1.Kapitel
Als sie aufwachte, fühlte sie sich nicht im geringsten ausgeruht. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Ihr Kopf schmerzte, als sie ihn in Richtung Nachttisch drehte, um auf die Uhr zu schauen. Sie konnte die Zahlen auf ihrem Radiowecker nicht erkennen.
„ Zu dunkel, " war ihr erster Gedanke, „ oder ein Stromausfall. "
Sie kramte in ihren Gedanken nach einer logischen Erklärung, warum sie sich so merkwürdig fühlte. Ihr Bett roch nach Erde und es war so dunkel, als hätte sie die Fenster mit Brettern vernagelt. Sie fühlte sich nicht, als wäre sie in der vertrauten Umgebung ihres Schlafzimmers – irgendwie war alles so falsch.
Sie tastete an ihrem Körper hinunter, konnte keine Decke finden. Obwohl sie nur den dünnen Stoff eines Nachtkleides unter ihren Händen fühlte, war ihr nicht sehr kalt. Sie versuchte sich aufzusetzen, und erneut fuhr ihr ein scharfer Schmerz durch den Kopf. Ihr war so schwindlig, und sie stütze beide Händen neben ihren Oberschenkeln auf. Panik durchfuhr ihren ganzen Körper, als sie den Untergrund, auf dem sie saß, ertastete – Erde, Gras, Blätter – sie befand sich mit Sicherheit nicht in ihrem Bett.
Ein Stöhnen ließ sie erschrocken zusammenzucken, bis sie merkte, das es von ihr selbst kam. Sie drehte den Kopf hin und her, konnte durch die Finsternis jedoch nichts erkennen. Sie blickte nach oben, und irgendetwas schlug ihr ins Gesicht. Sie griff mit den Händen danach und ein paar dünne Zweige zerbrachen in ihren zitternden Fingern. Sie schüttelte entsetzt den Kopf und konnte den Gedanken, den ihr Gehirn langsam zusammensetzte einfach nicht fassen – sie befand sich irgendwo draußen, im Freien, war mit nicht mehr als einem dünnen Nachthemd bekleidet und so sehr sie sich auch bemühte, sie hatte keinerlei Erinnerung, wie sie hierher gekommen war.
„Ganz ruhig " , sagte sie sich, und unterdrückte das Schluchzen, das in ihrer Kehle nach oben stieg. Vorsichtig stemmte sie sich in die Hocke, und schob mit beiden Händen die Äste über sich beiseite.
Als sie sich langsam aufrichtete, stellte sie fest, das es gar nicht so finster um sie herum war, wie sie zu Anfang geglaubt hatte. Sie schien sich in einem Park oder etwas ähnlichem zu befinden. In einiger Entfernung konnte sie eine Laterne und eine Bank erkennen. Sie selbst befand sich mehr oder weniger mitten in einem Haselnussstrauch, und als sie einen Schritt nach vorne trat, stieß sie mit ihrem nackten Fuß gegen etwas Weiches. Sie bückte sich danach und fand einen Stoffbeutel. Sie drückte ihn an sich und machte noch einen Schritt nach vorne. Spitze Zweige stachen ihr in die Fußsohlen, und sie wünschte sich, auch noch ein paar Schuhe zu finden.
Im selben Augenblick wurde ihr klar, wie unwichtig ein paar Schuhe in dieser Situation waren, in der sie nicht einmal wußte, wo sie sich befand, geschweige denn, wie sie hier her geraten war. Sie sah sich noch einmal um. Der Park schien menschenleer und außer ein paar Grillen , die leise vor sich hin zirpten, war kein Geräusch zu hören. Es war fast ein Gefühl, als wäre sie allein auf der Welt. Die Panik kam mit aller Macht zurück und sie begann unkontrolliert zu zittern. Ein schlechter Zeitpunkt, um die Nerven zu verlieren.
Sie zwang sich, in Richtung der Laterne zu laufen. Bei jedem Schritt schoß ein scharfer Schmerz durch ihren ganzen Körper, und sie fragte sich verzweifelt, was ihr geschehen würde, wenn sie wieder bewußtlos werden sollte. Sie streckte ihre steifen Glieder und ging wieder ein paar Schritte voran.
Was war ihr geschehen, das sie in diese verrückte Situation gebracht hatte? Erleichtert stellte sie fest, das sie bei der Laterne angekommen war. Sie ließ sich auf die Bank nieder und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Kopf war leer wie ein Vakuum und die Schmerzen trugen auch nicht gerade dazu bei, ihren Kopf zu produktiven Gedanken anzuregen. Sie dachte an dieses lächerliche Nachthemd, das sie trug und ihr Blick fiel auf ihre nackten Füße. Sie konnte sich nicht erinnern, an nichts, was ihr weiterhelfen würde. Plötzlich fiel ihr der Stoffbeutel wieder ein, den sie gefunden hatte, und sie öffnete ihn vorsichtig. Der Beutel gab nicht viel her: ein paar saubere Taschentücher, ein Kamm, ein zusammengefalteter Zettel, ein Parfüm und ein paar andere Dinge, womit sie aber nichts anzufangen wußte. Diese Dinge waren ihr alle so fremd, das sie langsam glaubte, das sie ihr gar nicht gehörten.
Sie sah sich im Park um, aber sie war tatsächlich allein. Enttäuscht legte sie den Beutel zur Seite. Sie hatte sich zumindest einen Schlüsselbund erhofft. Jeder Mensch schleppte doch einen mit sich herum, dann hätte sie sich wenigstens auf die Suche nach ihrem Auto machen können.
Fuhr sie überhaupt ein Auto? Es irritierte sie sehr, das sie sich an die einfachsten Dinge nicht erinnern konnte. Aber es brachte sie auch nicht das geringste Stückchen weiter, hier mitten in der Nacht auf einer Parkbank herum zu sitzen und sich den Kopf zu zerbrechen. Genauso gut könnte sie sich auf die Suche nach ... nach irgendetwas eben – einem Haus, Menschen oder vielleicht einer Straße, die sie irgendwohin führen würde, machen.
Sie griff nach dem Stoffbeutel und stand auf. Welche Richtung? Egal, sie konnte auch genauso gut einfach geradeaus gehen.
Weiches, nasses Gras streichelte ihre nackten Füße und sie dachte darüber nach, das ihr Leben vor 10 Minuten erst begonnen hatte, was natürlich auch nur eine Vermutung war, weil sie keine Uhr bei sich trug. Aber war das überhaupt wichtig, ob es früh oder spät in der Nacht war, wenn man sich an den Rest seines bisherigen Lebens nicht erinnern konnte? Sie fragte sich, wie weit ihre Erinnerungslücken wohl zurückreichten, aber sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken! Wie nannte man diesen Zustand auch noch gleich? Amnesie – genau! Verwundert stellte sie fest, das diese Feststellung sie so gut wie gar nicht schockierte.
Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, als wäre sie unsicher, das von der Amnesie vielleicht auch ihre Füße betroffen sein könnten und ihr plötzlich den Dienst versagten, tappte sie los. Erstaunt registrierte sie, das sie leise flüsternd ihre Schritte zählte. Sie entfernte sich langsam von dem sicheren warmen Licht der Laterne, und die Dunkelheit verschluckte sie immer mehr.
Als sie gerade 235 gezählt hatte, bemerkte sie ein Geräusch das langsam näher kam. Sie versuchte sich zu orientieren, aus welcher Richtung es kam, und als sie stehenblieb, um zu lauschen, stellte sie fest das es ein Motorengeräusch sein musste, denn es wurde stetig lauter und näherte sich ihr weiterhin. Hastig und mit laut pochendem Herzen, das sie in ihren Ohren dröhnen hörte, sah sie sich nach einer Straße um, und kurz darauf konnte sie vage das Licht eines Autoscheinwerfers ausmachen.
Sie beschleunigte ihre Schritte um die Straße zu erreichen. Vertrocknete spitze Halme stachen in ihre nackten Fußsohlen, aber sie achtete nicht darauf. Winkend und rufend versuchte sie, auf sich aufmerksam zu machen, doch Bäume und dichte Hecken versperrten ihr die Sicht, und als sie die Straße endlich erreicht hatte, war sie fast versucht, sich mitten drauf zu stellen und mit beiden Armen zu winken.
Irgendein ungutes Gefühl hielt sie jedoch im letzten Moment davon ab, und sie duckte sich ängstlich in das hohe Gras am Rand der Straße. Während sie verborgen am Straßenrand kauerte, konnte sie den Luftzug auf ihren nackten Armen spüren, als das Auto mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei rauschte. Sie erklärte sich ihr Unbehagen damit, daß der Fahrer sie bestimmt nicht früh genug auf der Fahrbahn hätte sehen können, um noch rechtzeitig vor ihr zu bremsen, und sie vermutlich über den Haufen gefahren hätte, aber ihr war klar, das dies nur eine ziemlich lahme Ausrede für ihre wahren Gründe war, das sie sich hier verbarg.
Was hätte sie dem Fahrer denn erklären sollen, das sie mitten in der Nacht in diesem merkwürdigen Aufzug auf der Straße stand? Wo sie es ja selbst nicht einmal wußte. Also beschloß sie, erst einmal der Straße zu folgen, und abzuwarten, wohin sie schließlich führen würde. Leise vor sich hin flüsternd zählte sie ihre Schritte, als sie der dunklen Straße folgte.