'Schlaf der Vernunft' - Seiten 001 - 072

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  • Hallo Tanja, ich freue mich, mal wieder an einer Leserunde mit dir teilnehmen zu können.


    Ich habe den ersten Abschnitt eben beendet. Helmut Schmidt wurde hier noch nicht erwähnt, aber die Erinnerungen an ihn sind natürlich auch geprägt von seiner Kanzlerschaft und sein politisches Handeln zur Zeit der RAF. Das ist für mich gerade ein etwas seltsamer Lesemoment.


    Ich habe ansonsten sehr gut in diese Geschichte hinein gefunden. Angelikas Erinnerungen an die damalige Zeit, die Bilder in den Postfilialen, ihre Empfindungen dabei aus Sicht des Kindes, das ging mir damals immer genauso (abgesehen davon natürlich, dass ich niemanden auf diesen Bildern persönlich kannte). Niemand konnte oder wollte einem wirklich erklären, was es damit auf sich hatte und auf einmal waren sie verschwunden. Ich bin 1973 geboren und kenne daher diese Zeit nur aus Erzählungen und den unterschiedlichen Medien. Ich war einfach zu klein, die Zusammenhänge zu begreifen. Ich habe mich aber immer sehr für sie interessiert.
    Vieles scheint mir beim Lesen bekannt vorzukommen. Gibt es Vorbilder für die einzelnen Figuren und Handlungen?


    Dieses Gefühl einiges schon zu kennen, stört mich aber nicht. Umso faszinierter bin ich von den Empfindungen der Figuren. Ich kann Angelikas innere Zerissenheit sehr gut verstehen und auch Steffens Ängste. Alex kann man fast schon als fanatisch bezeichnen oder auch Monika selbst. All das was sie als 17jährige in Berlin während des Besuchs des Schahs erlebt und ihr Gedanken dazu, kann ich sehr gut nachvollziehen. Das muss ein Schock für dieses behütet aufgewachsene Mädchen gewesen sein. Auf ihren Weg in dieser Geschichte bin ich bis jetzt am meisten gespannt. Das wirkt alles sehr authentisch und es ensteht eine gewisse Nähe zu den Figuren, die mir sehr gefällt. Interessant finde ich auch die Verbindung zur ehemaligen DDR. Hier erfahren wir sicher noch mehr.


    Was mich aus persönlicher Sicht immer "fasziniert" hat an diesem Teil der deutschen Geschichte, ist einerseits das Verständnis, das ich für die Proteste der jungen Menschen, ihre Aussagen und Forderungen hatte und habe und andererseits mein Entsetzen über die grauenhaften Auswirkungen durch die Radikalisierung der Proteste und die Gründung der RAF. Das spüre ich auch ein wenig hier beim Lesen von Angelikas, Alex, Steffens und Martinas Geschichte.

  • Hallo Saiya!


    Helmut Schmidt: ja, das ging mir auch so, als heute nachmittag die Meldung kam. Ich hatte natürlich die letzten zwei Jahre so oft gedanklich in seiner Kanzlerzeit gelebt...


    ...die ich als Kind erlebt hatte, ein wenig älter als du, ich bin Jahrgang 1969.


    Vorbilder: ja und nein. Nicht im eins zu eins -Verhältnis: vielmehr habe ich aus verschiedenen Mosaikbildern Steine genommen und zu einem neuen Bild zusammen gesetzt. Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhoff z.B. hatten beide den gutbürgerlichen Hintergrund mit idealistischen Eltern respektive Erziehungsberechtigten, während Christian Klar den Direktoren/Lehrervater hatte.


    Das zentrale Attentat des Romans hat auch Elemente von mehreren tatsächlichen Attentaten. Den Staatssekretär Werder gab es zwar nicht, aber in seiner Funktion ist er an einen Freund meiner Eltern angelehnt, der damals Staatssekretär im Justizministerum war, Hans de With. Nicht oft kann man ein Mordopfer fragen, ob es etwas dagegen hat, umgebracht zu werden, aber ich konnte. :-)

  • Zitat

    Original von Saiya


    Was mich aus persönlicher Sicht immer "fasziniert" hat an diesem Teil der deutschen Geschichte, ist einerseits das Verständnis, das ich für die Proteste der jungen Menschen, ihre Aussagen und Forderungen hatte und habe und andererseits mein Entsetzen über die grauenhaften Auswirkungen durch die Radikalisierung der Proteste und die Gründung der RAF. Das spüre ich auch ein wenig hier beim Lesen von Angelikas, Alex, Steffens und Martinas Geschichte.


    Das waren exakt meine Gründe, an der LR teilzunehmen.


    Als in der DDR Aufgewachsene (auch Jg. 1973) ist mir die RAF (in ihren späten Ausläufern) ja erst ab ca. Mitte der 80er Jahre bewusst ein Begriff. Ich kenne nicht mal Zeitungsartikel aus dieser Zeit, sondern wirklich nur Fernsehberichte. Für mich war die RAF einfach nur mit Terroranschlägen verbunden, über die Hintergründe habe ich zu der Zeit nicht nachgedacht. Ich fing 1989, als ich in die 11. Klasse auf der EOS kam, grade mal an, die DDR wirklich zu hinterfragen.


    Die Geschichte, aus den verschiedenen Erzählperspektiven gefällt mir bislang sehr gut. Angelikas Ängste und Wut kann ich gut verstehen. Martina dafür umso weniger..... ich kann mit diesem Inkaufnehmen von Gewalt und demzufolge Opfern für eine Sache einfach überhaupt nichts anfangen. Erstaunlich, dass sie ihre Ideale nach wie vor sehr vehement vertritt, auch und vor allem gegenüber Angelika.


    Alex empfinde ich auch als etwas fanatisch. Aber, wer kann es ihm verdenken.... Das Attentat hat sein Leben aus den Angeln gehoben und das der Mutter völlig zerstört.


    Steffen tut mir momentan nur leid.... mal schauen, welche Rolle er wirklich gespielt hat.

  • Hallo zusammen,


    ich hatte ja das Glück, Tanja auf der FBM kurz zu sehen und mir mein Exemplar signieren zu lassen. Danke nochmal dafür.


    Ich bin mit Jahrgang 1986 ja selbst nicht bewusst mit der RAF konfrontiert worden. Aber dieser Teil deutscher Geschichte interessiert mich sehr, daher auch meine Entscheidung für die LR.


    Der erste Abschnitt hat mir sehr gut gefallen. Ich finde es grandios, dass hier zunächst ein Blick auf die Familie einer Täterin geworfen wird. Denn das wird viel zu oft leider vergessen. Natürlich sind die Opfer nicht zu vernachlässigen, doch oft müssen sich die Familien der Täter nicht nur rechtfertigen, sondern auch Fragen und Hass gefallen lassen.


    Der Blick zurück zu den Protesten gegen den Schah hat mir ebenso gut gefallen. Denn hier wurde für mich direkt spürbar, warum Martina unbedingt zur großen Demo wollte. Ich weiß nicht, wie ich heute reagieren würde, wenn Polizisten grinsend daneben stehen, wenn jemand verprügelt wird.


    Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie es mit dem Roman weitergeht.

  • Logan_Lady, gern geschehen.


    Die Anti-Schah-Proteste und die Polizei-Reaktion darauf waren für Martinas Generation ein einschneidendes Erlebnis. Und landeten sogar in den amerikanischen Nachrichten, was sonst bei Ereignissen in Deutschland, die nichts mit den USA zu tun haben, noch heute kaum der Fall ist. Hier ist der Nachrichtenclip von 1967:


    https://youtu.be/AEp_0ioz1BM


    Und wer Zeit für eine 40-minütige Doku auf Deutsch über den Tod von Benno Ohnesorg und die Anti-Schah-Proteste hat:


    https://youtu.be/pmZttDkvsls

  • Ich bin noch nicht ganz durch mit dem Abschnitt, was auch daran liegt, dass mich so einiges direkt in meine eigene Jugend versetzt.
    Die RAF Zeit habe ich als Teenager miterlebt und die Frage, ob und wann Gewalt in der politischen Auseinandersetzung zu rechtfertigen ist, hat damals Viele beschäftigt. Nicht nur Terroristen.
    Mir gefällt bisher gut, wie Angelika in ihrem Zwiespalt gezeigt wird. Sich von der Mutter völlig abzugrenzen, weil sie die Ablehnung sonst nicht ertragen hätte und dem Wunsch, die Liebe der Mutter vielleicht doch nicht ganz verloren zu haben. Obwohl sie sich den Wunsch kaum eingestehen kann.
    Alex in seiner Trauer und seiner Hilflosigkeit der Mutter gegenüber.


    Und dann Martina selbst. Wie das behütete Mädchen mit der Gewalt konfrontiert wird und für sie die heile Welt zusammenbricht, in der sie gelebt hat.


    Was heute kaum mehr vorstellbar ist - es waren ja tatsächlich die Studenten, die kriminalisiert wurden. Denen die Schuld an der Eskalation gegeben wurde. Selbst Heinricht Albertz hat zunächst den Polizeieinsatz verteidigt, den Studenten vorgeworfen, die Freiheit missbraucht zu haben. Die unsäglichen Artikel in der Presse taten ein übriges.

  • Rumpelstilzchen, genau. Heinrich Albertz allerdiings ist einer der wenigen Politiker, der später seine Taten nicht nur anders sah, sondern auch Konsequenzen daraus zog - daß er bereit war, bei der Lorenz-Entführung als Vermittler zu arbeiten, was ihn ja auch das Leben hätte kosten können, habe ich auch immer als Buße für sein Verhalten in Berlin gesehen.

  • Das stimmt und dafür habe ich Herrn Albertz immer sehr bewundert.


    Mich wühlen Berichte über diese Zeit noch heute auf. Mir klingen noch immer die Sprüche (in sicherlich den meisten deutschen Wohnzimmern zu hören) über "das langhaarige Studentenpack, denen es allen zu gut geht und die doch alle in die Zone rübermachen sollen", um nur die harmlosen zu zitieren, in sämtlichen Ohren.

  • Ich habe auch begonnen und finde das Thema sehr interessant und den Roman bisher sehr gut lesbar. Nur mit den Figuren bin ich noch nocht warm geworden, aber dafür gibt es Gründe. Man kann gut nachvollziehen, dass die Ereignisse bei den Betroffenen weitreichende Einschnitte ins Leben nach sich zogen, sei es nun die Verwandten der Opfer oder die der Täter.

  • An dem Thema konnte ich gar nicht vorbei. Bei deutscher Geschichte, ob Ost oder West, versuche ich fast alles aufzunehmen. Und so richtig viele Romane gibt es ja auch gar nicht, die sich der RAF-Zeit annehmen, oder? Von daher erstmal Hochachtung an Tanja, sich an dieses immer noch brisante Thema heranzuwagen.


    Selbst bin ich auch Jahrgang 1969 und habe die 70er politisch eigentlich nur sehr unbewusst erlebt. An die allgegenwärtigen Fahndungsplakate und die 77er Flugzeugentführung kann ich mich aber noch sehr gut erinnern.


    Als vor einigen Jahren Christian Klar vorzeitig entlassen werden sollte, war ich überrascht, dass von Älteren immer noch sehr viel Wut und Abscheu gegenüber der RAF artikuliert wurde. Viele haben sich damals wohl sehr direkt selbst bedroht gefühlt?


    Die verschiedenen Sichtweisen der Beteiligten im Roman finde ich hochinteressant und sie regen stark zum Nachdenken an. Die häufigste Frage ist da immer, wie man wohl selbst empfinden und reagieren würde?

  • Rosenstolz und Herr Palomar, vertraute Gesichter in der Leserunde zu sehen, ist immer schön. :knuddel1


    Xexos, im Fall von Christian Klar kam wohl dazu, daß er nicht nur direkt für den Mord an Ponto verantwortlich war - bei den meisten RAF-Attentaten war ja nicht bekannt, wer genau was getan hatte, aber bei Ponto war seine Frau Augenzeugin gewesen -, sondern auch noch einen sehr prominenten Unterstützer hatte, Claus Peymann, der ihn für den Fall seiner Entlassung eine Stelle an seinem Theater versprach. Das brachte die Leute noch einmal extra auf die Palme.


    Corinna Ponto schrieb in ihrem erschütternden Buch "Patentöchter", daß ihre Mutter nach New York zog, weil sie Angst hatte, den Mördern ihres Mannes zufällig auf der Straße zu begegnen, nachdem diese entlassen worden waren.

  • Ich bin bereits am Mittwoch gestartet, konnte aber leider vorher nicht posten.


    An die Fahndungsplakate in der Postzweigstelle erinnere ich mich noch sehr gut (bin auch Jahrgang 69), von den politischen Werten habe ich bisher allerdings nicht soviel mitbekommen. Gut kann ich mich noch an das Attentat auf Herrhausen erinnern. Ich habe zu der Zeit eine Bankkaufmannslehre gemacht und ich hatte viele Azubis der Deutschen Bank mit in meiner Klasse. Dadurch wurde in den Pausen schon häufiger darüber gesprochen.


    Der Einstieg in den Roman habe ich sehr schnell gefunden (und mir vorgenommen Stefan Aust's Roman in nächster Zeit endlich mal zu lesen - im Regal liegt er schon länger...).


    Angelika scheint eine sehr einsame Kindheit gehabt zu haben. Und jetzt soll ihre Mutter frei kommen. Verständlich, dass sie nicht weiß, was sie erwartet - und was sie ihren Kindern erzählen soll. Sehr gut hat mir der Rückblick ins Jahr 1967 gefallen - jetzt weiß' ich auch endlich, woher der Begriff "Jubelperser" kommt..


    Die verschiedenen Perspektiven des Romans (von Angelika zu Martina, und auch der Blickwinkel aus Alex's Sicht) finde ich sehr gelungen....

    Zitat

    Original von Rosenstolz


    Das habe ich mir auch gedacht. :write


    Schön, dass Du Dich an dieses schwierige Thema gewagt hast Tanja! :wave

  • Zitat

    Original von bibliocat
    und mir vorgenommen Stefan Aust's Roman in nächster Zeit endlich mal zu lesen


    Oh, das habe ich ja auch mal geschenkt bekommen und noch nicht gelesen. Ist aber wohl auch eher ein Langzeitprojekt bei der Seitenzahl. Auf jeden Fall ist aber der Film dazu zu empfehlen.

  • Auch ich bin gut in das Buch hineingekommen. Als ich es am Dienstag begonnen habe, ahnte ich nicht, wie aktuell die Thematik innerhalb weniger Tage sei würde.
    Fanatismus, aus welchem Motiv heraus auch immer, und der damit verbundene Terror sind mir unverständlich. Sich das Recht zu nehmen, einen anderen Menschen zu töten, ebenfalls und dies letztendlich auch wirklich zu tun.
    Immer wieder suche ich die Auseinandersetzung mit der RAF, von daher auch das Interesse an diesem Buch.


    Die Fahndungsplakate sind mir auch noch gegenwärtig. Ich bin Jahrgang 74, kann mich also direkt kaum an die Zeit erinnern bzw. habe keine Zusammenhänge erkannt. Jürgen Schumann, der Pilot der Landshut, war ein Klassenkamerad meines Vaters. Die Entführung war bei uns ein immer wieder Thema.


    Ich weiß noch, dass die Schalterbeamtin in der Postfiliale meines Heimatdorfes uns Kinder immer aufforderte, sich die Gesichter der Terroristen genau zu merken, damit man sie erkennt, wenn man sie trifft. Ich habe die Bilder noch sehr gut vor meinem inneren Auge.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin