Der Dieb in der Nacht - Katharina Hartwell

  • Felix ist verschwunden. Vor Jahren hat er sich davon geschlichen und ist nicht wieder gekommen. Nicht mal ein Lebenszeichen hat er an Louise und Paul oder Agnes gesendet, dabei sind sie so dringend auf ihn angewiesen. Denn nur er ist derjenige, der aus dem Gefüge, in das Paul genetisch nicht hinein gehört, sich seine Angehörigkeit dazu aber verdient hat, eine Art Familie machen kann. Er ist das Bindeglied, die Schnittstelle, mit deren Hilfe sie alle ihren Platz finden. Ohne ihn sind sie schier kopflos. Irren orientierungslos umher und wissen nichts sinnvolles mit sich und ihrem Leben anzufangen.


    "In der Zeit nach Felix' Verschwinden schien es ihr, als hätten sich unsichtbare Schrauben in ihrem Körper gelockert, als sei das Rückgrat kaum mehr mit dem Becken verbunden, als hätten sich alle Gelenke gelockert, als befänden sich die Knochen nur noch in loser Verbindung miteinander."


    Während eines Aushilfsjobs in Prag lernt Felix den Künstler Ira Blixen kennen. Er sieht nicht aus wie Felix, aber da ist so viel an ihm, das Paul sicher sein lässt, dass es sich bei dem unbekannten Mann um Felix handelt. Ist der Wunsch Vater des Gedankens oder ist dieser Künstler, der sich absurder Weise für Knochen, für Struktur und Festigkeit interessiert, und weniger für den Geist des Menschens, obwohl er selbst wie einer wirkt, tatsächlich der längst verschollen geglaubte, der vermisste Freund, Bruder, Weggefährte, Retter aus allen ausweglosen Situationen?


    "Dieser Tage ist Paul sich mit Louise über kaum noch etwas einig, hierin aber stimmen sie einander zu: Felix versteckt sich in den Details."


    Mit derselben Verzweiflung mit der Paul einst zuerst Dinge, dann Felix, seine Familie, sein Leben geWOLLT hat, will er nun Klarheit, bevor er wieder zurück nach Hause reist. Er informiert Felix' Schwester Louise und kann nicht anders, als in seine Wohnung zurückzukehren. Doch Blixen folgt ihm. Dringt in sein Leben ein, setzt sich dort fest, so wie Paul es einst in Felix' Leben getan hat. Eine Umkehr des Gefüges oder reiner Zufall?


    "Im Wohnzimmer auf der Couch sitzend spürt Louise es deutlich: Etwas ist mit ihr im Raum. In den letzten Wochen hat sie es immer wieder gesehen, seine zarten Umrisse in der Luft, und manchmal streift es sie, manchmal nimmt es eine Gestalt an, dann kann sie es beinahe erkennen, beinahe sagen: Es ist ein Tier, ein Mensch, ein Geist. Aber immer zersetzt es sich in derselben Sekunde."


    Katharina Hartwell, die zurecht bereits mehrfach ausgezeichnete Jungautorin, spielt auch in ihrem zweiten Roman wieder mit Vorstellung und Realität. Kann man sich in Wunschdenken so sehr verbeissen, dass die Gedanken Wirklichkeit werden? Dass Menschen wiederkehren? Menschen, die verschwunden sind und nach vielen Jahren wieder auftauchen, ohne in der Zwischenzeit Spuren hinterlassen zu haben? Ohne, dass all die Jahre Spuren an ihnen hinterlassen haben?


    " '[...] Aber seitdem ich denken kann, seitdem ich ich bin, trage ich ein anderes Leben bei mir, wie ein Geheimnis in einer verschlossenen Truhe. [...]' "


    "Der Dieb in der Nacht" frisst sich Seite für Seite in das Leserhirn. Manipuliert, verwirrt, bedrückt ebenso wie Blixen. Lange bleibt der Leser im Unklaren, ob es sich tatsächlich um den verschollen geglaubten Felix handelt, dessen Innerstes sich umgekehrt hat oder um eine Farce seiner Figur, nur darauf aus, seinen Platz im Leben einzunehmen. Ein Spiel, das Hartwell mit ihren Lesern treibt. Spannend und aufreibend bis zum letzten Satz.

  • Wie ein Dieb in der Nacht, als niemand mehr damit rechnet, scheint Felix aufzutauchen, der lang vermisste Freund, Bruder, Sohn. Und um das, was er in den Menschen hervorruft, die ihn damals verloren haben – die er scheinbar bewusst verlassen hat, geht es in diesem großartigen Roman von Katharina Hartwell. Sprachlich wunderschön, beeindruckend düster und erschreckend ist dieser Roman, der sich mit der Frage beschäftigt, was passiert, wenn der Mensch, den man sich zurück wünscht, tatsächlich wieder auftaucht.


    Die Autorin richtet ihr Augenmerk intensiv auf die drei Personen, die am Tag als Felix verschwand, dabei waren. „Ira Blixen“, wie sich der vermeintliche Felix inzwischen nennt, sieht Felix eigentlich nicht ähnlich und doch sind es die kleinen Dinge, an denen Paul und später auch seine Schwester Louise ihn anfangs wiederzuerkennen meinen.


    Ira nistet sich bei Paul und Louise ein und seine Anwesenheit zwingt sie, sich mit Felix auf eine ganz andere Weise auseinanderzusetzen, als sie es bisher getan haben. Er hält ihnen einen Spiegel vor das Gesicht, seziert ihr Leben und zeigt ihnen ihre eigenen Verfehlungen. Ganz langsam beginnt die Wiedersehensfreude in etwas umzuschlagen, für das weder die beiden, noch der Leser sofort eine Deutung parat hat.


    Es ist beeindruckend, wie sehr einen beim Lesen die dunkle Stimmung erfasst, die Ira hervorruft. Wie etwas Böses, das man gerufen hat und nicht mehr los wird, vereinnahmt er immer mehr das Denken und Leben der Menschen, die Felix damals zu lieben glaubten. Wenn Ira tatsächlich Felix ist, so ist er dessen dunkle Seite, die sich niemand, der Felix zurück haben wollte, gewünscht hat.


    Die Intensität, mit der man als Leser Teil dieser Beziehung zwischen den drei Menschen wird, weil es Katharina Hartwell so gut gelingt, einen ebenso sehr zu vereinnahmen, wie Ira es mit Paul und Louise vermag, ist erschreckend. Es überrascht, wie sehr man von den Emotionen ergriffen wird, die Ira bei den beiden erzeugt, wie tief man sich selbst in dieses Beziehungsgeflecht einfühlen kann und worauf das Ganze letztlich hinausläuft.
    Mein Fazit: Düster, beeindruckend absolut lesenswert.

  • x Autorin: Katharina Hartwell
    x Originaltitel: Der Dieb in der Nacht
    x Genre: Roman
    x Erscheinungsdatum: 31. August 2015
    x im Berlin Verlag
    x 320 Seiten
    x ISBN: 3827012791
    x Erste Sätze: Als es klingelt, hat sie bereits geschlafen. Sie setzt sich auf, sieht sich um; ein Teil von ihr hängt noch in einem Traum, der bereits in die Dunkelheit zurückfällt, aus der er zu ihr gekommen ist. Sie stellt die Füße auf den Teppich, steht auf, läuft los, sucht nach dem Telefon, folgt dem Klingelton wie einer Spur.


    Klappentext:


    An einem flirrend heißen Nachmittag verschwindet der 19-jährige Felix spurlos. Wurde er entführt? Oder hat er seiner Familie den Rücken gekehrt? Zurück bleiben seine Mutter, seine Schwester und sein bester Freund Paul. Jeder der drei hat eine eigene Version von diesem Tag, nach dem nichts mehr so ist wie zuvor ... Zehn Jahre später taucht Felix plötzlich wieder auf. Aber ist der Mann, der durch einen Unfall keine Erinnerung an seine ersten 20 Lebensjahre besitzt und sich heute Ira Blixen nennt, wirklich der Vermisste?


    Rezension:


    Da mir Katharina Hartwells Debütroman "Das Fremde Meer" sehr gefiel, war ich dementsprechend gespannt auf ihr neues Werk " Der Dieb in der Nacht". Der Klappentext und das düstere, aber verspielte Cover sprachen mich sofort an, also: auf in die Geschichte.


    Der Einstieg in die Story fällt leicht. Zu Anfang bringt die Autorin in Form einer Vermisstenanzeige die Sache auf den Punkt und erwähnt im Anschluss recht zügig die weiteren Hauptpersonen - Luise, die Schwester des Vermissten, Paul, der beste Freund und nach einiger Zeit auch Agnes - die Mutter. Der Schreibstil ist angenehm, nämlich leicht zu lesen, aber trotzdem anspruchsvoll. Aufgeteilt ist das Buch in mehrere Teile (und darunter in Kapitel), welche zwar alle in der dritten Person verfasst wurden, aber den Augenmerk immer auf eine der Hauptpersonen legt.


    So erfährt der Leser nach und nach, wie die jeweilige Hauptperson den Tag von Felix' Verschwinden erlebte, wie sie zu Felix stand und wie sich die Zeit davor gestaltete. Vor allem über Paul erfährt der Leser so einiges - entwickelte er, als er Felix als Kind kennenlernte, beinahe eine Besessenheit gegenüber dem belesenen, beliebten Jungen und seiner Familie.


    Diese Besessenheit scheint kurzzeitig wieder aufzuflammen, als Paul beruflich Zeit in Prag verbringt und dort durch Zufall auf einen Mann trifft, in dem er Felix wiederzuerkennen meint. Der Verdacht, dass es sich um den verschollenen Freund handeln könnte, verhärtet sich, als er erfährt, dass der Mann, der sich Ira Blixen nennt, mit Gedächtnisverlust aus der Moldau gefischt wurde und sich in Prag als Künstler ein neues Leben aufbaute.


    Soweit, so gut. Eigentlich stellt dies eine gute Ausgangssituation für eine spannende Geschichte dar. Doch wie sich diese dann fortsetzt, sagte mir absolut nicht zu. Blixen taucht nach Pauls Rückreise in Berlin auf und nistet sich vorübergehend in dessen Wohnung ein. Doch ab diesem Zeitpunkt passiert irgendwie nichts mehr, das mich fesseln konnte. Blixen treibt irgendein Spiel - soviel steht fest. Doch was genau er vor hat, hat sich mir auch nach Ende des Buches nicht erschlossen. Er kommt neben Paul auch mit Luise und Agnes in Kontakt, zieht eine etwas gruselige Show ab und ... das wars.


    Es gibt sicher Leute, die mehr mit der Geschichte anfangen können - wer allerdings eine Lektüre erwartet, die einen mitreißt und mitfiebern lässt, sollte von "Der Dieb in der Nacht" besser die Finger lassen.


    Fazit:


    Vom Stil her richtig gut, doch die Geschichte könnte kaum enttäuschender sein.


    Bewertung:


    4 von 10 Sternen

  • Ein psychologisch mitreißender Roman.
    Obwohl die Figuren allesamt unsympathisch sind, kann man nicht von ihnen lassen. Der Text entwickelt einen Sog, ähnlich dem den Ira Blixen auf Paul und Louise ausübt. Es geht um Verlust, Trauer, das Aushalten von Ungewissheit, Freundschaft, aber auch um Schuld und ewiger Suche, die den Suchenden nur quält.


    Was als realistische Erzählung beginnt, wechselt unmerklich hinüber in eine Parabel. Zunächst fragt man sich, ist Ira Blixen tatsächlich der verschollene Felix?
    Je näher man dem Ende kommt, fragt man sich jedoch, ob Ira Blixen überhaupt existiert. Die Autorin versteht es gekonnt, den Leser selbst zum Suchenden zu machen und seine Sinne zu verwirren.


    Ein raffiniert gestrickter Roman, der es nach langer Suche geschafft hat, mich als Leser zu verblüffen, mich zu überraschen. Ich hatte endlich wieder einmal das Gefühl, etwas Neues gelesen zu haben.


    9 von 10 Eulenpunkten (Abzug für die Verwendung der Relativpronomen welcher, welche, welches, die ich stilistisch furchtbar finde und das komplette Umkippen der Figuren ins Unsympathische; hätte vielleicht nicht ganz so drastisch sein müssen)