Stephan Wackwitz: Die Bilder meiner Mutter
S. FISCHER 2015. 240 Seiten
ISBN-13: 978-3100024206. 19,99€
Verlagstext
Stephan Wackwitz erzählt das Leben seiner Mutter, wie es war und wie es hätte sein können – mit Warmherzigkeit und Einfühlung, mit Intelligenz und Genauigkeit. Hineingeboren in eine schwäbische Industriellenfamilie in Esslingen am Neckar, flieht die 1920 geborene Margot vor dem autoritären Vater ans Berliner Lettehaus, wo sie das Modezeichnen erlernt. Aber trotz frühen künstlerischen Erfolgen und einer Amerikareise gelingt es ihr im Wirtschaftswunder-Deutschland nicht, aus ihrer Begabung mehr zu machen als das Hobby einer Ehefrau und Mutter in der deutschen Provinz. Das 20. Jahrhundert hat Frauen wie ihr alle Möglichkeiten eröffnet – und sofort wieder verschlossen.
Der Autor
Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, studierte Germanistik und Geschichte in München und Stuttgart. Er leitet heute das Goethe-Institut in Tiflis, nach Stationen in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio, München, Krakau, Bratislava und New York. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane („Die Wahrheit über Sancho Pansa“, „Walkers Gleichung“), autobiographische Bücher („Ein unsichtbares Land“, „Neue Menschen“) sowie die Reisebücher „Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen“, „Osterweiterung“, „Fifth Avenue“ und „Die vergessene Mitte der Welt“.
Inhalt
Stephan Wackwitz Mutter Margot ist Jahrgang 1920 und gehört damit zu der Frauengeneration, die als Jugendliche vom Nationalsozialismus geprägt wurden und als Mütter die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge erzogen. Margot Wackwitz ist zugleich eines der „Kriegskinder“, das an der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit ihres Vaters litt. Die Aufarbeitung der Familienkonflikte reichte über zwei Generationen und dauerte allein in der Studentenzeit des heute 63-jährigen Autors Jahre. Vermutlich lebten in keiner späteren Generationenfolge Eltern und Kinder in so verschiedenen Welten wie die 1920 und die 1950 Geborenen. Zur Versöhnung zwischen den Generationen könnte auch die Arbeit an diesem Buch beigetragen haben. Wackwitz Mutter hinterlässt ein Tagebuch, mit dem sie in den letzten beiden Jahren vor ihrem Tod ihr verrinnendes Leben festhielt, ihre Briefe an den erwachsenen Sohn und eine bemerkenswerte Sammlung von Zeichnungen. Margot Wackwitz ragt aus ihrer Generation durch ihre Herkunft aus wohlhabender schwäbischer Industriellenfamilie heraus, die ihr von 1936 an eine Ausbildung als Modezeichnerin ermöglichte. Die Ausbildung einer Tochter in einer fremden Stadt, hier an der Berliner Frauen-Kunstakademie Lette-Haus, hätte sich eine Durchschnittsfamilie damals nicht leisten können. In den 30ern wurden Mädchen Köchin, Kinderpflegerin, Büroangestellte. Eine Berufsausbildung sollte damals möglichst schnell Geld in die Familienkasse bringen, und Geschwister sollten in ihren Chancen auf eine Ausbildung nicht benachteiligt werden. Modezeichnerin war noch in den 60ern der Traumberuf kleiner Mädchen, auch wenn die Modezeichnung in Illustrierten zu dem Zeitpunkt schon durch die Modefotografie abgelöst worden war.
Charakteristisch verläuft Margot Wackwitz Lebenslauf, als sie nach Kriegsende und Heirat nicht mehr als selbstständige Modedesignerin den größeren Teil des Familieneinkommens beisteuert. Sie wird zur Assistentin ihres Mannes, der eines der ersten Goethe-Institute in Deutschland leitet. Die „mithelfende Ehegattin“ war ein damals ein verbreiteter Lebensentwurf für Frauen, oft mit fatalen Folgen für deren Alterssicherung. Nicht dass Margot Wackwitz berufstätig war, sondern in welcher Position sie arbeitete, entschied in ihren mittleren Jahren vermutlich über ihr Lebensglück. Der Chronist dieses Frauenlebens hat die entscheidenden Impulse für sein eigenes schöpferisches Leben nicht von Vater oder Großvater erhalten, sondern von seiner Mutter. Die wiederum sieht im Sohn die Fortsetzung ihrer abrupt beendeten künstlerischen Möglichkeiten.
Fazit
Wackwitz Erforschung eines für die Kriegs- und Nachkriegszeit ungewöhnlichen Frauenlebens gibt Lesern der Gegenwart einen höchst interessanten Einblick in das Frauenbild der 50er und 60er, speziell auch in das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Wackwitz hält sich einerseits stark zurück mit Kindheitserinnerungen seiner Mutter, die sie ihm selbst erzählt haben könnte; stärker vertieft er sich in die hinterlassenen Dokumente, die Psychoanalyse des Mutter-Sohn-Verhältnisses an sich und in literarische Vorbilder (wie z. B. Irmgard Keuns kunstseidenes Mädchen) und zieht Parallelen zu Lebenserinnerungen von Zeitgenossinnen. Gerade weil in den 50ern Kinder in den ersten Lebensjahren weit stärker von ihren Müttern geprägt wurden als die heutige Generation, fand ich die Distanz zwischen Mutter und Sohn streckenweise befremdlich, die für mich durch die starke Nutzung literarischer Quellen spürbar wurde. Interessant wäre, ob es aus der Perspektive von Töchtern weniger weiße Flecken in den Biografien der Mütter geben würde.
Margot Wackwitz im Buch abgedruckte (teils farbige) Original-Zeichnungen erinnern an einen Frauenberuf, der in der beschriebenen Form schon vor längerer Zeit sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand. Ein Buch über Ausbruch, Aufgabe und spätere Sinnsuche, bei dem für meinen Geschmack die Person des Autors stärker hinter die Persönlichkeit der Mutter hätte zurücktreten sollen.
9 von 10 Punkten