Felix ist verschwunden. Vor Jahren hat er sich davon geschlichen und ist nicht wieder gekommen. Nicht mal ein Lebenszeichen hat er an Louise und Paul oder Agnes gesendet, dabei sind sie so dringend auf ihn angewiesen. Denn nur er ist derjenige, der aus dem Gefüge, in das Paul genetisch nicht hinein gehört, sich seine Angehörigkeit dazu aber verdient hat, eine Art Familie machen kann. Er ist das Bindeglied, die Schnittstelle, mit deren Hilfe sie alle ihren Platz finden. Ohne ihn sind sie schier kopflos. Irren orientierungslos umher und wissen nichts sinnvolles mit sich und ihrem Leben anzufangen.
"In der Zeit nach Felix' Verschwinden schien es ihr, als hätten sich unsichtbare Schrauben in ihrem Körper gelockert, als sei das Rückgrat kaum mehr mit dem Becken verbunden, als hätten sich alle Gelenke gelockert, als befänden sich die Knochen nur noch in loser Verbindung miteinander."
Während eines Aushilfsjobs in Prag lernt Felix den Künstler Ira Blixen kennen. Er sieht nicht aus wie Felix, aber da ist so viel an ihm, das Paul sicher sein lässt, dass es sich bei dem unbekannten Mann um Felix handelt. Ist der Wunsch Vater des Gedankens oder ist dieser Künstler, der sich absurder Weise für Knochen, für Struktur und Festigkeit interessiert, und weniger für den Geist des Menschens, obwohl er selbst wie einer wirkt, tatsächlich der längst verschollen geglaubte, der vermisste Freund, Bruder, Weggefährte, Retter aus allen ausweglosen Situationen?
"Dieser Tage ist Paul sich mit Louise über kaum noch etwas einig, hierin aber stimmen sie einander zu: Felix versteckt sich in den Details."
Mit derselben Verzweiflung mit der Paul einst zuerst Dinge, dann Felix, seine Familie, sein Leben geWOLLT hat, will er nun Klarheit, bevor er wieder zurück nach Hause reist. Er informiert Felix' Schwester Louise und kann nicht anders, als in seine Wohnung zurückzukehren. Doch Blixen folgt ihm. Dringt in sein Leben ein, setzt sich dort fest, so wie Paul es einst in Felix' Leben getan hat. Eine Umkehr des Gefüges oder reiner Zufall?
"Im Wohnzimmer auf der Couch sitzend spürt Louise es deutlich: Etwas ist mit ihr im Raum. In den letzten Wochen hat sie es immer wieder gesehen, seine zarten Umrisse in der Luft, und manchmal streift es sie, manchmal nimmt es eine Gestalt an, dann kann sie es beinahe erkennen, beinahe sagen: Es ist ein Tier, ein Mensch, ein Geist. Aber immer zersetzt es sich in derselben Sekunde."
Katharina Hartwell, die zurecht bereits mehrfach ausgezeichnete Jungautorin, spielt auch in ihrem zweiten Roman wieder mit Vorstellung und Realität. Kann man sich in Wunschdenken so sehr verbeissen, dass die Gedanken Wirklichkeit werden? Dass Menschen wiederkehren? Menschen, die verschwunden sind und nach vielen Jahren wieder auftauchen, ohne in der Zwischenzeit Spuren hinterlassen zu haben? Ohne, dass all die Jahre Spuren an ihnen hinterlassen haben?
" '[...] Aber seitdem ich denken kann, seitdem ich ich bin, trage ich ein anderes Leben bei mir, wie ein Geheimnis in einer verschlossenen Truhe. [...]' "
"Der Dieb in der Nacht" frisst sich Seite für Seite in das Leserhirn. Manipuliert, verwirrt, bedrückt ebenso wie Blixen. Lange bleibt der Leser im Unklaren, ob es sich tatsächlich um den verschollen geglaubten Felix handelt, dessen Innerstes sich umgekehrt hat oder um eine Farce seiner Figur, nur darauf aus, seinen Platz im Leben einzunehmen. Ein Spiel, das Hartwell mit ihren Lesern treibt. Spannend und aufreibend bis zum letzten Satz.