'Schlaf der Vernunft' - Seiten 196 - 246

  • Jetzt sind wir richtig tief drin im heißen Herbst. Und ich bin sehr angetan von dem Buch. Die Veränderung von Martina kommt so schleichend und selbstverständlich, dass ich gar nicht anders kann, als ihr zu folgen.


    Die Szene auf Sylt im Hotel hat mich schockiert. Wie groß muss der Schmerz sein um sich nach Jahren der Gefangenschaft in Freiheit töten zu wollen?


    Renates verhalten kann ich aktuell gar nicht nachvollziehen. Es geht ihr, so sehe ich das, nicht allein um ihre politische Karriere.


    Toll finde ich insgesamt, dass der Fokus auf "normalen" Sympathisanten liegt und nicht auf den großen der RAF wie Baader, Meinhof oder Ensslin

  • Zitat

    Original von logan-lady
    Toll finde ich insgesamt, dass der Fokus auf "normalen" Sympathisanten liegt und nicht auf den großen der RAF wie Baader, Meinhof oder Ensslin


    Da kann ich nur zustimmen!


    Nach den aktuellen Ereignissen in Paris liest man die Abschnitte, wo über Gewaltbereitschaft und Sympathien für Attentate diskutiert wird, spontan noch einmal anders.


    Auf S.196 hält Martina die Attentate auf das amerikanische Casino in Frankfurt, die Kaserne in Heidelberg und das Springer-Verlagshaus für gerechtfertigt.


    Doch der Roman zeigt durch die Gespräche die Motivation für den entschlossenen und gewaltbereiten Widerstand von innen.
    Man lernt als Leser zu verstehen, sicher nicht zu akzeptieren.


    Ich bezweifle, dass die Terroristen, die für die unfassbaren Attentate in Paris verantwortlich sind (vermutlich der Islamische Staat), einem auch irgendwann begreifbar gemacht werden können.

  • Ich glaube, dass man keinen Unterschied machen kann zwischen den Terroristen gestern in Paris und der RAF. Mein Verständnis geht aktuell gegen Null.
    Ich fühle mich im Moment nicht in der Lage "Martina weiter zu folgen". Tanja, es tut mir sehr leid, aber ich melde mich erst einmal von der Leserunde ab.

  • Trotz der schrecklichen Terroranschläge in Paris meine ich, dass man die Diskussion über den Unterschied zwischen Terror und legitimem und möglicherweise gewaltsamem Widerstand führen darf und muss.
    Ich möchte damit ausdrücklich nicht sagen, dass die RAF legitimen Widerstand geleistet hat.
    Es ist mir immer noch wichtig, sich damit zu beschäftigen, wie ein junger Mensch mit allen Zukunftsaussichte und einer christlich geprägten, menschenfreundlichen Weltanschauung zum Terroristen werden kann.


    Wenn wir uns diese Frage nicht mehr stellen wollen oder können, sind wir wieder bei den Prinzipien von Rache und Vergeltung angekommen. Die Welt beweist uns, dass das nicht der richtige Weg sein kann.

  • Saiya, ich verstehe deine Reaktion. (Doch natürlich hoffe ich, daß du dem Buch zu einem späteren Zeitpunkt noch mal eine Lesechance geben wirst.)


    Ohne die RAF in irgend einem Punkt entschuldigen zu wollen, würde ich allerdings als Amateurhistorikerin festhalten wollen, daß es im Frühstadium wenigstens noch Diskussionen über den Einsatz von tödlicher Gewalt gab. Damit halten sich heutige Terroristen (ob der IS oder solche Typen wie Andre Breivik) noch nicht mal mehr gedanklich auf.


    Wie immer mehr "Gegner" gedanklich enthumanisiert und damit für legitime Ziele erklärt werden, ist natürlich ein Mechanismus, der sich in den 70ern ebenfalls, und damit auch bei Martina in meinem Buch, zeigt. Was ich jedoch ebenfalls für erzählenswert halte, und was vielleicht gerade in so einer erschütternden Gegenwart diskussionswert ist: können Menschen, die sich einmal so radikalisiert haben, sich ändern? Umdenken? Sich der Ungeheuerlichkeit ihrer Taten bewußt werden?


    Wir leben in einem Land, wo ein beträchtlicher Teil meiner Großelterngeneration sich an Massenmord entweder aktiv oder billigend beteiligt hat. Und danach Jahrzehnte lang ein völlig anderes Leben führte... (Womit ich keine Ideologie-Vergleiche ziehen will, sondern nur zu der Frage nach Mördern und der Zukunft.)

  • Tanja, ich lese das Buch auf jeden Fall weiter. Es gefällt mir ja vor allem aus den von dir gerade genannten Gründen sehr gut. Ich möchte nur einfach im Moment nichts hier dazu schreiben müssen, sondern für mich lesen. Mir geht das im Moment zu nah, auch im Hinblick auf die Instrumentalisierung dieses Anschlags vom "rechten Rand".

  • Ein Schriftsteller wie der Algerier Yasmina Khadra hat Ende der neunziger Jahre in seinen Romanen, z.B. “Die Lämmer des Herrn” oder “Wovon die Wölfe träumen“ den Prozess der Radikalisierung nachvollziehbar beschrieben, aber anscheinend ist auch das nicht mehr der heutige Weg des harmlosen Muslim zum Terroristen.


    Schlaf der Vernunft deutet nach meiner Lesart unter anderen an, dass Dialog den Weg zum Verstehen ermöglichen kann. Aber die IS ist in seinem Extremismus gedanklich nicht fassbar.

  • Tanja, du hast da etwas sehr Wichtiges gesagt. Immer dann, wenn "den Anderen" die Menschlichkeit abgesprochen wird, geht die Tür zum Massenmord auf. Es war nicht der Nationalsozialismus, der das erfunden hat. Und leider ist es nach dessen Ende damit nicht vorbei.
    Denjenigen, den ich nicht mehr als Mit-Menschen, als Meinesgleichen ansehe, den kann ich misshandeln und sogar töten und das Ganze noch rechtfertigen.
    In dieser Hinsicht sind sie alle gleich, die Ideologien auf der ganzen Welt.

  • Mir ging die Szene, in der Angelika ihre Mutter mit dem Messer in der Hand in der Dusche antrifft, sehr nahe.
    Sollte Martina jemals beginnen, ihre Weltsicht selbst in Frage zu stellen, frage ich mich wirklich, ob sie mit ihrer Schuld wird leben können.


    Welche Absichten der Herr Bürgermeister tatsächlich hat, interessiert mich auch sehr. Er spielt eine sehr dubiose Rolle und es ist nur gut, dass Alex ihm gewachsen ist.

  • Rumpelstilzchen, Gefangene, die nach einem so langen Zeitraum in Freiheit kommen, sind ja tatsächlich überdurchschnittlich suizidgefährdet, auch, wenn sie keine Ex-Terroristen sind. Der Pastor am Anfang war zwar etwas besserwisserisch, aber er hatte schon seine Gründe, Angelika zu bitten, ihrer Mutter eine Chance zu geben.


    ...zu Michael Werder, dem Bürgermeister, sage ich nichts, flüstert sie geheimnisvoll.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Man lernt als Leser zu verstehen, sicher nicht zu akzeptieren.


    Ein sehr wichtiger Unterschied.


    Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Es ist mir immer noch wichtig, sich damit zu beschäftigen, wie ein junger Mensch mit allen Zukunftsaussichte und einer christlich geprägten, menschenfreundlichen Weltanschauung zum Terroristen werden kann.


    Da unterscheidet sich dann aber gewaltig die RAF-Situation von den aktuellen Gründen. Zu bedenken ist aber auch, dass nur wenig Dinge monokausal sind, sondern meist ganz unterschiedliche Motivationen zusammenkommen. Gute Zukunftsaussichten liegen heute aber eher nur selten vor.



    Zitat

    Original von Tanja Kinkel
    Wie immer mehr "Gegner" gedanklich enthumanisiert und damit für legitime Ziele erklärt werden, ist natürlich ein Mechanismus, der sich in den 70ern ebenfalls, und damit auch bei Martina in meinem Buch, zeigt.


    Oder technische Begriffe verwendet werden. Kollateralschaden für Opfer ist da nur ein kleines Beispiel für.



    Zitat

    Original von Tanja Kinkel
    Wir leben in einem Land, wo ein beträchtlicher Teil meiner Großelterngeneration sich an Massenmord entweder aktiv oder billigend beteiligt hat. Und danach Jahrzehnte lang ein völlig anderes Leben führte...


    Ob man das jemals umfassend erklären kann? Die Frage ist ja auch, ob die Menschen später wirklich bekehrt waren oder die alten Ideologien nur totgeschwiegen wurden und weiter gärten?

  • @ Herr Palomar: Hörst Du wohl auf, Buchtitel zu posten. SUB und Wunschliste sind bei mir schon so groß. :help ;-)



    Abschließend noch ein vielleicht etwas unempathischer Gedanke bzw. Frage:
    Warum wirkt der Seelenschmerz als Folge eines Terrorakts scheinbar größer als sonst bei einem Raubmord oder gar einem natürlichen Tod? Ist es die mediale Aufmerksamkeit? Ist es der Fakt, dass gleichzeitig mehrere Menschen starben? Oder ist es nur eine Fehldeutung meinerseits? Oder versuche ich da gerade Emotionen rationell zu erklären?

  • Xexos, ich würde schon vermuten, daß mediale Aufmerksamkeit einen Unterschied ausmacht. Siehe auch derzeit die verschiedenen Reaktionen auf zwei unmittelbar aufeinander folgende Terroranschläge, einer in Beirut, einer in Paris:


    http://www.sueddeutsche.de/dig…en-weniger-wert-1.2739151


    Andere Faktoren sind räumliche Nähe und Identifikationspotential mit den Opfern, würde ich sagen. Z.B.: der Germanwings-Pilot, der dieses Jahr seine Passagiere und sich selbst umbrachte, handelte nicht aus politischen (wie verzerrt auch immer) oder ideologischen Gründen, aber seine Tat entsetzte trotzdem unendlich viele Menschen, auch weil sich jeder bewußt war, daß man selbst, oder die Familie, in so einem Flugzeug hätte sitzen können...

  • Ich weiß nicht, ob der Schmerz wirklich größer ist. Letztlich gibt es da so viele individuelle Einflüsse, dass man generell nicht viel sagen kann.
    Eine amerikanische Studie kenne ich, die Aussagen zur langfristigen Veränderung des Lebens bei Eltern, die ein Kind verloren haben, macht.
    Das abstract ist hier: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2841012/

  • Die Szene unter der Dusche fand ich auch hart..... und bewundere nach wie vor Angelika, dass sie sich so auf die Nähe zu ihrer Mutter einlässt.
    Viel mehr getroffen war ich allerdings durch die Art und Weise, wie Angelika als kleines Mädchen einfach durch Renate bei den Großeltern abgegeben wird.


    Martinas Gründe, in den Untergrund zu gehen, werden immer deutlicher. Nach den Festnahmen von Baader, Meins und Co. hat auch sie das Bedürfnis, richtig Stellung zu beziehen. An diesem Punkt unterscheidet Martina sich nun von Renate, die diesen Schritt ja nicht mitgehen wird.


    Zitat

    Original von xexos



    Da unterscheidet sich dann aber gewaltig die RAF-Situation von den aktuellen Gründen.


    :write Das sehe ich genauso.

    Outside our small safe place flies mystery. (A.S.Byatt)
    :lesend


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  • Zitat

    Viel mehr getroffen war ich allerdings durch die Art und Weise, wie Angelika als kleines Mädchen einfach durch Renate bei den Großeltern abgegeben wird.


    Vielleicht hätte Renate das ein wenig sensibler vorbereiten können, aber grundsätzlich fand ich es auch heftig, dass Martina von ihrer Freundin erwartet, auf unbestimmte Zeit die kleine Tochter aufzunehmen. Angelika war bei den Großeltern gut aufgehoben und hat sich dort ja auch wohlgefühlt.

  • Die Szene unter der Dusche fand ich sehr heftig. Die arme Angelika ihre Mutter so zu finden - und wie furchtbar erst für Martina, in der Freiheit diesen Schritt zu machen.


    Renates Rolle in dem Ganzen ist mir noch zu ungenau. Auf der einen Seite will sie der Gruppe helfen - auf der anderen macht sie nicht den endgültigen Schritt wie Martina. Wobei ich ihre Entscheidung, das Kind den Großeltern anzuvertrauen für sehr gut befinde. Dort hat Angelika die Stabilität bekommen, die sie für ihr weiteres Leben brauchte. Renate war mit ihrer eigenen Karriere beschäftigt, da wäre Angelika nur "über" gewesen. :gruebel