'Das Buch, in dem die Welt verschwand' - Seiten 105 - 206

  • Der Kammerherr ist also ermordet worden, und bei der Leiche findet man eine völlig verstörte junge Frau. Bei dem Hinweis, daß an dem Toten die (der christlichen Ethik entstammende) Aufforderung In te ipsum redi (eigentlich "Gehe in dich!", also eine andere Variante des delphischen "Erkenne dich selbst!") inszeniert wurde, fühle ich mich an den Film SE7EN erinnert, indem ein psychopathischer, religiös motivierter Mörder die Sieben Todsünden motiviert. Auf jeden Fall ist die psychische Verfassung des bislang namenlosen Mädchens verständlich.


    Außerdem gibt es da noch diese rätselhaften Postkutschenüberfälle, bei denen niemand verlatzt oder beraubt wird, sondern Lieferungen und Gepäck nur verbrannt werden, während den Reisenden kein Leid geschieht.


    Ach, der Di Tassi hetzt Adam Weishaupts Illuminaten! :lache Und die sollen -- wie in einem anti-europäischen US-Kolportage-Thriller -- ganz schreckliche, ja teuflische Sachen aushecken. Verschwörer die die bestehende gottgewollte Weltordnung bedrohen, infiltrieren, zerstören wollen.
    Schön, wie hier den Wurzeln dieses pathologischen Phänomens der Verschwörungstheorien nachgegangen wird, besonders ihre gefährliche Wirkung auf Röschlein, der von diesem Gift infiziert wird.


    Und weil er nicht sofort anspringt, gerät auch er beim paranoiden Di Tassi in den Verdacht, ein Illuminat oder zumindest ein Sympathisant zu sein. Gruselig -- aber typisch für solche Strukturen in Politik und Exekutive.


    Zumindest wissen wir jetzt, daß der anfangs verstorbene Graf auf betrügerische Weise ein Mords-Vermögen angehäuft und verschwinden lassen hat.


    Und Röschlein hat sich in das rätselhafte Mädchen verliebt -- war klar, aber das tut der Sache ja keinen Abbruch. :-)


    Und dann diese Gegensätze: Auf der einen Seite Röschlein, der mit empirischen Methoden forscht, weil er starke Zweifel an der Wirksamkeit der Schulmedizin entwickelt hat -- auf der anderen die "anti-empirische" Haltung, die sich in dem mehrfach vorkommenden "In te ipsum redi" (Hinweis auf die Bedeutung der Introspektion) und dem Spruch am Friedhofstor zeigt: "Behüte mich der Himmel, dass mein Herz nicht etwas glaubt, was meine Augen sehen."
    Da meldet sich doch in meinem Hinterkopf das im Philosophie-Studium (Thema: Deutscher Idealismus) kennengelernte Problem der Unvereinbarkeit und Unüberbrückbarkeit von Innen und Außen bei Kant ... oder geht das jetzt zu weit?


    Aber warum sind bei den Überfällen immer Büchersendungen betroffen?

  • Vielleicht hängt der Postkutschenbrand ja gar nicht mit den Vorfällen in Leipzig, Halle, Bayreuth zusammen.


    Mal sehen, was noch kommt...

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

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  • Für mich besteht da schon ein Zusammenhang zwischen den Kutschenüberfällen und der Haupthandlung des Buches - wenn ich auch noch nicht sagen könnte, wo er liegt. Aber es ist eine logische Überlegung: Bei den Überfällen geht es scheinbar um Bücher - die Hauptromanhandlung muss auch irgendwas mit einem Buch zu tun haben, wenigstens im weitesten Sinn, das verrät mir der Buchtitel! Also ist es doch anzunehmen, das irgendein Zusammenhang zwischen beidem besteht - und sei er auch noch so abstrakt. Da lass´ich mich mal überraschen.


    Was fällt mir sonst zu den Seiten 100 - 200 ein?! Das zwei weitere interessante Personen auftauschen: Di Tassi, der auf dem ersten Blick ernsthaft an Nicolais Mitarbeit interessiert zu sein scheint. Andererseits traut er Nicolei nicht wirklich, was ein Brief zeigt, in dem er unter anderem den Verdacht äußert, Nicolai könnte ein Spion sein! Dieses Mißtrauen wird fast nebenbei geäußert und man könnte es beinahe überlesen.


    Die weitere interessante Person ist natürlich die unbekannte Frau, die am Schausplatz eines grausamen Mordes (den von Selling) entdeckt wird. Zunächst empfindet man natürlich ein wenig Mitleid mit ihr, immerhin hat sie scheinbar den Mord mit ansehen müssen und ist jetzt in einem verwirrten Zustand - sie spricht nicht. Nicolai kann beinahe nicht anders als sich in sie zu verlieben. Er ist sogar so faszniert von ihr, das er sich beinahe vergißt und sie in ihrem ohnmächtigen Zustand fast mißbraucht - bevor er sich im letzten Moment besinnt. Eine Stelle mit der ich meine Probleme hatte, weil ich Nicolai einerseits mag - andererseits finde ich es erschreckend, wenn ein Arzt solche Gedanken hegt wie Nicolai in dem Moment.


    Was kann man sonst zu diesen Seiten sagen? Das Geheimnis, das über der Grundgeschichte des Romans liegt wächst immer weiter. Es kommen noch mehr neue Aspekte hinzu - besonders durch Di Tassi, der ganz klar eine Verschwörung zu wittern scheint und Nicolai in die Geschichte mit hineinziehen möchte. Für mich als Leser ist und bleibt die Story spannend - allerdings muss man sich jetzt schon etwas mehr konzentrieren, um allem folgen zu können (zumal ich das gefühl habe, in dieser Geschichte sind es die Kleinigkeiten, die ganz nebenbei geschehen, die sich später als etwas Entscheidendes herausstellen könnten). Im Großen und Ganzen lässt sich das Buch aber weiterhin recht flott lesen und es fesselt nach wie vor ...

  • Di Tassi ist nun aufgetaucht und es wird noch geheimnisvoller.
    Die Entdeckung der Leiche und des Mädchens fand ich sehr spannend und für mich im richtigen Maß blutrünstig.
    Splatter mag ich nämlich nicht, weniger aus Ekel, als aus Langweile. Nach dem fünften abgesäbelten Körperteil fang ich an zu gähnen...
    Die Augen am Baum waren ein faszinierender Hinweis auf die Frage des Sehens, Erkennens und was alles damit zusammenhängt. Man bemüht sich so richtig mit Nicolai zu verstehen, was passiert.
    Wenn er auch durch die Protagonistin in seinem Streben gestört wird :grin


    Di Tassis Auftritt und die Verstärkung des Krimi-Anteils fand ich sehr überzeugend, hatte aber Probleme mit der Beschreibung von Person und Amt.
    Wieso streut er sich Mehl in die Haare? Er trägt Seidenstrümpfe, da hat er doch sicher Geld für Haar-Puder?
    Seine Hosen mögen unbequem gewesen sein, aber Nicolai trug bestimmt auch keine anderen.
    Das Reichskammergericht als abordnende Institution ist etwas schwer vorstellbar, das hatte doch keine Exekutiv-Funktion. Und militärische Befiugnisse schon gar nicht. Da spielen mir ein bißchen stark moderne Geheimdinest -Vorstellungen hinein. Aber im Roman trägt es, das ist die Hauptsache!

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Oje, ich kann mich ganz gut in die Person von Nicolai Röschlaub hinein versetzen, dem es scheinbar geht wie mir : Das ist mir alles irgendwie zuviel Geheimnis und zu wenig Auflösung, ich bin schon ganz wirr im Kopf ... :cry

  • :grin @ Hannah
    Genau das ist mir heute beim lesen durch den Kopf gegangen . Ich bin zwar schon ein wenig weiter - so auf Seite 350 - keine Angst, ich verrate garnichts, was nach Seite 200 passiert - nur meine Gedanken:


    Schön, das nicht nur ich langsam den Überblick verliere, sondern das Nicolai scheinbar auch nicht weiß, was hier genau vor sich geht ...

  • Das ganz Buch ist voller kleiner Szenen, ein Art Momentaufnahmen, die mir Atempausen gegönnt haben in der Spannung und Denkpausen in dem immer wachsenden Geheimnis.
    Einer meiner Lieblingsszenen ist das Abendessen am Anfang von Kapitel 11, wenn die Eßgewohnheiten Müllers beschrieben werden.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Buchling
    ich erinnere Dich ganz ungern an Deine Aussage


    Zitat

    Original von Buchling
    Klar Türmchen,
    wir lesen das ganz gemütlich zusammen


    Das verstehst Du unter gemütlich zusammen lesen :knuddel (sie ist schon fertig)


    Bin jetzt auf Seite 168 und in den letzte Tagen einfach nicht viel weiter gekommen. Habe vorgestern ca. 50 Seiten gelesen, bevor ich vor Müdigkeit die Augen nicht mehr aufhalten konnte. Was war das Ergebnis? Gestern durfte ich die letzten 20 Seiten noch mal lesen, weil ich nicht mehr wußte, was ich vorgestern gelesen hatte...Nicht, daß mich das Buch langweilen würde – ganz im Gegenteil! Dieses „Spiel“ mit Wörtern von Wolfram Fleischhauer ist wirklich bemerkenswert.


    Im zweiten Teil sind mir bisher vor allem diese Sätze ins Auge gestochen:


    S. 114
    ... Es ist eine Krankheit der Seele, ein eitles vergebliches Sehnen, das zu schleimigen organischen Verwachsungen führt.


    Finde ich einfach nur genial


    S. 125
    Nicolai fragt Di Tassi „Ist ... Selling tot?“ und Di Tassi antwortet: „Mehr als das“


    Soviel "Humor“ habe ich Di Tassi bisher gar nicht zugetraut. Wobei mir schon klar ist, daß er es nicht lustig gemeint war.


    Mir gefällt der Schreibstil! Es ist alles so klar beschrieben, daß man wirklich das Gefühl hat, wie Nicolai gerade vor der Leiche zu stehen. Bewundernswert ist, daß es eben nicht blutrünstig und reißerisch rüberkommt, und einem trotzdem die Gänsehaut runterläuft


    Auch das Dilemma, in dem sich „Röschlein“ (ich muß jedes Mal grinsen und an Iris denken, wenn ich Nicolais Namen lese) befindet, als er mit dem Mädchen alleine im Raum ist, fand ich gut beschrieben. Nur daß er sich in sie verliebt hat, kann ich bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht unterschreiben. Er ist halt auch nur ein Mann...Daß sich daraus aber etwas entwickeln wird, ist vorhersehbar.


    Den Zusammenhang zwischen Nicolais Geschichte und den Überfällen habe ich auch noch nicht herausgefunden, aber das wird noch kommen, denke ich.


    Kann mir bitte jemand kurz erklären, warum sie den Körper von Graf Alldorf nicht öffnen dürfen. Ich weiß, daß davon vorher schon geschrieben wurde, aber wahrscheinlich habe ich den Grund dafür überlesen.

  • Hallo Türmchen :knuddel1


    sorry, aber mein Computer hat gesponnen, und nachdem ich nicht nur hier viel zuviel Zeit im Forum rumhänge, sondern auch meine Brötchen im RL an diesem Ding verdiene, hat so ein Computerhänger durchaus die Nebenwirkung, daß mein Lesetempo enorm steigt :lache


    Leichenöffnungen waren zu der Zeit allgemein untersagt. Nur Selbstmörder oder hingerichtete Verbrecher durften geöffnet werden. Dementsprechend rar waren die Leichen.


    Die Szene in der er die bewußtlose Frau mißbraucht, hat mich auch etwas gestört. Wie alt ist der Junge ? ... Also das Bild des kleinen notgeilen "Röschleins" konnte ich nur ganz langsam wieder abbauen - ich hätte ihn mir etwas älter gewünscht (und ihn mir dann auch etwas älter "gedacht").

  • Zitat

    Original von Buchling
    das Bild des kleinen notgeilen "Röschleins"


    Du nun wieder :grin Er war doch schon 20 Jährchen alt, da ist man(n) halt noch etwas ungestüm.


    Und jetzt gibt es Eulenverbot, sonst komme ich übehaupt nicht mehr weiter mit dem Buch...

  • Zitat

    Original von Türmchen


    Du nun wieder :grin Er war doch schon 20 Jährchen alt, da ist man(n) halt noch etwas ungestüm.



    oh, nee :wow
    die Szene hat mir den lieben Nicolai ein ganzes Stück weniger sympathisch gemacht, und wenn er sie noch so sehr geliebt hat :rolleyes

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Ach MaryRead :knuddel,


    ich wollt ja nicht zu sehr mosern - aber diese Szene hätte es echt nicht gebraucht, ich fand ihn danach auch nicht mehr so toll.


    Und nachdem sie sich ja eingenässt hat, hätte er die unterschiedliche Einfärbung ja auch im Rahmen seiner rein pflegerischen Tätigkeit bemerken können.


    Auch, wenn man damals vielleicht früher erwachsen war, ein 21-jähriger ist für mich eben ein Jüngelchen - und ich fand es irgendwie ekelig, was er da gemacht hat. Hätte ich auch bei einem älteren Protagonisten verwerflich gefunden, aber trotzdem... :-(


    Ich hab ihn mir im weiteren Verlauf dann eher so als Endzwanziger vorgestellt.... hat einfach besser gepasst.

  • Nicolai ist von der Frau bezaubert, verzaubert. Er hat den Verstand *verloren*. Im Wortsinn. Die Frage, wie und wann man den Verstand/das Herz einsetzt, ist ein Grundthema der Geschichte, fand ich.
    Hier wird es auf eine der vielen möglichen Weisen durchgespielt.
    Er reagiert spontan, gefühlsmäßig. Getrieben von etwas, das er nicht beherrscht.
    Neben der Erotik der Situation, stellt diese Frau ein weiteres Geheimnis in der Geschichte, das er nicht lösen kann. Da versucht er es mit dem direkten Zugriff.
    Ich fand das sehr gelungen und überzeugend. Sowohl psychologisch als auch dem Thema des Buches entsprechend. Für mich war er hier zum ersten Mal lebendig, als Mensch greifbar und nicht bloß Chiffre für den Suchenden-Wißbegierigen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Also, sympatisch kann ich diese Szene wirklich nicht finden - zumal Nicolai ja nicht nur als Mann sondern in erster Linie als Arzt vor ihr stand! Ein Mann mit solchen Gedanken ist schon schlimm (aber vielleicht kann man es wirklich noch mit jugendlichen Ungestüm erklären - wenn auch ganz sicher nicht entschuldigen!) - aber von einem Arzt erwarte ich, das er immer und jederzeit über solchen Gefühlen stehen kann! Ich glaube, das hat mich an dieser Situation am meisten gestört!


    Ich würde allerdings nicht soweit gehen und sagen, das Nicolai mir deswegen für den Rest des Romans unsympathischer geworden ist!

  • Ich muß magali mal wieder zustimmen! Ich fürchte, wir gehen hier alle von unseren heutigen Moralvorstellungen aus -- die damaligen funktionierten allerdings anders. Damals bestand das Verbot darin, daß man diese Berührung nicht nur als ein Verstoß gegen die Sittlichkeit sondern auch als Sünde betrachtete. Heute ist es nur dann ein Verstoß gegen die Sittlichkeit, wenn es gegen den Willen des Berührten geschieht -- und dann ist es auch ein Verstoß gegen dessen sexuelle Autonomie. Das sind vollkommen unterschiedliche Vorstellungen! Einen Begriff von "sexueller Autonomie" gab es zur damaligen Zeit gar nicht!
    Den Kampf, den Nicolai da mit sich selbst ficht, motivieren Überlegungen und Vorstellungen, die mehr in seine Zeit gehören.
    Ich weiß ja (und finde es auch extrem ärgerlich!), daß 99% aller Historischen Romane mit unseren heutigen Wertvorstellungen operieren, und bin deshalb doppelt froh, wenn einer das mal nicht tut!


    Nicht daß ich damals oder heute Nicolais Handlung gebilligt hätte, aber die Motivation und der ganze Konflikt sind mir verständlich. Mit sympathisch oder unsympathisch hat das m.A.n. nichts zu tun -- solche Gefühle sind für mich wenig relevant für eine gelungene, eindrucksvolle Hauptfigur. Wichtiger sind mir die Nachvollziehbarkeit der Konflikte sowie die Stimmigkeit innerhalb des erzählten Rahmens. Ob das nun nach heutigen Maßstäben akzeptabel oder gar "politically correct" ist, interessiert mich nicht die Bohne. :-)


    magali, der Gegensatz von Verstand/Vernunft und Gefühl ist ja auch ein wichtiges und ungelöstes Thema im Deutschen Idealismus. :-)

  • Sorry, Iris, aber Nikolai ist sich doch durchaus der Tatsache bewußt, daß er Unrecht tut - er hat ein schlechtes Gewissen, er glaubt nicht, daß er in irgendeine Weise zu seinem Handeln berechtigt ist.


    Also hat er MEINE Moralvorstellung - er handelt gegen seine/meine Moralvorstellung ... Also was solls ? Er begeht eine Sünde, und ist sich dessen bewußt.


    Ob es jetzt ein "das ist eine Sünde gegen Gottes Gebote" oder ein "was du nicht willst, das man dir tu..." oder schlicht ein "das tut man nicht" ist - ist völlig egal.


    Oder sprichst Du einem Menschen der vor 500 oder 300 oder 50 Jahren gelebt hat ein Gewissen - oder eine evtl. sogar von einer Gottesvorstellung unabhängige Moral ab ?

  • Zitat

    Original von Iris
    Einen Begriff von "sexueller Autonomie" gab es zur damaligen Zeit gar nicht!
    Den Kampf, den Nicolai da mit sich selbst ficht, motivieren Überlegungen und Vorstellungen, die mehr in seine Zeit gehören.
    Ich weiß ja (und finde es auch extrem ärgerlich!), daß 99% aller Historischen Romane mit unseren heutigen Wertvorstellungen operieren, und bin deshalb doppelt froh, wenn einer das mal nicht tut!


    Ja, alles richtig. (Wobei Buchling Recht hat - dass sein Handeln auch nach seiner zeitgebundenen Moralvorstellung nicht koscher ist, weiss Nicolai sehr wohl.)


    Ich stehe dazu, dass ich nicht intellektuell-abgeklärt genug bin, als dass ich über solche Übergriffe als "das galt damals nicht als so schlimm" weglesen könnte.

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  • Zitat

    Original von MaryRead
    Ich stehe dazu, dass ich nicht intellektuell-abgeklärt genug bin, als dass ich über solche Übergriffe als "das galt damals nicht als so schlimm" weglesen könnte.


    Das habe ich nicht behauptet! :-)


    Darum geht es mir auch gar nicht. Der entscheidende Punkt ist, was man mit einer Figur erreichen will -- soll sie überzeugend, beeindruckend, menschlich sein, einen Menschen mit Kanten und Macken? Oder will ich was, was ich liebhaben kann wie ein Spielzeug oder einen Popstar, was zum Schwärmen, einen Schnuckel mit reizvollen Fehlern, im Extremfall einen "Hochlandrammler". :grin


    Mir geht 's nicht um gleiche, ähnliche oder verschiedene Moralverstellungen -- witzig ist doch, daß wir tw. ebenso rigide Moralvorstellungen haben, allerdings auf einer anderen Basis: Die Rolle, die damals "Sittlichkeit" spielte, spielt heute die "sexuelle Autonomie des Individuums". Bei uns "darf" man scheinbar viel mehr -- aber es herrschen straffe Regeln.


    In besagter Szene geht es um Verführung -- speziell ums Verführtwerden. Man wird doch nicht nur von einer anderen Person aktiv verführt, sondern auch, wenn sie völlig passiv bleibt, von der Präsenz dieser Person, von dem, was einen anspricht, reizt, Sehnsucht wegt und/oder Begierde. Dazu gehört auch die Situation, in der man sich gerade befindet.


    Und was genau ist eigentlich passiert? Er hat sie zunächst als Arzt untersucht -- mit seinen Händen, also: Er hat sie berührt. Und solange das "nur im ärztlichen Interesse" geschah, war das in Ordnung, wenn es eine zärtliche Berührung ist nicht mehr? So dringlich erschienen mir die Verletzungen ja nun auch wieder nicht.
    Er ist keineswegs "wie ein Tier" über sie hergefallen, es lag eher eine tiefe Zärtlichkeit darin, nicht nur der Wunsch, verbotene Früchte zu naschen, sondern der, als Verführter zum Verführer zu werden. Aus diesem traumhaften Zustand hat er sich selbst gerissen, indem er sie vollends entblößt hat.


    Und damit wird auch klar, was magali meinte: Es geht um den Gegensatz von Verstand/Vernunft ("Geist") und Gefühl ("Seele"), um den richtigen Gebrauch, den Nicolai erst noch lernen muß. Er hat hier schwer gefehlt, und er weiß auch, daß er hier schwer gefehlt hat. Sein Gewissen bedrängt ihn ja immer wieder, und genau dieser sein Fehler steht aus seiner Sicht zwischen ihnen.