Der schmale Pfad durchs Hinterland - Richard Flanagan

  • Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
    Verlag: Piper (14. September 2015)
    ISBN-13: 978-3492057080
    Originaltitel: The Narrow Road to the Deep North
    Preis Gebundene Ausgabe: Euro 24.00
    Preis Kindle E-Book: Euro 19.99


    Autor


    Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman »Goulds Buch der Fische«, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane wurden seither in 26 Sprachen übersetzt. Für »Der schmale Pfad durchs Hinterland« erhielt Richard Flanagan den Man Booker Prize und den Miles Franklin Award, den höchsten Literaturpreis Australiens.


    Kurzbeschreibung / Klappentext


    »Ein tiefgründiges und bewegendes Meisterwerk über einen verzweifelten jungen Mann in Zeiten des Krieges«, urteilt der Observer. Preisgekrönt entfachte Richard Flanagans Roman weltweit einhellige Begeisterung: Sein Held ist Dorrigo Evans, ein begabter Chirurg, dem eine glänzende Zukunft bevorsteht. Als der Zweite Weltkrieg auch Australien erreicht, meldet er sich zum Militär. Doch der Krieg macht keine Unterschiede, und während Dorrigo in einem japanischen Gefangenenlager mit seinen Männern gegen Hunger, Cholera und die Grausamkeit des Lagerleiters kämpft, quält ihn die Erinnerung an die Liebe zu der Frau seines Onkels. Bis er einen Brief erhält, der seinem Leben eine endgültige Wendung gibt. Richard Flanagans schmerzvoll poetischer Roman erzählt von den unterschiedlichen Formen der Liebe und des Todes, von Wahrheit, Krieg und der tiefen Erkenntnis eines existentiellen Verlusts.


    Meine Meinung


    Romane über den 2. Weltkrieg gibt es in grosser Zahl und manche Leser mögen dieses Themas überdrüssig sein. Verständlich. In diesem Roman wird ein dunkles Kapitel beleuchtet, dass die Meisten, wenn überhaupt, nur aus einem einzigen Film kennen dürften: "Die Brücke am Kwai" aus dem Jahre 1957 der vom Bau der Eisenbahnlinie zwischen Siam und Burma handelt. Die Errichtung und Fertigstellung dieser rund 400 Kilometerlange Strecke wurde während des Weltkrieges von der Japanischen Armee vorangetrieben. Gebaut wurde sie von Kriegsgefangenen unter unmenschlichen Bedingungen bei der rund 100'000 Menschen, die Meisten davon elendiglich, den Tod gefunden haben. Umgangssprachlich wurde sie deshalb "Todeseisenbahn" genannt. Die Abscheulichkeiten unter denen die Zwangsarbeiter leiden mussten gelten heute als Kriegsverbrechen. Das feuchte Dschungelklima hat das seinige zu dieser Hölle auf Erden beigetragen.


    Der Protagonist der Geschichte heisst Dorrigo Evans und er ist als Lagerarzt für die australischen Gefangenen zuständig. Der aus Australien stammende Chirurg und Offizier verkörpert das kleine Bindeglied zwischen den japanischen Peinigern und den gequälten Arbeitern. Die Geschichte selbst wird auf mehrere Zeitebenen erzählt mit Passagen vor und nach dem Arbeitslager. Die Liebe ist ein mögliches Gegenstück zum Leid des Krieges und dieser Kontrast wird in der Literatur oft verwendet. So auch in diesem Buch und es wird deutlich, dass die Erfahrungen im Krieg einen Menschen verändern können und es alles andere als einfach ist, mit den kummervollen Erinnerungen weiter zu Leben und zu Lieben.


    Geschrieben ist dieses Buch in einem Tonfall der für moderne zeitgenössische Literatur und Bücher die Preise gewinnen wollen mittlerweile Standart ist. Diese leicht unterkühlte Kopflastigkeit die immer eine kleine Distanz zwischen dem Gemüt des Lesers und dem Text lässt. Der Autor hat sich und seine Gefühle beim Schreiben jederzeit im Griff und er schreibt jeden Satz wohl überlegt mit einer mustergültigen Akkuratesse nieder. Es ist allein der Inhalt der beim Leser Emotionen auslösen soll ohne das dieser vom manipulativen Stilmitteln beeinflusst wird. Die Gräuel des Krieges und die Liebe zwischen zwei Menschen sind thematisch so starke Materien das sie auch ohne sprachliche Kunstgriffe für sich selbst funktionieren sollen.


    Ein Mahlstrom aus Menschen, Orten, Geschehnissen. Eine Geschichte aus Erinnerungen und Schilderungen die wohl zurecht den renommierten Man Booker Preis gewonnen hat. Ein gutes Buch, dass den kritischen Blick auf eine hierzulande nahezu unbekannte schreckliche Begebenheit des 2. Weltkrieges lenkt. Wertung: 8 Eulenpunkte

  • Vielen Dank für deine interessante Rezi, sapperlot. :wave


    Ich habe das Buch vor wenigen Monaten (auf Englisch) gelesen und war begeistert davon. Die Charakterzeichnung des Protagonisten fand ich herausragend, nicht nur in seinem Verhältnis zu den beiden Frauen sowie seinen Mitgefangenen und ihren Peinigern, sondern auch durch den wunderbar und überzeugend herausgearbeiteten Gegensatz zwischen seiner Selbsteinschätzung und der Wahrnehmung seiner zur Legende verklärten Person durch die Öffentlichkeit. Auch die anderen wichtigen Personen fand ich sehr gut und glaubwürdig in ihrem Denken, Fühlen und Handeln dargestellt. Die zentrale Liebesgeschichte mag nicht neu sein (welche ist das schon?), aber sie ist weder abgedroschen noch gar klischeehaft und fügt sich sinnvoll in den Gesamtkontext des Romans ein.


    Ob man so schreiben muss, um Preise zu gewinnen, weiß ich nicht, aber wenn ein (zumindest auf Englisch, aber nach den von dir geschilderten Eindrücken scheint die Übersetzung gelungen) derart gut geschriebener Roman Auszeichnungen einheimst, hat sich meiner Meinung nach neben dem Inhalt auch stilistische Qualität durchgesetzt. Gut so, ist ja nicht immer der Fall. ;-)


    Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir in den letzten zwei oder drei Jahren eigentlich nur "Der Garten der Abendnebel" um Nuancen besser gefallen hat. Von mir gibt es satte 10 Punkte.


    LG harimau :wave



    P.S. Noch eine Anmerkung zu den Verlusten an Menschenleben während des Baus der Todeseisenbahn: Bei den von dir genannten 100000 Opfern handelt es sich überwiegend um Briten, Australier, Neuseeländer und US-Amerikaner. Darüber hinaus sind über eine Million asiatischer Zwangsarbeiter zu Tode gekommen. Unfassbar.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von harimau ()

  • Vielen Dank für eure Einschätzung zu diesem Roman, der nun auf meiner Wunschliste gelandet ist. :wave
    harimau, sind die Schilderungen sehr brutal? Wenn ja, sind sie ähnlich realistisch in die Handlung eingebunden, wie bei "Der Garten der Abendnebel". Hier fand ich sie passend und sogar wichtig. An effekthascherischen, unnötig ausufernd erzählten Gräueln, die um ihrer selbst Willen geschildert werden, vergeht mir allerdings die Lesefreude. Nach deiner Rezi gehe ich zwar nicht davon aus, aber ich frage doch lieber vorsichtshalber nach. :-)

  • Gewalt und Brutalität werden in einer Art und in einem Maße dargestellt, wie es die Geschichte erfordert, keinesfalls zum Selbstzweck. Ich glaube, das Buch würde dir gut gefallen, Saiya. :wave

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau
    Gewalt und Brutalität werden in einer Art und in einem Maße dargestellt, wie es die Geschichte erfordert, keinesfalls zum Selbstzweck. Ich glaube, das Buch würde dir gut gefallen, Saiya. :wave


    Vielen Dank! :-)

  • Dorrigo Evans' großes Laster sind die Frauen. Er kann nicht mit ihnen, er kann nicht ohne sie. Er hat nicht das Gefühl, sich an nur eine binden zu können. Bis eben jene eine kommt, auf die er wie ein Magnet reagiert. Angezogen wie auch abgestoßen von ihrer Schönheit, ihrer Art zu sein, mit ihm zu spielen, zu schlafen, zu lieben.

    „Die Gefühle eines Mannes stimmten nicht immer mit dem Leben überein. Manchmal stimmen sie mit gar nichts überein.“


    Überwältigt von Gefühlen, die ihm bisher unbekannt waren, weiß er nicht recht damit umzugehen. Statt für sie in den Kampf zu ziehen, rettet er sich in den Kampf um sein Land. Der zweite Weltkrieg ist für ihn die Möglichkeit zur Flucht, nicht wissend, wie sehr er dies einmal bereuen wird. Denn was er dort erlebt – insbesondere als er in japanische Gefangenschaft gerät – hat er in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt.


    „Der Krieg drängte, der Krieg verstörte, der Krieg löste auf und entschuldigte.“


    Dorrigo Evans ist ein Mensch, der sich viel mit sich selbst beschäftigt hat. Der sein Leben lang versucht hat nach Außen ein gewisses Bild zu verkörpern. Schon vor dem Krieg, als er noch Angst vor der Liebe hatte, und auch nach dem Krieg, als ihm die dort erlebten Gräueltaten zu der Erkenntnis kommen lassen, dass nur die wahre Liebe die einzige Rettung von Geist und Körper sein kann.


    „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ ist ein Wechselbad der Gefühle. Für Protagonisten, wie für Leser. Der Einstieg ist mir etwas schwer gefallen, denn Flangan erzählt auf verschiedenen Ebenen, wechselt währenddessen häufig die Zeit, zeigt einen Dorrigo Evans, den ich erst sehr viel später, als ich erfahren habe, was er alles durchlebt hat, verstehen kann.


    „Es war, als lebe der Mensch allein, um Gewalt auszuüben und damit die Ewigkeit der Herrschaft zu sichern. Die Welt würde sich nicht verändern, die Gewalt war immer schon da gewesen und würde sich niemals auslöschen lassen, Männer würden sterben durch die Fäuste und Gräueltaten anderer Männer, bis ans Ende der Zeit und die gesamte Geschichte der Menschheit war eine Geschichte der Gewalt.“


    Das Leben spielt ungerecht, ist geprägt von Ironie und einer Härte, die nur schwer nachzuvollziehen ist. Im Krieg stehen diese Regeln erst recht Kopf. Das unterste wird zuoberst gekehrt. Wer weiß denn noch, wer er wirklich ist? Dies ist einer von Flanagans roten Fäden, die er an manchen Stellen so fest zuzieht, dass es mir die Kehle zuschnürt. Er hat kein Mitleid mit seinen Charakteren. Lässt sie Dinge erleben, die mir als Beobachter den Druck auf den Magen verstärken. Die Frage - wer Opfer ist, wer Täter - verschwimmt. Denn letztendlich sind im Krieg alle Opfer. Auch wenn es sich um fiktive Figuren handelt, sind ihre Kriegserlebnisse in Gefangenschaft leider nur zu real. Verdrängung ist vermutlich die einzige Chance danach weiter leben zu können.


    Oder eben die Liebe.


    „Und er dachte: Wie leer die Welt ist, wenn man seine Liebe verliert.“


    Sehr eindringlich kreisen Flanagans Worte um Krieg und Liebe. Sorgen dafür, dass ich den Roman verschlinge, an einigen Stellen aber so bedrückt bin, dass ich ihn gern zur Seite legen würde, weil ich selbst kaum aushalten kann, was die Männer in japanischer Kriegsgefangenschaft durchmachen müssen. Nicht jeder von ihnen zerbricht daran. Liebe, Hoffnung, Glaube an Wunder, Erinnerungen an schöne Dinge halten sie aufrecht. Freiheit entsteht im Geiste. Und genau dort nehme ich „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ in seiner vollen Intensität auf. Froh darüber diesen beeindruckenden Roman, von dem mir mehr Gutes, als seine drückende Stimmung im Gedächtnis bleiben wird, für mich entdeckt zu haben.

  • Ein außergewöhnlich gutes Buch.

    Ein Roman, der das Grauen des 2. Weltkrieges und der Zwangsarbeit sehr plastisch schildert und zugleich eine Liebesgeschichte erzählt, die mir nicht mehr aus dem Kopf wollte.

    In diesem Buch gibt es kein Schwarz oder Weiß, jede Figur ist ambivalnet durch und durch und jede Figur trägt eine Schuld. Und doch ist es ein Buch, in dem mir die Liebe, Mitmenschlichkeit und Hoffnung nicht aus dem Kopf ging. Ganz starke Bilder sind während des Lesens entstanden.

    Vielleicht liegt es an den Haikus, die Flanagan in all ihrer Poesie mitten ins Kriegsgeschehen spricht, ja, vorträgt oder vortragen lässt. Vielleicht liegt es daran, dass Flanagan seinen Roman sehr klug durchkomponiert hat. Vielleicht liegt es daran, dass Flanagan auf höchsten Niveau schreibt. Egal. Der Roman ist einfach großartig.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Großartig und eins der Bücher, die mich gepackt und nicht wieder losgelassen haben. Schon das erste Zitat von Paul Celan: "Mutter, sie schreiben Gedichte" wird mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.

    Für mich ist das eines der besten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Es beeindruckt und beschäftigt mich immer noch oder immer wieder.