"Wie ein fernes Lied" ist eine der von mir am ungeduldigsten erwarteten Neuerscheinungen des Jahres 2015. Seit ich den Roman mit seinem wunderschönen Cover, das so viel Sehnsucht ausstrahlt, im Herbstprogramm des Piper Verlags entdeckt hatte, wartete ich auf dessen Erscheinungstermin. Am 10. August war es dann endlich so weit. Nach verschlingen des Romans in nur wenigen Lesestunden bleibt mir abschließend zu sagen: das warten hat sich für jede einzelne Seite des Buches gelohnt!
Es ist das Jahr 1939 als Marga ihrer Jugendliebe Michael Friedländer am Bahnhof "Adieu" sagen muss. Michael, der begnadete Klarinettist, mit dem Marga nicht nur eine gemeinsame unbeschwerte Kindheit, sondern auch die Liebe zur Musik verbindet. Für Musiker, die sich wie Marga und Michael dem Swing verschrieben haben, Musik mit neuen Melodien und fremdsprachigen Texten, geht die Zeit der Unbeschwertheit verloren, denn die Nationalsozialisten gewinnen mehr und mehr an Macht, vergraben sich in ihrem eigenen Gedanken- und Liedgut und merzen alles für sie Unbekannte und Fremdartige aus. Für Michael, der zudem Halbjude ist, eine nicht zu unterschätzende Gefahr, vor der er ins Ausland flieht.
"Marga sah ihm nach, durchbohrte mit ihren Blicken seinen schmalen Rücken und wünschte sein Herz zu treffen. [...] Und sie würde notfalls gegen alle Widrigkeiten des Schicksals, gegen Krieg und Politik um ihn kämpfen."
Marga kann ihn nicht vergessen. Sehnt sich nach niemandem so sehr, wie dem vertrauten Freund, der ihr zum Abschied ihre Liebe gestanden hat. Um ihm näher zu kommen, unterbricht sie ihr Studium an der Musikhochschule und reist mit Harry Alsens Tanzkapelle in durch deutsche Soldaten besetzte Nachbarländer, um dort zur Truppenunterhaltung zu musizieren. Kein Vergleich zu der ehemals so sorglosen Zeit in der Swingjugend Hamburgs, denn der Krieg greift mit kalter Faust um sich und droht jeden zu verschlingen, der nicht mit Hitlers Gedankengängen konform geht.
Wie liest man ein Buch, das so spannend und wundervoll zugleich ist, dass man unbedingt wissen möchte, wie es endet und sich gleichermaßen wünscht, dass man die finale Seite nie erreichen wird? Eine Zwickmühle, der mich Micaela Jary schonungslos ausgesetzt hat.
"Lange verdrängte Bilder stiegen unerwartet in ihr auf. Von johlenden Männern in Uniformen, die alte Leute schlugen, vom Mob, der leichtfertig den Parolen irgendwelcher Politiker folgte und den eigenen Missmut an hilflosen Menschen ausließ. Ihr war es in ihrem bisherigen, bald einundzwanzigjährigen Leben immer gelungen, sich der Nähe der Partei und ihren willfährigen Handlungen zu entziehen. [...] Und auch, weil sie als Swinggirl andere Wertvorstellungen besaß, als die meisten Mitglieder der Hitlerjugend."
Was man durch den Klappentext und auch meine Inhaltsangabe nicht erfährt: im Jahr 1999 gibt es eine junge Musikerin, die irgendwie in Verbindung mit den uns bekannten Musikern Marga, Michael und Harry Alsen steht. Aber in welcher? Ein Geheimnis, das Micaela Jary bis aufs Blut ausreizt und den Leser so mit jeder Faser ans Buch fesselt. Geschickt eingesetzte Wechsel der zeitlichen Ebenen und Spannungsbögen, die am Ende der Kapitel immer wieder in die Höhe schnellen, sind der Grund dafür, dass ich "Wie ein fernes Lied" verschlungen habe. Geschickt verpackt in geschichtliche Aspekte, die für mich Neuland waren und mich teils schockiert haben, denn mir waren wohl Hitlers Greueltaten bewusst, aber nicht auf welchem kulturellen bzw. musikalisch kulturellen Vormarsch sich Deutschland vor einsetzen des Zweiten Weltkriegs befand, der nicht nur viele Menschen zerstörte, sondern eben auch einen Wandel in Richtung Moderne blockierte und damit sicher auch Mauern um eine kulturell-musikalische Veränderung baute, die erst lange nach Kriegsende zum einstürzen gebracht werden konnten.
Warum konnte ich mich eben diesen spannenden und informativen Handlungen nicht einfach mitreißen lassen und das Buch in einem durchlesen? Schuld sind Micaela und Marga. Die Autorin, da sie - wie Leser des im letzten Jahr erschienen "Das Haus am Alsterufer" wissen - eine so wunderschöne Atmosphäre schaffen kann, dass der Leser mühelos für einige Lesestunden in die Vergangenheit reist und von dort kaum wieder zurückkehren kann, auch wenn diese von so schrecklichen Ereignissen wie dem Krieg belastet wird. In "Wie ein fernes Lied" ist es die Musik des Jahrzehnts, zu der Micaela Jary durch eigene Erlebnisse und familiäre Verbundenheit eine ganz besondere Beziehung hat, die den Leser durch Klänge von Freiheit und Widerstand, von Mut und dem Wunsch sich nicht unterkriegen zu lassen, ganz besonders einnimmt und nicht mehr gehen lässt.
"'Swing heil, Girls!', rief der junge Soldat, der eben noch als Bassist auf der Bühne gestanden hatte.
Ja und dann ist da noch Marga. Die wundervolle, manchmal etwas blauäugige, aber immer um ihre Ziele kämpfende Marga, die so voller lebendiger Sehnsucht ist, dass ich sie im eigenen Herz spüren konnte. Marga, mit der ich gehofft, gebangt und gekämpft habe und die ganz am Ende genau das bekommt, was ich mir während der viel zu schnell vorüberziehenden 544 Seiten, immer für sie gewünscht habe.