Winternähe - Mirna Funk

  • Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
    Verlag: S. FISCHER, 2015


    Kurzbeschreibung:
    Mirna Funk erzählt die Geschichte einer jungen deutschen Jüdin in Berlin und Tel Aviv.
    Ihr Name ist Lola. Sie ist Deutsche. Sie ist Jüdin. Und die einzige, der ihr ein Hitlerbärtchen ins Gesicht malen darf, ist sie selbst. Sie hat genug davon, dass andere darüber bestimmen wollen, wer sie ist und wer nicht. Sie entscheidet, wovon sie sich verletzt fühlt und wovon nicht.


    Wer bestimmt darüber, wer wir sind? Unsere Herkunft, falsche Freunde, orthodoxe Rabbiner?
    Lola ist in Ost-Berlin geboren, ihr Vater macht rüber und geht in den australischen Dschungel. Sie wächst auf bei ihren jüdischen Großeltern und ist doch keine Jüdin im strengen Sinne. Ihre Großeltern haben den Holocaust überlebt, sie selber soll cool bleiben bei antisemitischen Sprüchen. Dagegen wehrt sie sich.
    Sie lebt in Berlin, sie reist nach Tel Aviv, wo im Sommer 2014 Krieg herrscht. Sie besucht ihren Großvater und ihren Geliebten, Shlomo, der vom Soldaten zum Linksradikalen wurde und seine wahre Geschichte vor ihr verbirgt. Lola verbringt Tage voller Angst und Glück, Traurigkeit und Euphorie. Dann wird sie weiterziehen müssen. Hartnäckig und eigenwillig, widersprüchlich und voller Enthusiasmus sucht Lola ihre Identität und ihr eigenes Leben.


    Über die Autorin:
    Mirna Funk wurde 1981 in Ost-Berlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin, unter anderem für »Der Freitag« und »Zeit Magazin« und schreibt über Kultur, Lifestyle und Kunst. Sie lebt in Berlin und Tel Aviv. Im Sommer 2014 berichtete sie für das Magazin »Interview« aus Israel und von ihrem dortigen Leben im Ausnahmezustand.


    Mein Eindruck:
    Wie ein junger Mensch mit jüdischer Identität in Deutschland lebt, könnte mich interessieren. Wie das umgesetzt wurde, hatte mich leider überwiegend nicht überzeugt. Manche Lebensfakten Lolas stimmen mit denen der Autorin überein, z.B. das Wahrnehmen antisemitischer Tendenzen in Deutschland (Beispiel: Jemand sagt: Der jüdische Vermieter zeige eine "typisch jüdische" Eigenschaft - Gier.)
    Oder auch das sie von Deutschland nach Israel geht Das hat die Autorin auch erst vor kurzen gemacht und ich habe den Eindruck, ihr fehlt vielleicht ein wenig an Distanz zum Thema, um einen wirkungsvollen Roman darüber zu schreiben.


    Die gesamte Handlung ist auf die Hauptfigur Lola zugeschnitten und ausgerechnet diese Person entfaltet sich meiner Meinung nur ungenügend. Vielleicht wäre ein Erzählen in erster Person besser gewesen, um dem Leser Zugang zu Lola zu gewähren. Überraschend war auch, dass relativ wenig Details vom Alltagsleben in Tel Aviv beschrieben werden, dabei hätte das interessant sein können. Es gibt dann auch noch einen langen Abschnitt in Bangkok, der ebenfalls von der Wirkung her verpufft.


    Stilistisch erscheint mir der Roman verkrampft und nicht sehr kunstvoll. Das erschwert das Lesen und schadet den Themen.


    Für mich war das Buch kein Erfolg, andere Leser werden es anders sehen.

  • Winternähe – Mirna Funk


    Lola ist Anfang dreißig, ihr Talent zum Fotografieren hat ihr eine Stelle in einer Firma für Bilddatenbanken eingebracht. Sie lebt in Berlin, ihr soziales Leben spielt sich altersgemäß in Kneipen, Restaurants, Bars und Discotheken ab, natürlich mit einem ‚Szene-‚ davor. Wesentlich für dieses Leben ist die digitale Welt, man chattet, dated über WhatsApp und Tinder, hat mindestens einen Facebook-Account. Skype und Smartphone bedient man ohne hinzusehen. Eine moderne Welt ist das, durchtechnisiert, glatt, glänzend, immer funktionstüchtig.


    Als Antisemitismus in diese Welt einbricht und ausgerechnet Lola das Opfer wird, ist sie starr. Damit hat sie nicht gerechnet, nicht in dieser Welt, nicht in dieser Zeit und ganz bestimmt nicht mit sich als Zielscheibe.
    Von da an sieht Lola ihre Welt anders, Antisemitismus grassiert, aber niemanden scheint das zu stören. Lolas schlechte Erfahrungen fördern auch ihre eigene Befindlichkeit zutage. Probleme mit ihrer Familie, mit einer Prägung als Enkelin von Holocaust-Überlebenden, einer Kindheit in der DDR samt Vater als Republikflüchtigem und einer Mutter, die sich offenbar bedenkenlos scheiden ließ, dem Ende der DDR und unentwegt der Frage des Jüdischseins.


    Funk packt sehr viel in dieses Buch. Zusammengehalten wird das durch die Hauptfigur. Sie ist die Nabe, von der die Streben ausgehen und das Rad bilden, das sich immerzu dreht. Sich jüdisch fühlen, aber den religiösen Gesetzen nach keine Jüdin sein, weil ihre Mutter es nicht war. Sich für Israel einsetzen, mit der Last der spezifischen deutschen Vergangenheit zurechtkommen. Tragen, daß sie von ihrem Vater verlassen wurde. Lola schreibt immer wieder Briefe an ihn, voller Vorwürfe und Anklagen, die sie aber nie abschickt.
    Eine Liebe zu einem Israeli führt Lola nach Israel, mitten in den Krieg. Sie flieht nach Thailand, um Frieden zu finden, die Autorin läßt sie eine Überraschung erleben.


    Auch als Leserin wird man überrascht. Lola steht nie still, ihre Gedankenmühle rattert unablässig. Sie bewegt sich viel saust hierhin, dorthin, hält es nur in Phasen tiefer Niedergeschlagenheit mal auf einer Stelle aus. Sie braucht Geräusche, Töne, Worte, laute Musik, leidet zugleich unter dem Lärm – die Beschreibungen des irrsinnig lauten Tel Aviv sind faszinierend – und ist lange doch nur von einem Geräusch besessen, den Raketen auf Israel.
    Die Gefühle sind sehr stark, Sexszenen ausgebreitet. Doch sie haben eine Funktion, sie sind Bewegung wie Lola Bewegung ist, ihre Art, Nähe zu suchen und zu spüren und lebendig zu sein.


    Angelegt ist die Geschichte als Roman über Antisemitismus heute und offenbar wird sie auch so gelesen. Tatsächlich ist sie es nicht. Das liegt an der falschen Voraussetzung dafür. Lola stellt Fragen, das soll sie auch, denn es geht hier um die Beantwortung der Fragen. Aber sie stellt die falschen. Sie stellt nur Fragen, auf die Antworten vorgegeben und dementsprechend längst platt gewalzt sind.


    Lola leidet, weil sie Nabelschau betreibt. Die Welt außerhalb von Lola existiert nicht und wenn doch, so muß sie nach Lolas Regeln funktionieren. Die Romanfigur ist keine aufklärerische Heldin im Kampf gegen Antisemitismus, sondern ein verletztes Kind, das am liebsten alte Wunden leckt und heult. Sie klammert sich an ein vermeintliches Paradies und wird böse, weil sie entdecken muß, daß es kein Paradies gibt und vor allem keine Ruhe.


    Funk läßt sich eine Menge einfallen, um Antisemitismus und die Schwierigkeiten mit Israel zu belegen. Aber es wird zu kurz gedacht, sie präsentiert nur einen Ausschnitt eines Grundproblems, das tatsächlich Rassismus heißt. Antisemitismus ist nur eins seiner Gesichter. Politik gibt es nicht in diesem Buch, dabei hat es ein hochpolitisches Thema. Das ist nicht Israel, das in diesem Roman in einem nahezu luftleeren Raum existiert, in dem es keine großmachtpolitischen, wirtschaftspolitischen, geo-strategischen Zusammenhänge, aber auch keine moderne israelische Gesellschaft mit ihren Problemen, gibt, sondern nur das Erbe des Holocaust und ‚Palästinenser‘.


    Das eigentliche Thema ist die Beschreibung einer Vertreterin einer Generation, die mit hochentwickelten technischen Möglichkeiten ausgerüstet ist, sie aber zu nichts anderem einsetzen kann als zum Spielen. Funks Figuren leiden, aber sie leiden aus Unreife, an einem Kinderglauben, an den Folgen von Hochglanzversprechungen aus Scheinwelten. Sie ertrinken in Informationen über alles und jedes und können sie doch nicht sortieren.
    Für alles, was bewiesen wird, gibt es im Internet gleich einen Gegenbeweis, sagt Lola einmal sinngemäß. Für sie ist die Ausrede, sich um gar nichts zu kümmern, sondern sich ins private Elend zurückzuziehen. Leiden ist so süß und verlangt einer doch nichts ab.


    Die ‚politischen‘ Diskussionen sind ebenso nur ein Spiel. Es wird alles aufgeboten, was man sich an Pro und Kontra an die Köpfe werfen kann, stundenlang, tagelang, zwei Generationen lang, ohne daß sich etwas ändert. Dazu müßte man nämlich einen Standpunkt einnehmen und eben das ist, was Lola scheut. Auch das gehört zu dieser Figur.
    Am Ende darf eine Palästinenserin den erlösenden Satz sagen, mitten in Bangkok, anläßlich irgendeines angesagten Kunst-Events. ‚Wir haben eine Wahl.‘


    Leider ist der Satz keineswegs erlösend, sondern wird sofort verwässert, weil daraus eine Moral abgeleitet wird, die in Gut und Böse zerfällt. Wer bestimmt, was gut oder böse ist, wird nicht gefragt. Mit der Wahl und der Moral sind Lola, die sich als Jüdin fühlt, und ihre palästinensische Bekannte in Bangkok mit dem Nachdenken ohnehin zuende und gehen einträchtig in einen Schönheitssalon zu einem ‚Facial‘. Mädels von heute eben.


    Dieses Buch ist umwerfend und eine Katastrophe gleichermaßen. Funk schreibt am Thema vorbei, daß man schreien könnte und bietet doch so viel zum Nachdenken, daß man Tage diskutieren kann. Es ist kurzsichtig und beschränkt und öffnet doch den Blick, es ist dumm und klug, zum Schreien ärgerlich und dann zum herzen schön.
    Nicht wenig dazu trägt die Sprache bei. Es ist ein eigener Ton, ein eigenes Vokabular, es gibt ganz neue Blicke auf Menschen, Gegenstände, Landschaft. Hier sucht man vergeblich die wunderschönen Satzgebäude, die vor allem jüngere AutorInnen so perfekt zu bauen gelernt haben, daß sie fast vergessen haben, auch etwas damit zu sagen.
    Dieses Buch ist anders. Es erfüllt, macht satt. Es ist eine Lese – und Denkerfahrung, das seinseglichen sucht.
    Es ist ein Buch, ein richtiges Buch.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Titel: Winternähe

    Autorin: Mirna Funk

    Verlag: Fischer TB

    Erschienen: Mai 2017

    Seitenzahl: 342

    ISBN-10: 3596033489

    ISBN-13: 978-3596033485

    Preis: 10.99 EUR


    Das sagt der Klappentext:

    Wer bestimmt darüber, wer wir sind? Lola ist Deutsche, und sie ist Jüdin. Sie fragt sich: Wie viel von mir selbst steckt in meiner eigenen Biographie? Wie lässt sich die Gegenwart mit meiner Vergangenheit in Einklang bringen? Lola macht sich auf eine Reise, die sie von Berlin nach Tel Aviv und Bangkok führt. Sie stellt unbequeme Fragen und sucht gefährliche Orte auf. Sie konfrontiert uns mit Antisemitismus in Deutschland, dem Krieg in Israel im Sommer 2014 und der Frage nach Identität in einer globalisierten Welt.


    Die Autorin:

    Mirna Funk wurde 1981 in Ost-Berlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin, unter anderem für "Der Freitag" und "Zeit Magazin" und schreibt über Kultur, Lifestyle und Kunst. Sie lebt in Berlin und Tel Aviv. Im Sommer 2014 berichtete sie für das Magazin "Interview" aus Israel und von ihrem dortigen Leben im Ausnahmezustand.


    Meine Meinung:

    Ein interessantes und lesenswertes Buch – welches aber in erster Linie durch seine dort beschriebene Problematik überzeugt, weniger aber durch seine schriftstellerische Leistung, denn die ist eher wohl nur „Durchschnitt“. Nichtsdestotrotz wird in diesem Roman deutlich, wie weit der Antisemitismus in diesem Land schon wieder auf dem Vormarsch ist. Die Antisemiten verstecken ihre Einstellung hinter einer mehr als lächerlichen Israel-Kritik, denn Kritik an Israel ist natürlich nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen – obwohl uns gerade hier täglich etwas anderes präsentiert wird. Man kann so seinen gelebten Antisemitismus wunderbar hinter vermeintlicher Kritik an Israel verstecken. Naja – und die Juden die waren ja schon immer mit Vorsicht zu genießen.

    Die Autorin macht mehr als deutlich, dass Kritik an Israel legal ist – dass aber in der Regel diese Kritik nichts weiter ist als versteckter, widerlicher Antisemitismus (siehe dazu beispielsweise Todenhöfer oder SPIEGEL/FREITAG-Augstein – Antisemiten der übelsten Art).

    Es wäre schön gewesen, wenn die Autorin in schriftstellerischer Hinsicht ein wenig mehr zu bieten gehabt hätte. Manchmal überzeichnet sie, manchmal schreibt sei einfach nur „unrund“.

    Trotzdem ein sehr lesenswerter Roman – der aufgrund seiner politischen Bedeutung gute 7 Punkte bekommt.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.