Niall Williams: Die Geschichte des Regens

  • Niall Williams: Die Geschichte des Regens
    Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt 2015. 416 Seiten
    ISBN-13: 978-3421046871. 22,99€
    Originaltitel: History of the Rain
    Übersetzerin: Tanja Handels


    Verlagstext
    Ein Buch wie irisches Wetter, plötzlich breitet sich die Sonne wie Glück über dem frischen Grün aus -
    Die neunzehnjährige Ruth leidet an Leukämie und darf ihr Bett nicht verlassen. So liegt sie in ihrem Zimmer hoch über dem Fluss Shannon, während der irische Regen unablässig auf das Dach prasselt, und liest sich durch die dreitausendneunhundertfünfundachtzig Bücher, die ihr Vater Virgil Swain ihr hinterlassen hat. Inspiriert von der Lektüre und ihrer eigenen überbordenden Fantasie lässt sie vor den Augen des Lesers ihre Ahnen aufmarschieren: Urgroßvater Absalom Swain, den Reverend, Großvater Abraham, der beim Stabhochsprung das Fliegen lernte, und schließlich ihre Eltern Virgil und Mary, die sich vornahmen, die unfruchtbarsten vierzehn Morgen Erde, die Westirland zu bieten hat, urbar zu machen.
    Eine vielschichtige, tragische, oft aber auch sehr amüsante Familiengeschichte aus Irland, voller Pointen und Anekdoten und berührender Gedanken über das Leben und die Literatur. Ein Roman, in dem die Worte selbst zu einem Fluss werden, der den Leser davonträgt.


    Der Autor
    Niall Williams wurde 1958 in Dublin geboren und lebt heute im westirischen Kiltumper. Zusammen mit seiner Frau Christine Breen verfasst er Bücher über das Leben in einem kleinen irischen Dorf. Sein erster Roman, "Das Alphabet der Liebe", erschien in elf Ländern und war über viele Wochen hinweg Nummer eins der irischen Bestsellerliste. "Die Geschichte des Regens", sein neunter Roman, stand 2014 auf der Longlist des renommierten Booker-Preises und erhielt hymnische Besprechungen.


    Inhalt
    Ruth Swain liegt schwer krank im Bett und hört den Regen am Dachfenster herunter rinnen. Ruth scheint unersättlich darin, jeden Aspekt des Swainschen Familienlebens niederzuschreiben, ohne Rücksicht darauf, was andere Leser interessieren könnte. Das Wuchern von Geschichten und Familienerinnerungen kann Ruths ehemalige Lehrerein Mrs Quinty nur schwer im Zaum halten, die gemeinsam mit Ruth an deren Buchmanuskript arbeitet. Ruths Stilmittel ist das Mäandern, ihr Genre: die Flusserzählung. Von Emily Dickinson hat die junge Autorin eine eigenwillige, mitunter irritierende Rechtschreibung übernommen. Offenbar haben Wörter für sie eine andere Gewichtung und Betonung als für andere Menschen. „Seltsam“ klingt noch seltsamer, wenn es mit einem Großbuchstaben beginnt. Die irische Studentin zitiert souverän aus einer Bibliothek von beeindruckenden 3958 Büchern und stammt offenbar aus einer Familie, in der das Geschichtenerzählen Tradition ist. Mit ihren Bezügen zu Klassikern schafft die Icherzählerin eine so vertraute Atmosphäre, als würden Dickens Figuren bei Swains mit am Esstisch sitzen.


    Zunächst war in Ruths üppig wucherndem Gedankendschungel für mich der rote Faden schwer zu erkennen. Auch habe ich mich gefragt, wie Ruth trotz ihrer Krankheit ein so imposantes literarisches Wissen ansammeln konnte. Doch nicht immer ist der direkte Weg der sinnvolle Weg. Erst allmählich dringt Ruth zu ihren zentralen Themen vor, ihrem Bruder Aeney, sowie der Liebe ihres Vaters zur Literatur und zur Dichtung. Auf Virgil Swains Tätigkeit als Dichter ist im Romantitel ein Bezug zu finden. Ruths Bücher wurden von ihrem Vater gesammelt, dessen Lehrer Mr MacGhiolla die Lektüre seines menschenscheuen Schülers schon früh zur irischen Literatur führte. Virgil, ein wenig erfolgreicher Landwirt, führt eine Ahnenreihe von Bischöfen und Priestern fort, unter denen - wen würde das in Irland wundern - eine Reihe komischer Käuze zu finden sind. Großvater Abraham zum Beispiel war als Stabhochspringer erfolgreich. Als sanfter Vater geht Virgil im Geschichtenerzählen auf, überzeugt davon, dass es weitere, verbesserte Welten geben müsste. Niemals stellt Virgil sich in seinen Geschichten selbst als Heldenfigur dar. Ruth stellt mit übersprudelnder Phantasie und beachtlichem Sinn für Ironie Bezüge zum Irischsein und zur irischen Gegenwart her, bei denen ich mich manches Mal gefragt habe, wie eine einzelne Person die pure Menge an Sprachbildern und Skurrilitäten ansammeln konnte. Vom Haar, das wie eine kleine braune Hecke über der "Intelligenz" eines Menschen wuchert, bis zur Vorstellung, vor Urzeiten wären alle Iren einmal Meeresalgen gewesen …


    Fazit
    Niall Williams entwickelt hier Romanfiguren, deren rastloses Lesen und Schreiben einer Krankheit ähnelt. Wer sich auf seine üppig mäandernde Familiengeschichte einlassen kann, wird verblüfft eine entschleunigende Wirkung der Lektüre feststellen. In Irland etwas zu erledigen oder zu besprechen benötigt eben eine gewisse Zeitspanne.


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    Zitat
    Sehen Sie nur, wie kompakt sie [Mrs. Quinty] ist. Sehen Sie sich ihr hageres Gesicht an, verkniffen bis zum Kinn, dunkelgrauer Rock bis zum Schienbein, graue Strumpfhose, Schuhe in Größe neununddreißig, geschnürt, geputzt, aber pfützenmatt von der Witterung West-Clares und dem Weg über unseren Hof, mausgraue Bluse, deren oberster Knopf das ein oder andere erschlaffende Stimmband in der Kehle ziehharmonikagleich zusammenschiebt und ihrer Stimme – Pardon, Mrs Quinty - damit eine gewisse Tendenz zum Quieken gibt, schwarze Strickjacke, über und über bepudert mit Kreidestaub – trauriges Andenken an Tommy, den Konditormeister, der ihr alle Süße geraubt hat- kleines Leinentaschentuch stets griffbereit im Ärmel. Das Haar zum Dutt gesteckt – aber die Lippen, wo sind die Lippen? Nur ein winziger Rest ist noch da, eine Linie von Nicht-Ganz-Rosa, Puder auf den Wangen, ein Gesamteindruck von Gut Abgehangenem De Valera, seinerzeit sehr beliebt, als er erstmals als vergilbter Pappkamerad im Schaufenster von MacMahons Textilwaren in Faha zu besichtigen war. Rund gerahmte Brillengläser geben ihren Augen Größe, man sieht Angst und Güte darin. …“ (Seite 23)


    gute 8 von 10 Punkten