Josh Weil: Das gläserne Meer
DuMont Buchverlag 2015. 672 Seiten
ISBN-13: 978-3832197971. 24,99€
Originaltitel: The Great Glass Sea
Übersetzer: Stephan Kleiner
Verlagstext
Die Zwillinge Jarik und Dima sind von Geburt an unzertrennlich. Nach dem Tod des Vaters wachsen sie auf dem Bauernhof ihres Onkels auf, die Tage verbringen sie in den Kornfeldern und die Nächte im Bann der mythischen Geschichten aus dem russischen Sagenschatz. Jahre später arbeiten die Brüder Seite an Seite in der Oranzeria, dem gigantischen Gewächshaus, das sich hektarweit in alle Richtungen erstreckt. Dieses gläserne Meer wird von im Weltall schwebenden Spiegeln beleuchtet, die das Sonnenlicht rund um die Uhr auf die Erde werfen ein künstlich geschaffener ewiger Tag, der die Produktivität der Region verdoppeln soll. Bald ist die Arbeit das Einzige, was sie verbindet: den robusten Jarik, verheiratet und Vater zweier Kinder, und Dima, den Träumer, der allein bei der Mutter lebt. Doch eine Begegnung mit dem Besitzer der Oranzeria verändert alles: Während Dima sich ambitionslos dahintreiben lässt, wird Jarik immer weiter befördert, bis sie schließlich zu Aushängeschildern gegensätzlicher Ideologien werden. Das gläserne Meer ist ein großer Roman über den Preis unserer Träume und Ideale, hochpoetisch und angefüllt mit der Magie russischer Märchen.
Der Autor
Josh Weil, geboren 1976, wurde 2009 von der Jury des National Book Award zu den „5 Under 35“ gezählt und erhielt 2010 für seine Novellensammlung „The New Valley“ (Herdentiere, Das neue Tal) den Sue-Kaufman-Debütpreis. Er lebt mit seiner Familie in der Sierra Nevada.
Inhalt
Hektarweit breitet sich in Russland eine riesige Fläche aus Glasplatten über der Oranzeria aus, dem größten Gewächshaus der Welt, das rund um die Uhr mithilfe von Spiegeln im Weltraum beleuchtet wird. Das größenwahnsinnige Bauwerk wirkt wie eine Halskrause, die jemand der Welt umgelegt hat. In diesem monströsen Projekt arbeiten wie in einer Fabrik zur Erzeugung von Lebensmitteln die Zwillingsbrüder Dimitri und Jaroslaw. Sie selbst sind vaterlos in einer winzigen Hütte aufgewachsen und haben Märchen erzählt bekommen, in denen sie selbst vorkommen. Die Handlung spielt in der Gegenwart, der Afghanistan-Krieg ist bereits Geschichte. Weil ständig Licht verfügbar ist, gibt es keine Winternächte mehr, im ewigen Sommer fehlen den Pflanzen Phasen der Dunkelheit, Tiere geraten durch die Lichtüberschwemmung in Panik. Die Meere erholen sich zwar von der Überfischung, aber der Schiffbau stagniert. Vom Betreiber-Konsortium, dem das Licht gehört, sind die Menschen abhängig geworden. Jarik bekommt das zuerst zu spüren; er hat Frau und Kinder und wagt deshalb keinen Widerspruch. Als die Brüder vom Vorarbeiter in unterschiedliche Schichten eingeteilt werden, beginnt eine Entfremdung zwischen ihnen, die schon bald groteske Züge annimmt. Das ehemals enge Band zwischen Dima und Jarik hat sich verdreht. Mit einem angepassten und einem regimekritischen Bruder stehen sich alte und neue Welt gegenüber. Das überdimensionierte Gewächshaus erweist sich in dieser Größe als unregierbar; der Druck des Systems auf die Arbeiter wächst. Dennoch will der Milliardär Basarow weiteres Land für das Projekt aufkaufen, ein Städter, der nie einen Fuß auf ein Feld gesetzt hat. Wenn niemand mehr Freizeit hat, braucht niemand mehr Datschen auf dem Land; den Aufkäufern sind damit Tür und Tor geöffnet.
Plötzlich sind Dima und Jarik nicht nur als Arbeiter von den Expansionsplänen betroffen, sondern auch als Erben eines winzigen Häuschens, in dessen Hof ihr Vater begraben liegt. Dima fragt sich, ob man die Zivilisation nicht einfach ignorieren und so leben kann wie seine Großeltern. Als Einzelgänger und Querdenker ist er in diesem dystopischen Szenario isoliert und wird zunehmend in eine radikale Ecke gedrängt. Er will den elterlichen Hof zurückkaufen und das alte Wissen aus der Landwirtschaft erhalten, das mit der Automatisierung gerade verloren geht.
In seinem in der deutschen Ausgabe märchenhaft illustrierten Buch von üppigen 670 Seiten stellt der amerikanische Autor mit zwei Brüdern zugleich zwei Seiten einer Medaille gegenüber, bringt Licht und Dunkelheit, Aufstieg und Abstieg, Gesundheit und psychische Krankheit als Motive ein. Der systemkritische Bruder nimmt besonders den schimmernden Rand des Szenarios wahr, in dem man den Rand der Gesellschaft oder auch den Rand der Realität sehen könnte.
Fazit
Josh Weil war als Jugendlicher in Russland als Austauschschüler und kommt mit seinem utopischen Roman eines Bruderkonflikts der russischen Seele erstaunlich nahe. Diese Seele enthält jedoch einen amerikanischen Kern; denn seine Figuren kennen amerikanische Truthähne, Rugby und Kordeln mit Metallspitzen anstelle von Krawatten. Bei Weil scheint alles schön und gut zu sein, solange die Russen wenigstens in Details dem amerikanischen Traum nacheifern.
8 von 10 Punkte