Richard Yates: Cold Spring Harbor
Deutsche Verlags-Anstalt 2015. 240 Seiten
ISBN-13: 978-3421046109. 19,99€
Originaltitel: Cold Spring Harbour (1986)
Übersetzer: Thomas Gunkel
Verlagstext
Das Porträt eines amerikanischen Sommers - ehrlich, bewegend, unsentimental
Charles und Grace Shepard leben in den 1940er-Jahren im Städtchen Cold Spring Harbor auf Long Island. Sie sorgen sich um Sohn Evan, der nach einer wilden Pubertät und einer früh gescheiterten Ehe nicht recht auf die Beine kommt. Da lernen sie zufällig Familie Drake kennen. Während die trinkfreudige Mutter Gloria Charles anhimmelt, der für sie den Lockruf des »alten Geldes« verkörpert, verliebt sich Evan in Glorias Tochter, die stille, schöne Rachel. Nach einer kurzen Verlobungszeit heiraten sie, doch das Haus in Cold Spring Harbor müssen sie sich mit Gloria teilen ...
Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend. Meisterhaft und mit nur wenigen Pinselstrichen gelingt es Richard Yates, »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ), psychologische Fallstricke, Lebenslügen und Selbstbetrug im Amerika der 1940er-Jahre aufzudecken – und dabei doch immer auch ein Herz für seine Figuren zu haben.
Der Autor
Richard Yates wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Wie Ernest Hemingway prägte Richard Yates eine Generation von Schriftstellern. Zuletzt erschien bei DVA der Roman "Eine strahlende Zukunft". Das Debüt "Zeiten des Aufruhrs" wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen von Regisseur Sam Mendes verfilmt. „Cold Spring Harbor“, zuerst veröffentlicht 1986, ist Yates‘ letzter vollendeter Roman.
Inhalt
Charles Shepard hat nach einem kurzen Kriegseinsatz sein Leben als Berufsoffizier auf amerikanischen Militärstützpunkten verbracht. Die Chance gemeinsam mit einem Freund ins Zivilleben zurück zu wechseln schlägt Charles (auch aus Rücksicht auf seine psychisch „labile“ Frau) zugunsten der Sicherheit im Staatsdienst aus. In den 40ern des vorigen Jahrhunderts ist Charles im Rang eines Captains (entspricht dem Hauptmannsrang der Bundeswehr) gerade aus der Armee ausgeschieden und mit Frau und Sohn nach Cold Spring Harbor auf Long Island gezogen. Charles Frau Grace hat sich schon immer wegen einer unklaren psychischen Erkrankung von der Welt zurückgezogen; den Haushalt erledigt zurzeit Charles. Der 1918 geboren Sohn Evan ist als gut aussehender Nichtsnutz bereits als Jugendlicher mit der Polizei in Konflikt geraten. Doch seit Evan sich für Autos interessiert und sein Talent als Schrauber entdeckt hat, besteht in seinem Leben Hoffnung auf eine Wendung zum Guten. Eine überstürzte Ehe aufgrund einer ungeplanten Schwangerschaft hat Evan bereits hinter sich. Charles ist im neuen Wohnort aufgrund seiner Army-Vergangenheit sofort ein angesehener Mann. Auf Long Island erwartet man von einem „Captain“ vermutlich automatisch den sehr viel höher besoldeten Rang eines Captains der Navy. Als Evan 1941 gemeinsam mit dem Vater seine zweite Frau kennenlernt, besteht wenig Anlass zur Hoffnung, dass der junge Mann inzwischen reif genug für eine Beziehung ist. Unlösbar wirkt der Konflikt, dass Evan ursprünglich für ein Maschinenbaustudium sparen will und beide Familien das Konzept einer berufstätigen Frau mit studierendem Ehemann nicht zu kennen scheinen. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verschärft sich die Situation der jungen Shepards weiter durch Charles fixe Idee, sein Sohn müsse in einer Stellvertreter-Rolle für ihn in den Krieg ziehen. Die Familie von Rachel Drake lässt sich indessen von einem durch sie selbst schöngeredeten Bild der Shepards als bedeutender Familie blenden, das der Realität nicht standhalten kann. Die Ehe zwischen Evan und Rachel dient beiden Familien als Rettungsring aus überaus bescheidenen Lebensumständen. Charles und Evan wirken dabei wie Schauspieler in nicht geprobten Rollen und in für sie viel zu großen Kostümen.
Auf wenigen Seiten skizziert Richard Yates sehr nüchtern und distanziert ein Familienszenario, das vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs ein gewaltiges Konfliktpotential birgt. Rachel und ihre Mutter Gloria fühlen sich von der Beziehung zu den Shepards in ihrer Bedeutung aufgewertet. Auch Evan fühlt sich erst durch Rachels Bewunderung als Mann. Beachtlich in einem so kurzen Roman fand ich die Nebenrolle des 16-jährigen Philip Drake, Rachels jüngerem Bruder, der eine eigenständige Beziehung zu Evan findet. Philip setzt im Roman die Reihe der Männer fort, die sich vom Militärdienst gesellschaftlichen Aufstieg und persönliche Reife versprechen. Der Junge dient Richard Yates aber auch dazu, die Klassenunterschiede zu den im Ort alteingesessenen Familien zu verdeutlichen und damit die Aussichtslosigkeit der Aufstiegspläne von Evan, Rachel und Philip.
Fazit
Rund siebzig Jahre liegen die Erlebnisse der Shepards und der Drakes zurück und die Einstellungen der beiden Familien werden heute auf manchen Leser befremdlich wirken. „Cold Spring Harbour” wird mir besonders durch die nüchterne und dabei liebevolle Sicht des Erzählers auf seine Figuren in Erinnerung bleiben.
8 von 10 Punkten