Fragen an Tom Liehr

  • Wie kommt man darauf, seinem Protagonisten eine Wattestäbchensucht ans Ohr zu schreiben? Ich schwanke jedesmal zwischen fasziniert und angewidert, wenn das erwähnt wird. Hat das einen realistischen Hintergrund? Was soll das über Uwe aussagen? Dass er durch und durch Softie ist und nicht mal eine anständige Sucht zustande bringt? Was soll diese Ohrnanierei kompensieren? :lache


    Edit: Bin zu doof 'nen Smilie einzufügen. Am Handy schreiben ist echt bescheiden.

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

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  • Hallo, Suzann, hallo, Belladonna.


    Ich habe/hatte zwei Tic-Ideen, die ich schon seit Jahren mit mir herumschleppe, nämlich einerseits diese Q-Tipp-Sucht und andererseits das unstillbare Bedürfnis, sich ständig die Schnürsenkel noch fester zuzuziehen. Mit Uwe Fiedler hatte ich erstmals eine Figur, zu der einer dieser Tics passte. Eine ungefährliche Sucht, der er sich hingibt, während er weiß, dass gefährlichere Süchte Konsequenzen hätten, beim Biertrinken angefangen und längst nicht endend beim Koksen.


    Mal schauen, wem ich das mit den Schnürsenkeln verpasse. ;-)


    Ach so. Beides ist nicht autobiografisch. Obwohl ich's manchmal ganz gerne mag, ein Wattestäbchen ins Ohr zu stecken. Aber - wer tut das nicht?


  • Autobiografisches habe ich in diesem Fall nicht unterstellt. Ich frage mich, ob es so etwas überhaupt gibt. Was für Nerv wird dabei stimuliert? Das wurde irgendwann im Text erwähnt...


    Auf die Schnürsenkel freue ich mich schon jetzt :lache

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  • Ich klinke mich mal ganz kurz ein, obwohl ich bei der Leserunde gar nicht mitlese, aber...
    meine Tochter ist fast 4 und hat diesen Schnürsenkeltick tatsächlich. Ständig muss ich entweder beide neu und damit fester binden (sie kann es noch nicht) oder einer von beiden ist fester als der andere und der andere muss angeglichen werden.
    Mittlerweile kaufe ich meistens Schuhe mit Klettverschluss. Mein Rücken dankt es mir :-]

    Ich weiß nicht, was das sein mag, das ewige Leben.
    Aber dieses hier, das diesseitige, ist ein schlechter Scherz. (Voltaire)

  • Zitat

    Original von Tom
    Hallo, Suzann.



    Der Vagusnerv - nimmt man an. So ganz sicher ist man sich aber nicht.


    Ich habe mal ein bisschen gesurft und es gibt ganz interessante Thesen zur Vagusnervstimulation, nämlich Behandlungsmöglichkeiten durch ein Implantant von Fettsucht über Depressionen bis zur Epilepsie. Krass.

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  • Hallo, Suzann.


    Genauer wäre im Fiedlerfall der Ramus auricularis, der "Ohrast" des Nervus Vagus gemeint. Aber, wie angedeutet - man ist sich neurologenseitig ein wenig uneins darüber, was da exakt passiert. Und, ja, dieses Teil hat's echt in sich. ;-)

  • Zitat

    Original von Tom
    Ist die Leserunde von Uwe Fiedlers Lethargie angesteckt worden oder sind einfach alle durch - und durch und durch glücklich?


    Ich hole das buch morgen in der Buchhandlung ab, bin wegen meines Besuchs noch nicht dazu gekommen. Dann lese ich mit. Vielleicht fällt mir ja noch was dazu ein. :grin

  • Zitat

    Ist die Leserunde von Uwe Fiedlers Lethargie angesteckt worden oder sind einfach alle durch - und durch und durch glücklich?


    Sowohl als auch :lache


    Ich muss dir leider die nervigste aller Fragen stellen, die man einem Autoren stellen kann (was tut man nicht alles für die Sommerchallenge) also, hier ist sie:
    Gibt es autobiografische Anteile in Nachttankstelle?

  • Hallo, Ginger Ale.


    Zitat

    Gibt es autobiografische Anteile in Nachttankstelle?


    Höchstens geografische. Meine Stammkneipe (die in den Danksagungen ja auch erwähnt wird) befindet sich in der Neuköllner Weisestraße. Aber keine der Figuren hat eine reale Vorlage. Ich kenne niemanden, der Albanisch und Planwirtschaft studiert, und ich habe nie an einer Tankstelle gearbeitet oder in einer Punkband getrommelt.


    Andererseits es ist schon (natürlich) so, dass ich Uwe Fiedler "missbraucht" habe, um ihm einige Aussagen unterzujubeln, die mir selbst am Herzen liegen. Das betrifft vor allem die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen (sollten). Aber das machen ja viele Autoren, und bei nicht wenigen ist es einer der Hauptgründe fürs Autorensein: Sich über die Figuren auszudrücken.


  • Mir gefiel, dass du thematisiert hast, wie sich Stadtviertel verändern, von Investoren aufgekauft werden, die dort Entwicklungspotential sehen und die alten Anwohner, die nicht mithalten können nach und nach dort wegziehen. Ich dachte immer, das das was positives ist, wenn Stadtviertel sich optisch und inhaltlich entwickeln, aber nach Nachttankstelle sind mir auch die negativen Auswirkungen bewußt geworden.


    War es dir ein Anliegen, so eine Entwicklung in einem deiner Bücher unterzubringen oder hat das einfach in Uwes Geschichte gehört und sich so ergeben?


    Edit: die liebe Rechtschreibung

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  • Hallo, Suzann.


    Zitat

    War es dir ein Anliegen, so eine Entwicklung in einem deiner Bücher unterzubringen oder hat das einfach in Uwes Geschichte gehört und sich so ergeben?


    Es gehört zur Thematik des Romans - wie Menschen miteinander umgehen (sollten) - dazu, und es hat sich einerseits angeboten, ist aber andererseits auch etwas, das ich mit Skepsis und Sorge beobachte. An einer Stelle erzählt ja jemand (ein Investor, der Uwe das Haus abkaufen will) davon, wie es in anderen europäischen Städten aussieht, und er nennt London als Beispiel. Da war ich schon mehrfach, zuletzt im vergangenen November, und es hat mich sehr irritiert, was ich dort erlebt und beobachtet habe. Die Innenstadt - im weitesten Sinne - ist ja quasi normalmenschenfrei; niemand, der einen handelsüblichen Job hat, kann es sich noch leisten, dort zu wohnen - die Menschen leben in den uniformen Vororten, die sich über viele Kilometer hinweg um London drängeln. Auf dem Weg zum Flughafen Heathrow fährt man ewig an exakt gleich aussehenden Häuschen vorbei - es sieht aus wie eine Agrarfläche, auf der billige Häuschen wachsen. Eine Hotelmitarbeiterin erzählte mir, dass sie täglich zweieinhalb Stunden in der Bahn sitzt, um von und zur Arbeit zu fahren. In Paris ist es ähnlich - mit dem kleinen Unterschied, dass die Mieter dort ihre Verträge vererben können, also über Generationen hinweg Wohnungen halten. Diese Entwicklung zeichnet sich auch für Berlin ab, vor allem für die früheren Problembezirke, denen natürlich auch zu wünschen ist, dass sich etwas verbessert, aber auf andere Art. In Neukölln, in Kreuzberg, im Wedding und anderswo drängen Zuzügler in sanierte Altbauwohnungen, und die ehemaligen Mieter werden nach Marzahn und Hellersdorf verklappt, wo sie in den Trinkhallen ihr Leben wegsaufen können, um es überspitzt zu sagen. Im Ergebnis hat man keine Stadt mehr, die diese Bezeichnung verdient, sondern lauter Ghettos, die sich nach Einkommensstruktur abgrenzen. Das ist nur bis zu einem gewissen Punkt zu begrüßen.
    Die Idee mit dem Erbe hatte ich vor der Idee, das auf diese Weise zu thematisieren. Aber letztlich hat sich auch ergeben, dass man das nicht trennen kann. Die Investoren kreisen wirklich wie die Geier über diesen Bezirken, die Mieten explodieren (am Görli kriegt man als Normalmensch einfach keine Wohnung mehr) - und den Gewerbetreibenden geht es auch an den Kragen.