Kandidaten zu tun hat, lässt sie sich auf einen Kaffee einladen. Und weil sie unter dem Zauber – oder Fluch – von Willi stehen, legen sie die Karten auf den Tisch, erzählen sich von ihrer Vergangenheit, ihren Gestörtheiten, sogar den geplanten Selbstmord erwähnt Marie. Emanuel wird hellhörig und sie treffen eine makabre Verabredung, die für beide anders ausgeht, als erwartet. Sandra Weihs' Romandebüt ist einfühlsam, tiefdüster und hochkomisch, eine Mischung, die nur selten gelingt, dann aber einen Zauber entfaltet, dem man sich schwerlich entziehen kann. In 'Das grenzenlose Und' begegnet der Leser hoffnungslos charmanten Charakteren und einer ungewöhnlichen Geschichte um Leben und Tod, die traurig, glücklich und nachdenklich zugleich macht.


    Die Autorin
    Sandra Weihs, 1983 in Klagenfurt geboren, studierte Sozialarbeit im städtischen Raum und lebt in Oberösterreich und Wien. Sie arbeitet mit sozial benachteiligten Kindern, Jugendlichen und Familien. Für ihr Debüt "Das grenzenlose Und" wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2015 ausgezeichnet. "Ein erstaunliches Debüt einer Dreißigjährigen: eine packende, ja beklemmend realistische, harte Erzählung über junge Menschen heute, in sehr direkter Sprache – es geht darin um den Tod, also auch und vor allem um das Leben." (Aus der Jury-Begründung zum Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung) 'Sandra Weihs ist eine Erscheinung. Einer dieser Rilke'schen Engel. Das Schreckliche und das Schöne in totaler gegenseitiger Bedingung. Vor ihr kann man sich nur verneigen.' (Andreas Maier)


    Inhalt
    Willi hat einen Deal mit Marie. Er hat sich dafür eingesetzt, dass sie trotz Selbstmordgefährdung wegen ihrer Borderline-Störung nicht stationär in der Psychiatrie behandelt wird, sondern in einer Jugend-Wohngemeinschaft leben darf, für die sie formal als 18-Jährige schon zu alt ist. Maries Anteil an der Vereinbarung: sie nimmt ihre Therapiesitzungen in Willis Praxis wahr und wird sich in dieser Zeit nicht das Leben nehmen, weil Willi sonst seine Zulassung verliert. Marie ritzt sich, zeigt weitere selbstzerstörerische Züge und ist deutlich auf der Suche nach ihrer eigenen Normalität. Wie sie sein muss, damit andere sie mögen und wie diese anderen Personen ticken, ist Marie aufgrund von Vernachlässigung in der Kindheit ein Rätsel.


    In Willis Praxis trifft Marie den ein paar Jahre älteren Emmanuel, der an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt ist. Auch Emmanuel will sterben, bevor er nicht mehr in der Lage sein wird, selbst über sein Leben zu entscheiden. Als wäre diese Besetzung nicht schon krass genug, liegt auch noch die Mutter von Maries Mitbewohnerin Amina im Sterben. Die Jugendwohngemeinschaft als Kulisse ist in gewohnter Form aufgestellt; die Sozialpädagogen halten sich prinzipiell für die Guten, die abwesenden Eltern der hier betreuten Jugendlichen treten in der Rolle der „Verantwortungslosen“ auf; denn ohne ihre sozialen Defizite wären Jugendliche und angestellte Betreuer nicht hier. Maries Zickzackkurs zwischen erwachsen sein Wollen und dem Bedürfnis nach Betreuung ist für verspätet Pubertierende nicht ungewöhnlich. Doch in Maries Fall ist das Schlingern zwischen Manipulation anderer und Sinnsuche nicht ungefährlich. Vor Maries Vereinnahmung war ich auf der Hut und diese Distanz zu ihrem Schicksal hat mir beim Lesen gutgetan.


    Willi hat sich für die therapeutische Marschrichtung entschieden, Marie allmählich vor Augen zu führen, dass sie kein Kind mehr ist und kindliche Manöver nicht mehr nötig hat. Für mich als Leser führte seine Haltung zu der Hoffnung, Maries schwere psychische Störung könnte tatsächlich eine Übergangsphase sein mit der Chance für sie, ihren Reifungsrückstand noch aufzuholen.


    Emmanuel plant derweil in allen Details sein Lebensende und konfrontiert Marie mit der Frage, was sie einmal hinterlassen möchte, vielleicht ein Graffiti? Ein faszinierender Wettstreit der Argumente zwischen zwei jungen Menschen entbrennt, die aus verschiedenen Gründen ihrem Leben ein Ende machen wollen. Auch das Rätsel wird schließlich gelöst, welche Bedeutung der Papierflieger auf dem Buchcover für Sandra und Emmanuel haben könnte.


    Fazit
    Die Begegnung zweier Jugendlicher, von denen einer unheilbar krank und der andere psychisch krank ist, gab es in der Jugendliteratur bereits in gelungenen und weniger gelungenen Varianten. Ganz im Gegensatz zu manch anderem Text, der Selbstmordpläne Jugendlicher thematisiert, hatte ich in Sandra Weihs Debütroman nie den Eindruck, dass Maries psychische Störung und ihre Selbstmordpläne idealisiert werden oder eine Triggerwirkung auf gefährdete Jugendliche haben könnten. Das Buch spricht jugendliche und erwachsene Leser auf sehr persönlicher Ebene an, je nachdem ob man sich mit einer der Personen identifizieren kann. Selbstironisch dem eigenen Berufsstand und seinen professionellen Worthülsen gegenüber schreibt hier spürbar jemand aus Erfahrung mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Als Debüt hat mich Sandra Weihs Buch sehr beeindruckt!


    8 von 10 Punkten