• Bauart


    In der U-Bahn, neulich.
    Gegenüber so einer mit Alkoholvergangenheit, -gegenwart und -zukunft.
    Der Dunst der Kleider stammt nicht von besseren Tagen, Seife und Wasser schauen vielleicht mal auf eine Selbstgedrehte vorbei.
    „Gute Titten“, sagt er auf schwarzen Zahnlücken.
    „Hmhm“, sage ich. „Aber nur gucken, nicht anfassen.“
    Er zieht eine Fuhre Rotz hoch, schluckt, daß ich die Halsmuskeln schwellen sehen kann
    „Ehrlich wie ‘ne alte Hure“, meint er, als er wieder Spucke hat.


    Für Komplimente, die von Herzen kommen, muß man gebaut sein.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Sehr authentisch, beschreibt eine Situation so - wie sie beschrieben werden soll. Kurz, knapp, sachlich ohne dümmliche Ausschmückungen. Der Text berührt, der Text macht nachdenklich - auch dann wenn man täglich mit der U-Bahn fährt.


    Leider begegnet man diesen Menschen nicht selten - sie kreuzen häufiger unseren Weg als wenn die Gesellschaft sie ignorieren könnte - aber sie (die Gesellschaft) ignoriert.


    Man könnte glatt auf den Gedanken kommen, das irgendwo irgendetwas grundlegend schief läuft.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Starker Text, der sofort mein Kopfkino anwirft. Witzig, dass mir gestern etwas ähnliches tatsächlich passiert ist.
    Menschen leben an ein und demselben Ort, aber manchmal in grundverschiedenen Welten. Wenn man bei seltenen Gelegenheiten in eine andere hinein linst, gewinnt man befremdliche bis erheiternde Einblicke.


    Eine Verständnisfrage, müsste das nicht "gegenüber einem" heißen?

  • Zitat

    Original von Suzann


    Eine Verständnisfrage, müsste das nicht "gegenüber einem" heißen?


    Ergänze "sitzt": Gegenüber (sitzt) so einer mit Alkoholvergangenheit ...

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Zuckelliese, das ist keine schöne Erfahrung. Was mich aber am meisten ärgert, ist, dass mir da die gute Reaktion meist erst sehr spät einfällt, wenn die Situation längst rum ist.
    Ich habe mal eine Frau erlebt, die im vollen Bus einen Mann laut angebrüllt hat, er solle seine Grapschfinger von ihrem Hintern nehmen. Der hatte keine gute Zeit mehr in dem Bus. :schlaeger

  • Ein guter kurzer Text einer Alltagsbegegnung, wie sie jeder von uns erleben, aber nicht jeder von uns so gut beschreiben kann wie Magali.


    Auch der zweite Satz: Gegenüber so einer mit... ist genau richtig geschrieben, denn genau so würde man es erzählen.

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Das Leben ist wie eine Losbude, wenn Du als Niete gezogen wurdest, kannst Du kein Hauptgewinn werden.":chen

  • Zitat

    Original von Marlowe


    Auch der zweite Satz: Gegenüber so einer mit... ist genau richtig geschrieben, denn genau so würde man es erzählen.


    Bin auch der Meinung, dass dieser Satz von Magali genauso gewollt war. Denn so spricht man eben.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Marlowe
    Ein guter kurzer Text einer Alltagsbegegnung, wie sie jeder von uns erleben, aber nicht jeder von uns so gut beschreiben kann wie Magali.


    Auch der zweite Satz: Gegenüber so einer mit... ist genau richtig geschrieben, denn genau so würde man es erzählen.


    Da kommt mir mein bayerischer Hintergrund dazwischen. Für mich könnte das auch eine Frau mit Alkohollaufbahn sein und das sorgt beim ersten Lesen für Verwirrung. ;-)

  • Danke.


    :-)



    Verknappung/Verdichtung war das Ziel, Sozialkritik weniger. Da geht die Analyse vor, bei dem Thema bin ich nicht reif für Fiktionalisierung.


    Suzann


    Erzählerin ist 'Ich', aus der Perspektive ist das Gegenüber zu sehen. Der Satz ist verkürzt, wie churchill schreibt. 'Mir gegenüber sitzt so einer ...'
    Wäre es eine Frau, hieße es: gegenüber so eine ... = Mir gegenüber sitzt so eine ...
    Und ja, es gibt einen Bericht wieder, erzählt von der Betroffenen. Alltagserlebnis.


    Unterwegs mit den Öffentlichen schlägt so manchen Film. :lache In der Regel mag ich es, ich mag auch die Leute, hatte aber auch schon Begegnungen der dritten Art, auf die ich hätte verzichten können.
    Am besten gefällt mir, was man so zu hören bekommt. Ich müßte es immer gleich aufschreiben, weil es auf den Zungenschlag ankommt und eben den vergesse ich leicht. Aber entweder hab ich die Hände voll, Einkaufstaschen meist, oder die Situation ist so, daß ich nicht grad mein Notizbuch zücken kann und zu schreiben anfangen. In einer Gruppe von Punks oder neben einer Zugedröhnten kommt das nicht so gut. ;-)


    Extra Dank für das Lob des letzten Satzes, für den habe ich am längsten gebraucht. Die vorliegende ist ca. Version 17. :lache



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus