Copyright F.H.
Ich liebe diese blaue Schachtel. Da ist die einzige Sache drin, die ich wirklich als Produkt der kanadischen Küche werten würde. Soll heißen, eine Köstlichkeit, welche ausnahmsweise nicht über die Südgrenze zu den A-hörnchen hinübergeschwappt ist. Sondern, von ihnen selbst kreiert, auch nur von ihnen verzehrt wird. Kein internationaler Exportschlager- sonst hätte ich das längst auch zu Hause in Leinfeld auf dem Tisch, und dann müsste ich ja (fast) nicht mehr nach Kanada fahren. Und das wäre schlimm für mich. Nein, nein, ich brauche auf jeden Fall ein exklusiv kanadisches Essen, wenn ich in Tante Darlenes einmalig kanadischer Küche sitze, CBC lausche und überlege, was ich heute noch alles anstellen will.
Dieses delikate kanadische Essen heißt French Toast Crunch. Grob gesehen handelt es sich dabei um –wie die Werbung es ausdrücken würde- eine Frühstückscerealie. Wenn man genau hinschaut, hat jedes einzelne dieser abgefahrenen Cornflakes jedoch die Form eines Miniatur-Toastbrotes und wird dadurch zur besonderen Snack-Kultur. Toastscheiben zusammengeschrumpft auf ziemlich exakt einen Quadratzentimeter. Honiggelb mit dunkelbraunem Rand... und da man auf so eine Mini-Schnitte natürlich keinen Sirup und keine Marmelade draufkriegt, ist der Belag angeblich in jedes Stückchen mit eingebacken. 100 Prozent echter Ahornsirup aus Québec. Wem es noch nicht reicht, diesen in Form honigsüßer Minitoasts zu genießen, darf sich beim Mampfen noch auf dem Seitenfalz der Packung über die Sirup-Ernte informieren. Angeblich kann man die Ahornbäume nur zu einer bestimmten Zeit zu Frühlingsbeginn anzapfen... Moment mal, man zapft den Baum an? Frühstücke ich hier Harz, oder was? Na ja, es ist immer die Rede von Saft. Von mir aus. Es geht mir nach wie vor nicht aus dem Kopf, dass ich meinen Bruder Oliver mal gefragt habe, woraus Ahornsirup denn gemacht werde. Er prompt: „Aus den Blattläusen!“ Und grinste fröhlich, weil er wieder so einen trefflichen Witz gemacht hatte.
Um ordentlich Saft abgeben zu können, muss der Baum mindestens 120 Jahre alt sein, und man kann ihn auch nur etwa zehn (?) Jahre „melken“. Mann oh Meter, ist das viel Aufwand für so ein Bisschen Sirup! Kein Wunder, dass das Zeug so teuer ist! Nach diesem aufschlussreichen Exkurs in Quebecs Ahornwälder- ich verzehre meine Mikrobrote mit noch mehr Ehrfurcht als zuvor- bietet die Cerealienschachtel nicht mehr viel außer der Zutatenliste. Hm, wahrscheinlich ein Nanogramm Sirup pro Toastscheibchen- oder?
Zucker, Weizenmehl, Speisestärke- WO IST DER AHORNSIRUP? Stabilisator, Farbstoff E was auch immer, WO IST DER AHORNSIRUP? Sekunde mal- Melasse?! Schreckliche Erinnerungen an eine Fernsehdokumentation, die ausführlich über die Abfälle einer Zucker-Raffinerie berichtete. Melasse= widerliche braune Soße, die aussieht wie schon mal gegessen, und angeblich eine Leckerei für Pferde darstellt. Dem menschlichen Gaumen aber eher ekelhaft erscheint. URGH! Mit uns kann man’s ja machen. Dämliche Westkanadier, die noch nicht mal genau wissen wie ein Ahornbaum aussieht... die werden auch den Unterschied zwischen Melasse und 100 Prozent Ahornsirup nicht merken. Ich kaue und schlucke. Die bekannte herbe Bittersüße, welche uns unser Freund Eric aus Vermont einmal in Form von richtigem Ahornsirup beschert hat. Schmeckt authentisch. Ich darf mich nur nicht dran erinnern, was wirklich auf meinen Bonsai-Toasts ist. Himmel, muss in Amiland immer alles künstlich sein? Hm, ist aber wahrscheinlich mittlerweile überall auf der Welt so. Die Menge macht’s. Ich genieße den honiggelben Schwindel. Gieße mir noch etwas mehr himmlisch süße kanadische Milch drüber –für weitere Fragen wenden Sie sich bitte an die staatliche Molkerei in Winnipeg- und futtere French Toast Crunch. Auch wenn dieses Zeug keine einzige Andeutung von Ahornsirup enthält... für mich wird es immer nach Kanada schmecken. Nach Frühstücksfernsehen bei Joe. Nach Musik voller schräger Harmonien. Nach Präriegras. Nach Sommerwind und flirrendem Sonnenlicht in Zitterpappelblättern. Nach Anerkennung, Freundschaft und dem Glauben an sich selbst. Nach dem schönsten unmöglichen Traum der Welt. Und nach einem gemütlichen Morgen in Tante Darlenes grün-weißer Küche.