Martin Amis - Interessengebiet

  • Titel: Interessengebiet
    OT: The Zone Of Interest
    Autor: Martin Amis
    Übersetzt aus dem Englischen von: Werner Schmitz
    Verlag: Kein und Aber
    Erschienen: August 2015
    Seitenzahl: 416
    ISBN-10: 3036957243
    ISBN-13: 978-3036957241
    Preis: 25.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Es ist Liebe auf den ersten Blick, die Golo Thomsen wie ein Blitz trifft, als er Hannah Doll begegnet. Was wie eine oft erzählte Liebesgeschichte beginnt, nimmt einen ungewohnten Verlauf - denn Schauplatz ist Auschwitz, Thomsen arbeitet für die Buna-Werke, und Hannah ist die Frau des Lagerkommandanten.


    Der Autor:
    Martin Amis, geboren 1949 in Swansea, ist einer der bedeutendsten englischen Gegenwartsautoren. Er ist der Verfasser von zahlreichen Romanen, Sachbüchern und Kurzgeschichtensammlungen. Martin Amis lebt in New York.


    Meine Meinung:
    Dieser Roman von Martin Amis wird ganz sicher polarisieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist das der Hanser-Verlag, Amis deutscher Verlag, eine Veröffentlichung des Buches ablehnte. Es ist dann ein schweizerischer Verlag der dieses Buch auf Deutsch herausbringt. Dieser Roman ist ein merkwürdiges Buch, es erinnert vielleicht ein wenig an Jonathan Littels „Die Wohlgesinnten“; trotzdem aber ist eine Einordung schwierig, wenn nicht sogar unmöglich.
    Auch wenn der Roman in Auschwitz spielt, so wirken viele Szenen doch irreal und grotesk.
    Der FOCUS beschreibt dieses Szenario, diese Wirkung sehr treffend:
    „Ein besonders grausiges Detail ist die Wiese, unter der so viele Leichen begraben sind, dass deren Verwesung die ganze Umgegend belastet.
    Vor diesem Hintergrund spielen sich skurrile Geschehnisse ab, die einzeln genommen kaum glaubhaft und in ihrer Gesamtheit völlig absurd sind, aber an diesem unglaublichen Ort schon wieder möglich erscheinen. Zumal die tatsächlichen Ereignisse zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1943 historisch genau dargestellt werden, besonders die Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad und ihre psychologische Wirkung.“
    Und so steht man als Leser diesem Buch sehr zwiespältig gegenüber. Geht Martin Amis mit dem notwendigen Ernst an die Sache heran? Verharmlost er? Oder schafft er es die Skurriliät der ganzen Sache deutlich zu machen? Vielleicht ist dieser Roman aber auch nur eine bitterböse Satire. Eine Satire die verzerrt, die sich erst spät als Satire zu erkennen gibt.
    Martin Amis ist ein Wagnis eingegangen. Wie weit werden ihm die Leser folgen? Werden sie die Absicht des Autors erkennen oder ihn verdammen? Geht er hier vielleicht sogar zu weit? Egal – Literatur muss sich einfach auch gefallen lassen, das Grenzen überschritten werden; so sie dann überhaupt überschritten werden.
    Einfach macht Martin Amis es seinen Lesern nicht. Auch das „Nachspiel“ lässt noch einige Fragen offen. Es ist ein Roman der seine Leser nicht befriedigt zurücklässt – ganz im Gegenteil. Fragen der literarischen Moral stellen sich fast wie von allein.
    Ein sehr lesenswertes Buch, ein Buch ganz sicher unterschiedlichste Meinungen hervorrufen wird. Ein Buch aber, das es lohnt gelesen zu werden – selbst auf die Gefahr hin, dass man es irgendwann angeekelt und wütend in die Ecke schmeisst. 9 Eulenpunkte für ein Buch völlig außerhalb des Mainstreams.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Interessant, werter Kollege. Ja, irgendwo habe ich was darüber gelesen. Ein Buch, das von Hanser abgelehnt wird, aber von Kein und Aber verlegt wird, muss ich lesen. Ohne Wenn und Aber!

  • Unter Massenmördern


    fuenfsterne.gif


    Es gibt einige Romane, die die Realität der Vernichtungslager mit einer Fiktion vermischen und aus der Täter-Perspektive nach Erklärungen dafür suchen, wie es dazu kommen konnte, dass Konzentrationslager existierten und, vor allem, auch funktionierten. Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ ist – mehr oder weniger – einer davon (ein Buch, das ich allerdings abgebrochen habe, weil die Erzählung zwischen Blutorgie und Anklagen in meinen Augen nicht die richtige Balance fand), außerdem Robert Merles berühmtes „Der Tod ist mein Beruf“, das, wie das Buch, um das es hier geht, aus der Perspektive des Auschwitz-Lagerkommandanten erzählt wurde, diesen Mann aber durch eine fiktive Figur ersetzte. Martin Amis wählte allerdings nicht nur dessen Perspektive, sondern eine Handvoll weiterer.


    „Interessengebiet“ (OT: „The Zone of Interest“) ist bereits im Jahr 2014 erschienen und wurde vor allem von der Kritik überschwänglich aufgenommen, aber obwohl ich ein Verehrer der Bücher des leider 2023 verstorbenen Romanciers bin, ging dieser Roman bislang an mir vorbei – bis ich durch die Ehrungen für den Film „The Zone of Interest“ aufmerksam wurde. Allerdings haben der durch das Buch „inspirierte“ Film und der Roman neben dem Titel fast nur noch die Kulisse und die Positionen einiger Hauptfiguren gemein; während sich der Film dem Paradoxon eines sozusagen behüteten Familienlebens vor der Kulisse eines Vernichtungslagers widmet, beide Welten aber voneinander getrennt hält, thematisiert Amis‘ vielschichtiger Roman (wie auch der von Merle) hauptsächlich die Frage, was für Menschen das sind, die so etwas organisieren und befehligen können. Ob es überhaupt „besondere“ Menschen sind. Und wie es ihnen gelingt, ein „normales“ Leben zu führen, während in unmittelbarer Nähe und auf ihren Befehl hin Hunderttausende brutal gequält werden und den grausamen Tod finden. Wie sie es schaffen, gleichzeitig ganz alltägliche Gefühle zu haben. Er wirbt nicht um Verständnis, was auch mehr als absurd wäre, sondern sucht nach einer Erklärung, einer Phänomenologie, einer Typisierung. Nach einer Verbindung zur Normalität.


    Der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß heißt hier Paul Doll, der mit Hannah verheiratet ist, die ihm vor einigen Jahren zweieiige Zwillinge geschenkt hat, ihm seither aber ihren Körper verweigert und mehr oder weniger offen gegen ihn opponiert. Der SS-Offizier Golo Thomsen (Neffe von Martin Bormann, dem – realen – Leiter der Parteikanzlei der NSDAP) hat ein Auge auf die grobe Schönheit geworfen und wird schließlich erhört, aber nur kurz, und dann spielt noch ein gewisser Szmul eine Rolle, ein so genannter „Sonder“, womit Sonderkommandos von zumeist polnischen Inhaftierten gemeint sind, die sich aktiv am Betrieb des Konzentrationslagers beteiligten, um ein paar Wochen länger als die anderen zu leben.


    „Interessengebiet“ erzählt von jenem Mikrokosmos, der sich mitten im Grauen etabliert hat und ein übliches Leben zu simulieren versucht, obwohl sogar das aus großer Tiefe geförderte Brunnenwasser nach Verwesung schmeckt und der Schnee vom omnipräsenten Rauch aus den Krematorien braun gefärbt ist, obwohl ständig Schreie zu hören sind und unaufhörlich immer mehr „Umgesiedelte“ ankommen, unter denen sich längst herumgesprochen hat, was sie erwartet, während man bei ihrer Ankunft noch immer (im Fall von Paul Doll aber immer weniger engagiert) so zu tun versucht, als wäre das stetig wachsende, leiberverschlingende Konzentrationslager kein gewaltiger Apparat zum Massakrieren von Menschen, sondern eine Art Erholungsheim. Amis verbindet den unfassbaren Hintergrund und die Interaktionen seiner Figuren auf sehr geschickte, oft erschütternd amüsante Weise, lässt ihre Kumpelhaftigkeit und ihre Fixierung auf die Aufrechterhaltung eines irgendwie gearteten Alltags glaubwürdig erscheinen, fast bis an die Grenze der Nachvollziehbarkeit. Während der Lektüre dieses unglaublichen, niederschmetternden Romans muss man hin und wieder sogar schmunzeln, aber das hält nicht lange an, zum Glück. Doch „Interessengebiet“ ist ja auch in gewisser Weise eine Satire, vor allem im Dialoganteil.


    Die Hauptfiguren entwickeln und verändern sich. Doll wird allmählich paranoid, beinahe schon verrückt, Thomsen verinnerlicht mehr und mehr die fundamentale Aussichtslosigkeit und Boshaftigkeit ihres Tuns und sucht einen Ausweg, Szmul wird zum tragischen Helden. Und drumherum arbeitet diese monströse, menschliche Maschine, die weiter wächst, auch, um den Arbeitskräfteverschleiß der Buna-Werke zu befriedigen, von deren synthetischem Kautschuk Kriegsentscheidendes erwartet wird. Aber wir befinden uns bereits am Ende des Jahres 1942, und die, die es auch sehen wollen, erkennen, dass dieser Wahnsinn bald enden wird. Die ersten fragen sich bereits, wie man den Siegern erklären wird, was beispielweise hier, in Auschwitz, geschehen ist. Welche Rechtfertigungen es für diesen Wahnsinn geben könnte.


    Ich würde diesen bemerkenswerten, mutigen, verblüffend lesbaren, klug komponierten Roman in paarweiser Lektüre zusammen mit Elie Wiesels „Die Nacht“ empfehlen, dieser sehr persönlichen Erzählung eines Auschwitz-Überlebenden. Überhaupt sei allen Menschen dringend empfohlen, möglichst viel über diese Zeit, diese Politik, diese Art des Denkens zu lesen. Eine weitere Empfehlung gilt der langen Literaturliste am Ende dieses heftigen Romans, dem man beinahe abnimmt, ein Zeitzeugnis zu sein. Der nicht so große deutsche Verlag hat rund um den Erfolg des Films glücklicherweise eine Neuauflage des Romans gewagt, der eigentlich längst vergriffen war.


    ASIN/ISBN: 303695953X