Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter
Deutsche Verlags-Anstalt 2015. 320 Seiten
ISBN-13: 978-3421047199. 19,99€
Originaltitel: Go Set A Watchman
Übersetzer: Klaus Timmermann, Ulrike Wasel
Verlagstext
Sensationeller Manuskriptfund - das literarische Ereignis im Sommer 2015
Harper Lee hat bisher nur einen Roman veröffentlicht, doch dieser hat der US-amerikanischen Schriftstellerin Weltruhm eingebracht: „Wer die Nachtigall stört“, erschienen 1960 und ein Jahr später mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet, ist mit 40 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen eines der meistgelesenen Bücher weltweit. Mit „Gehe hin, stelle einen Wächter“ – zeitlich vor „Wer die Nachtigall stört“ entstanden – erscheint nun das Erstlingswerk. Das Manuskript wurde nie veröffentlicht und galt als verschollen – bis es eine Freundin der inzwischen 89-jährigen Autorin im September 2014 fand. In „Gehe hin, stelle einen Wächter“ treffen wir die geliebten Charaktere aus „Wer die Nachtigall stört“ wieder, 20 Jahre später: Eine inzwischen erwachsene Jean Louise Finch, „Scout“, kehrt zurück nach Maycomb und sieht sich in der kleinen Stadt in Alabama, die sie so geprägt hat, mit gesellschaftspolitischen Problemen konfrontiert, die nicht zuletzt auch ihr Verhältnis zu ihrem Vater Atticus infrage stellen. Ein Roman über die turbulenten Ereignisse im Amerika der 1950er-Jahre, der zugleich ein faszinierend neues Licht auf den Klassiker wirft. Bewegend, humorvoll und überwältigend – ein Roman, der seinem Vorgänger in nichts nachsteht.
Die Autorin
Harper Lee wurde 1926 in Monroeville/Alabama geboren. Sie studierte ab 1945 Jura an der Universität in Alabama, ging aber vor dem Abschluss nach New York und arbeitete bei einer internationalen Luftverkehrsgesellschaft. Sie erhielt 1961 als erste Frau seit 1942 den Pulitzerpreis und lebt heute zurückgezogen in New York.
Inhalt
Scout, die kleine Jean Louise Finch aus Wer die Nachtigall stört, ist zurück in Maycomb/Alabama. Die junge Frau lebte und studierte inzwischen in New York und sieht sich im Ort ihrer Kindheit einem sichtbar ergrauten und gealterten Vater gegenüber. Atticus Finch hatte in den 1930ern seine beiden Kinder allein erzogen mit Hilfe einer schwarzen Haushälterin und seiner Schwester. Jean Louise wirkt bei diesem Besuch wie ein aus dem Nest geschubster Jungvogel, der noch nicht wahrhaben will, dass es kein Zurück mehr in die Zeit der Kindheit gibt. Nachdem Atticus den Tod seines Sohnes erleben musste, hat er eine enge Beziehung entwickelt zum Freund dieses Sohnes, Henry, den er gern als Nachfolger in seiner Anwaltskanzlei sehen würde. Louise, unvergesslich als rebellische Latzhosenträgerin, wuchs nur unter Jungen auf, ihrem Bruder, Henry und Dill (d. i. die Figur, für die Harper Lees Jugendfreund Truman Capote Modell stand). Für viele in Maycomb ist Jean Louise noch immer die unternehmungslustige "Scout". Louise muss sich nun entscheiden, ob es für sie ein Zurück in ihren Heimatort geben wird und ob ihre enge Kinderfreundschaft zu Henry Basis einer Ehe sein kann.
Louise klagt darüber, dass sie nicht genug aus Maycomb erfährt, weil niemand ihr ausführlich nach New York schreibt. Es ist erschreckend, von wie vielen für den Ort aktuellen Themen sie völlig ahnungslos ist (z. B. dem Strukturwandel von der Sklaverei zur Fabrikarbeit). Tante Alexandra, eine Verkörperung der Tante an sich, sorgt sich wie eh und je, was die Leute über die unverändert in Hosen gekleidete Jean Luise denken werden. Alexandra hat keine eigenen Ansichten, sie vertritt die Standpunkte Maycombs, wo jeder jeden kennt und alle irgendwie miteinander verwandt sind. Mit Tante Alexandra, die sich seinerzeit mit ihren Disziplinierungsversuchen zwischen Jean Louise und ihren Vater gedrängt hatte, kann die junge Frau Luise nur klarkommen, wenn zwischen ihnen ein halber Kontinent liegt. Alexandra stellt in beiden Romanen Harper Lees eine starke Figur dar. Im ersten Band steht Alexandra mit ihren Bändigungsversuchen für das Ende von Louises ungezwungener Kindheit und die ihr aufgezwungene Frauenrolle. Ein Rückblick in diesem Buch auf Louises erste Menstruation zeigt ihren Kampf gegen die ungeliebte Rolle als Frau noch einmal eindringlich.
In Alexandras Leben mit ihren Wohltätigkeitsvereinen und Kaffeekränzchen hat sich rein gar nichts geändert. Stark verändert hat sich offenbar Atticus in seinen politischen Ansichten. Der Mann, der ohne Rücksicht auf persönliche Verluste in "Wer die Nachtigall stört" einen schwarzen Angeklagten vor einem nur mit Weißen besetzten Schöffengericht verteidigte, empfindet nun offenbar Skrupel, der schwarzen Mehrheit Alabamas vollständige Bürgerrechte zuzugestehen.
Fazit
Ob die betagte Harper Lee ihren Roman tatsächlich in dieser Form veröffentlicht sehen wollte, scheint noch ungeklärt. Zunächst stellt die Geschichte Vertrautheit mit Jean Louises Kindheitserlebnissen her. Zu einer mit Lees Welterfolg vergleichbaren Faszination fehlen diesem Roman m. A. die überzeugende Perspektive eines Kindes (dort als Beobachter eines Gerichtsverfahrens) und das Bangen der Leser um das Schicksal des Angeklagten. Atticus politischer Standpunkt, seine Aktivität im Bürgerrat des Ortes und Louises Enttäuschung über die Wandlung des Helden ihrer Kindheit waren für mich zunächst schwer nachvollziehbar. Die Aussprache zwischen Vater und Tochter zu Atticus politischem Standpunkt fand erst sehr spät im Buch statt. Als die Bürgerrechtsbewegung in den USA und die NACCP noch in aller Munde waren, wäre mir dieser Teil des Romans vermutlich leichter zugänglich gewesen.
Harper Lees Romane als Ganzes gesehen ragen für mich als humorvolle, einfühlsame Entwicklungsgeschichte eines mutterlos aufwachsenden Mädchens heraus. Im ersten Roman musste Jean Louise die Stufe zur Frau überwinden, im "Wächter" muss sie sich mit dem Ende ihrer Kindheit und dem Altern ihres Vaters abfinden. "Wer die Nachtigall stört" habe ich erst vor kurzem neu gelesen, anschließend Alexandra Lavizzaris sehr gute Biografie über Harper Lee und Truman Capote Glanz und Schatten: Truman Capote und Harper Lee - eine Freundschaft. Mit dieser Einstimmung vervollständigt "Gehe hin, stelle einen Wächter" (der Wächter steht symbolisch für das Gewissen) nun ein Gesamtbild der 30er und 50er Jahre in Alabama. Die Handlung des ersten Bandes sollte Lesern dieses Buches jedoch vertraut sein.
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Zitat
"Jean Louise grinste. Nach Auffassung ihres Vaters brauchte man nach dem Jurastudium mindestens fünf Jahre, bis man als Anwalt Erfolg hatte. Die ersten zwei Jahre lebte man von der Hand in den Mund, dann lernte man zwei Jahre lang die besonderen juristischen Gepflogenheiten im Staat Alabama, und im fünften Jahr las man noch einmal die Bibel und Shakespeare. Erst dann war man rundum gerüstet, um mit allen Eventualitäten fertigzuwerden." (S. 44)
8 von 10 Punkten