Schreibwettbewerb Mai 2005 - Thema: "aus heiterem Himmel"

  • Thema Mai 2005:


    "aus heiterem Himmel"



    Vom 01. bis 20. Mai 2005 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Mai 2005 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de oder über das Kontakt-Formular (s.o. im Forum) zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.



    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörter wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    => Schreibt Eure Beiträge in Word und nutzt die Rechtschreibhilfe. Im Programm Word findet Ihr unter „Extras“ die Möglichkeit „Wörter zählen“.



    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Doc Hollywood


    „Steinböcke sollten sich mit Entscheidungen in Liebesangelegenheiten Zeit lassen.“, las ich mir selbst laut vor und klappte die Zeitschrift zu. Ein Blick auf das Erscheinungsjahr verriet, daß ich mir gut und gerne zehn Jahre zuviel Zeit gelassen hatte. Das zerfledderte Magazin landete auf dem kleinen Stapel neben dem Spülkasten. Mir war schlecht. Ich riss ein paar Blatt Klopapier von der Rolle und hing auf der Toilette hockend weiter meinen trübsinnigen Gedanken nach.


    Markus und ich sind seit über 20 Jahren zusammen. Wir haben keine Kinder bekommen, was uns anfangs sehr zu schaffen gemacht hat. Es hat gedauert, bis wir unser Leben auf andere Dinge ausrichten konnten und unser Kinderwunsch – oder war es meiner? - nicht mehr alles bestimmend war. Wir haben das Haus mittlerweile verkauft, zu groß für zwei Leute und zuviel Arbeit für zwei Berufstätige. Meine kleine Karriere in der Firma ist als Chefsekretärin wohl am Ende angelangt, weiter geht es bei uns nun mal nicht. Und Markus schuftet weiterhin als Bauleiter tagein tagaus und kommt immer wieder mit verdreckten Schuhen nach Hause. Irgendwie gleicht ein Tag dem anderen. Jede Woche läuft ab, wie die zuvor. Monate und Jahre scheinen nur Spiegelbilder ihrer selbst zu sein. Es passiert nichts mehr. Heute Abend wollte ich Markus eigentlich sagen, daß ich so nicht mehr weitermachen kann, daß ich mit ihm nicht mehr weitermachen kann. Eigentlich.


    Jetzt schaue ich auf einen rosagefärbten Teststreifen und alles ist auf einmal anders. Sollte es zumindest sein, oder? Schwanger. Warum jetzt?

  • von Vintersorg


    Schnee.
    Als er an diesem trüben Tag aus dem Fenster schaute, war das erste, was er sah, taumelnde Schneeflocken, die langsam dem Boden entgegen schwebten. Er hatte Schnee schon immer gemocht, er erinnerte ihn an seine Kindheit. Die kindliche Naivität, mit der man der Welt gegenüber trat. Noch völlig unbewegt von dem Geschehen um einen herum, ahnungslos, behütet. Der Schnee brachte ein Stück davon zurück, legte seinen weißen unschuldigen Mantel über die Erde, mit all ihren schmutzigen Geheimnissen und Begebenheiten, die er am liebsten gar nicht kennen gelernt hätte.
    Nun stand er hier in dieser einsamen Wohnung, noch jung an Jahren, doch schon gealtert durch die Belastungen, die das Leben ihm zumutete. Haderte mit dem Schicksal….War es überhaupt Schicksal, oder nur menschliche Schwäche?
    Über all das musste er nachdenken, als er dem Schneetreiben zusah.
    Im Hintergrund klingelte gedämpft sein Telefon….


    Schnee.
    Sie hatte dieses Zeug schon immer gehasst, dass zwar anfangs ganz nett aussah, sich aber nach und nach seiner Umgebung anpasste und zu einem dreckigen und grauen Matsch mutierte. Sie war auf der täglichen Suche nach dem Glück, nach dem nächsten Kick…den nächsten Schuss. Wie auch immer man es nennen wollte, es nahm einen gefangen und ließ einen nicht mehr los. Die Erinnerungen brannten sich in einen hinein und kehrten wieder in schlaflosen Nächten…an Tagen an denen man das Vergangene schon längst vergessen wähnte.
    Deswegen war sie auch wieder unterwegs, immer in Bewegung bleiben, vielleicht konnte man irgendwo was abgreifen, den Heil bringenden Schuss, der einen über die nächsten Stunden brachte. Es hatte aufgehört zu schneien, die Sonne zeigte sich zwischen den Wolken und verbreitete trügerischen Optimismus. Sie schaute in den Himmel und kniff geblendet ihre Augen zusammen.


    Sonne.
    Er öffnete das Fenster und ließ sich die Strahlen direkt ins Gesicht scheinen und hatte die lächerliche Hoffnung, dass diese die Erinnerung an das Telefongespräch mit seiner nun wohl Ex-Freundin aus dem Hirn heraus brennen würde.
    Wie konnte sie ihm das antun? Sie war doch das Letzte, was er auf dieser Welt noch hatte und jetzt serviert sie ihn ab…was glaubte die, wer sie war? Aufgebracht wählte er ihre Nummer. Nach zweimaligem Klingeln meldete sich eine Frauenstimme. Aber nicht die Richtige. Nein, sie wolle ihn nicht sprechen, nein es wäre nicht besser, wenn er jetzt vorbeikäme und nein, sie hat keinen neuen. Verarschen konnte er sich selbst….er schrie sekundenlang undefinierbares Zeug in den Hörer, bis er Begriff, dass sein Gesprächspartner längst aufgelegt hatte. Diese dumme….sein ganzer Welthass stieg nun in ihm auf und schien sich im Gewicht des Telefons zu manifestieren. Wütend schleuderte er das Gerät von sich.


    Nacht.
    Der Schlag, der ihr Nasenbein traf, kam völlig unerwartet. Verwirrt und machtlos ging sie zu Boden und schlug mit ihrem Hinterkopf auf die Bordsteinkante. Stechender, pulsierender Schmerz machte sich in ihrem Kopf breit und ließ sie langsam benommen werden. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie sich ihr Blut einen Weg durch den Schnee bahnte und scheinbar unaufhaltsam auf ein abgegriffenes Telefon zusteuerte….dann wurde alles schwarz.

  • von Milla


    „Oh, schon Feierabend!“ dachte er, als er die letzten Akten von seinem Schreibtisch nahm, sie in die glänzende Ledermappe steckte und noch einmal mit der Hand über seinen Schreibtisch fuhr. Er konnte es nicht leiden, wenn irgendwo an seinem Arbeitsplatz noch Krümel vom Butterbrot herumlagen. Er bugsierte die Thermoskanne in die Ledermappe, entschied sich dann aber wegen der Akten um und nahm die Kanne unter den Arm. Gewissenhaft warf er noch einen Blick durch den Raum, alles war sortiert und aufgeräumt, jetzt konnte er nach Hause gehen. Auf dem Weg zum Ausgang bemerkte er, dass irgendjemand eine leere Zigarettenschachtel neben den Mülleimer geworfen hatte. Stirnrunzelnd sah er sich kurz nach dem Übeltäter um und führte die Schachtel mit einem Seufzen ihrem Bestimmungsort zu.


    Auf dem Heimweg überlegte er sich, was Claudia wohl für ihn gekocht haben mochte. Vielleicht hatte sie ja endlich auch mal den leckeren Linseneintopf nach Mutters Rezept gekocht, den er so liebte. Seit sie bei seiner Mutter eingezogen sind, kochte Claudia, aber irgendwie hatten ihre Gerichte nie den Geschmack von Gemütlichkeit, Feierabend und Zuhause. „Schade, dass Mutter nicht mehr für das Essen zuständig ist“ dachte er, und im gleichen Moment schämte er sich ein bisschen, dass er so egoistische Gedanken hat, schließlich hat sich seine Mutter ihr ganzes Leben für ihn abgeschuftet. Da war es jetzt nur recht und billig, dass sie sich um nichts mehr zu kümmern braucht. Auch wenn Mutter noch sehr rüstig ist, so soll sie ihren Lebensabend genießen und sich nicht noch um den alltäglichen Haushalt sorgen. Außerdem wohnten er und Claudia mietfrei bei ihr, was man bei der heutigen Wohnungssituation nicht verachten durfte. Claudia könnte ruhig ein bisschen dankbarer sein, sie brauchte nicht zu arbeiten, sie konnte sich nach Herzenslust im Haushalt verwirklichen und war tagsüber nie allein, weil Mutter so nett war und ihr Gesellschaft leistete. „Wie konnte er nur bedrückte Stimmung der letzten Zeit zuhause etwas aufbessern?“ Während er noch grübelte, fiel ihm ein Blumenladen ins Auge. Ihm schoss eine Idee durch den Kopf. Eilig betrat er den Laden und suchte einen wunderschönen Strauß aus.


    Sie freute sich sehr über die Blumen, er sah es in ihren strahlenden Augen. Sie drückte ihn feste und murmelte gerührt: „Danke!“ Nachdem er seine Jacke abgelegt hatte, rief er oben an und gab Bescheid „Ich bin noch kurz unten bei Mutter, wir kommen gleich zusammen zum Abendessen hoch.“ Dann erzählte er von seinem Arbeitstag, wie viele Akten er heute abgearbeitet hatte und dass die Kollegen immer schlampiger und unhöflicher werden. Die zufallende Haustür nahm er überhaupt nicht wahr. Nach einer Stunde gingen beide immer noch plaudernd nach oben. Er öffnete die Tür und stolperte fast über seine grauen Filzpantoffel, auf die mit einer winzigen Stecknadel ein kleiner weißer Zettel gepinnt war. Stirnrunzelnd hob er die Schuhe auf, wechselte mit Mutter einen fragenden Blick und begann die schnörkeligen Buchstaben laut vorzulesen: „Heute ist unser letzter Hochzeitstag. Herzlichen Glückwunsch! Claudia“


    Starr ließ er den Zettel fallen und stammelte: „Einfach so? Aus heiterem Himmel?“.

  • von Tom


    Sie saßen auf der Holzbank vor dem Haus, blickten ins Tal, über frühlingssaftige Wiesen, schroffe Felsformationen, die beiden Weiden, auf denen einige Rinder standen, müde schwanzschlagend im Rhythmus der sanften Föhnböen wiederkäuten. Grahammer Ernst hielt die Hand seiner Frau, wie er das immer tat, wenn sie dort saßen, seit fast fünfzig Jahren. Er blinzelte in die Abendsonne, nahm mit der anderen Hand seinen Becher vom grob gezimmerten Tisch, trank einen Schluck Bier, nickte dann. Seine Frau Hilda lächelte. Seit zwanzig Jahren lächelte sie ununterbrochen. Beide sprachen kein Wort.


    Er sah die Spuren am fernen Himmel, weiße Streifen, die aus dem Nichts leicht gebogen in Richtung Erde wiesen, die oberen Enden etwas gezaust im Wind der Stratosphäre. Grahammer Ernst stellte seinen Becher ab und sah zu seiner Frau. Sie lächelte. Ihr Blick verriet nichts, und er hatte nichts anderes erwartet. Ernst stand auf, ging ein paar Schritte. Die pfeilspitzen Enden der Streifen näherten sich langsam dem Erdboden. Fünf Kilometer Entfernung, schätzte er. Jenseits der nächsten Hügelkette lag die Hauptstadt. Er wußte nicht, wie es dort jetzt aussah. Zuletzt hatten sie die Alm verlassen, als ihr Sohn Wilhelm beerdigt worden war. Das war zu einer Zeit geschehen, als Hilde noch nicht fortwährend gelächelt hatte.


    Jetzt konnte er die Bewegung ausmachen. Wie Zuckerkristalle, die in einem Teebecher langsam zu Boden sacken. Mit dem Unterschied, daß es hier kein Trudeln gab. Als wüßten die Streifen, wo ihre Enden zu finden wären. Ernst drehte sich um, der Blick seiner Frau hing nach wie vor im Nirgendwo. Er wandte sich wieder den Streifen zu, hob den Arm. Noch eine Handbreit, dann würden sie hinter der Hügelkette verschwinden. Dort wären es nur noch wenige hundert Meter bis zum Boden.


    „Hilda“, sagte er krächzend, hob die Hände, spürte seine Hilflosigkeit. Und plötzlich lähmendes Entsetzen. In seinem Nacken kribbelte es. Hilda lächelte, aber sie stand jetzt auf, was ihn überraschte. Sie kam zu ihm, nahm seine rechte Hand und schob sie sich in die Ellenbeuge.
    „Wir werden Wilhelm sehen“, sagte sie, ihre ersten Worte seit dem Tod des Sohnes.


    Und dann kam das Licht.

  • von Wilma Wattwurm


    „Jahrelang hatte ich nur für meine Arbeit gelebt, jahrelang waren Frauen tabu gewesen. Ich hatte
    nicht mehr geglaubt, jemals meiner großen Liebe zu begegnen. Doch wie aus heiterem Himmel stand sie eines Tages vor mir“.


    "Nein", polterte der Sonntagsdichter, so ging das nicht, wie sollte da eine Geschichte draus werden. Unzufrieden überlas er die Zeilen, saugte verzweifelt an seinem Kugelschreiber, strich dann das Geschriebene mit wilden Kratzern durch.
    Mit dieser Hitze konnte man auch keinen klaren Gedanken fassen. Er seufzte, wischte sich den Schweiß von der Stirn, und während er den Kugelschreiber wie ein Schiffbrüchiger umklammert hielt, begann er erneut, Wörter auf das Papier zu kritzeln.


    „Ich war nur zum Betriebsfest gegangen, weil der Chef etwas von Beförderung gesagt hatte. Ich hatte mich auf einen langweiligen Abend eingestellt, aus heiterem Himmel stand sie ....“


    Himmelherrgottsakra, daraus war doch keine Geschichte zu machen! Resigniert zerknüllte der Sonntagsdichter das Geschriebene und fegte es zusammen mit den bereits vorhandenen Papierkugeln vom Tisch.
    Heute war die letzte Möglichkeit, seinen Beitrag zum Forumsschreibwettbewerb einzuschicken und er befand sich deutlich in einem „KreaTief“.Er konnte nicht wieder so eine halbherzige Geschichte abliefern, die Stammuser warteten schon mit gespitzten Rotstiften auf der Jagd nach inflationären Adjektiven, recherchetechnischen Unwahrheiten, etcetera.


    Er nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas, lehnte sich zurück und schloß die Augen.


    Er mußte eingenickt sein, denn als er die Augen wieder öffnete, stand die Sonne bereits schräg hinter dem Haus, sodaß die Veranda auf der er saß völlig im Schatten lag. Fröstelnd erhob er sich, um den Stuhl in die Sonne zu rücken.


    Und dann sah er sie. Das konnte doch nicht wahr sein! Ungläubig rieb er sich die Augen, aber das Bild verschwand nicht. Kein Zweifel möglich, da drüben auf dem Liegestuhl im Nachbargarten lag eine junge Frau. Wie war die blonde Schönheit da plötzlich hingekommen, wer war sie? Was für ein Superweib! Wie sie da lag, so unkompliziert, so selbstverständlich, so verlockend in dem klitzekleinen Badeanzug.


    Er starrte die schöne Fremde mit offenem Mund an. Sie blickte zu ihm herüber, lächelte, ein wortloser Gruß, eine Aufforderung fast. Mein Gott, was nun?


    Sie nippte an ihrem Glas, strich mit der Zunge spielerisch über die rotbemalten Lippen. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, ihre riesengroßen Augen schienen ihn zu hypnotisierten. Er versuchte sich aufzurichten, aber seine Glieder waren wie gelähmt.


    Ohne den Blick von ihm zu lassen, erhob sie sich aus ihrem Stuhl.
    Sein Herz hämmerte wie verrückt. Sie kam auf ihn zu, ihre Augen hatten sich in den seinen festgesaugt. Bei jedem Schritt schaukelten ihre üppigen Rundungen hin und her, und sie kam immer näher. Schon war sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt. Sie lächelte verführerisch. Das Blut stockte ihm in den Adern. Sie streckte den Arm nach ihm aus...


    "He, Alter, schläfst du?" Jemand rüttelte ihn unsanft an der Schulter. "Das Abendessen ist fertig!"
    Die schöne Fremde löste sich in Nebelschwaden auf. Er öffnete die Augen. Vor ihm stand Babette, seine Frau, und sah ihn kopfschüttelnd an.

  • von Marlowe


    Max stand seufzend auf und schlurfte ins Badezimmer. Währenddessen rumorte seine Frau bereits in der Küche und bereitete das Frühstück vor.


    „Routine," dachte Max und putzte sich die Zähne. Es blieb bei dieser täglichen Routine bis er sich die Haare kämmte.

    Da verspürte er plötzlich einen starken Schmerz kurz über der Stirn. Mit einem heftigen "Aua" griff er nach diesen zwei Stellen und bemerkte zu seinem Entsetzen zwei kleine Verknorpelungen. "Teufel noch mal," fluchte er, kämmte aber dann, nach dem ersten Schock, vorsichtig um diese beiden Stellen herum.


    Er zwang sich zu einem Lächeln und ging in die Küche. „Routine," dachte er wieder als seine Frau ihm den Morgenkaffee eingoss. Während er einen gleichgültigen Blick in die Morgenzeitung warf, konnte er sich, wie immer, nicht entscheiden, was ihm mehr auf die Nerven ging. Das geistlose Plappern seiner Frau oder das Zwitschern ihrer Kanarienvögel, die versuchten, es ihrer Herrin gleich zu tun.


    Wie gewohnt stand er Punkt halb Acht auf. „Vergiss nicht, dass ich heute zu meiner Mutter fahre,“ sagte seine Frau, „übermorgen bin ich wieder da!“ Er nickte gedankenverloren, setzte seinen Hut auf und ging ins Büro.


    Gegen Mittag wurden die Kopfschmerzen heftiger. Kurz entschlossen meldete er sich krank und ging nach Hause.


    Er nahm zwei Schlaftabletten und als er nach Stunden wieder aufwachte, fühlte er sich besser, nur sein Kopf war so schwer, als würde ein großes Gewicht auf ihm liegen. Mit einem Ruck stand er auf und ging in das angrenzende Badezimmer.


    „Verflucht noch mal,“ murmelte er. Aus seinem Kopf wuchsen zwei wunderschöne Hörner, nein, keine Hörner, ein GEWEIH!


    Mit Mühe kam er nur noch durch die Türe, legte sich vor das Bett, denn durch das Geweih behindert passte er nicht mehr hinein und wartete auf seine Frau.


    Endlich kam seine Frau nach Hause. Er rief sie und bat sie ins Schlafzimmer zu kommen. Sie öffnete die Tür, sah ihren Mann an, wurde wachsbleich im Gesicht, verdrehte die Augen und wurde ohnmächtig.


    Durch das Geweih behindert konnte Max seiner Frau nicht helfen. Er rief einige Male ihren Namen, doch sie stöhnte nur. Daraufhin bewarf er sie mit kleinen Parfumprobefläschchen. Er warf gerade mit einem Fläschchen “Virginia Deer“, als sie mit einem Ruck aufstand und es sie mitten an der Stirn traf. Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Ein Vierzehnender,“ hauchte sie und torkelte in die Küche.


    Sie nahm einen großen Schluck aus einer Schnapsflasche, dann ging sie wieder zu ihrem Mann und da beide sich so sehr schämten, beschlossen sie, erst einmal nichts zu unternehmen.


    Es entwickelte sich sofort wieder eine gewohnte Routine, er blieb im Schlafzimmer, wurde von seiner Frau versorgt, aber auch immer öfter verhöhnt und veralbert. Mit der Zeit wurde das Gefühl, sie erwürgen zu wollen, immer größer und er vermutete, seiner Frau ging es ähnlich, denn das Jagdgewehr im Flur war nicht zu übersehen.


    So vergingen die Tage und Wochen. Beiden war nur eines noch wichtig. Was kam zuerst, der Abwurf des Geweihs oder das Ende der Schonzeit?

  • von Columbo


    Heiner saß auf einem Mauersims, ließ die Beine baumeln und rieb seine Flügel aneinander. Das raschelnde Geräusch lenkte ihn von Jean-Pierres ewigem Geplapper ab. „... mon dieu, isch kann dir sagen, dass ich sähr enttäuscht war, als la petite baronesse misch schließlisch hinauskomplimentiert hatte ...“ Heiner hasste diesen fürchterlichen französischen Akzent. Er hasste diese Weibergeschichten. Und er hasste diese Langeweile. „Oh Gott,“ stöhnte Heiner, „wenn Du mir schon einen verrückten, seit zweihundert Jahren rumgeisternden Franzosen zur Seite stellen musstest, warum konnte es dann nicht wenigstens ein Geköpfter sein?“ Jean-Pierre zischte erschrocken: „Still, mein Freund. Du weißt doch selbst am bestähn, dass er alles ööört???“ Ja, dass wusste Heiner zu gut. Zwei Jahre in der PR-Abteilung hatte ihn der jüngste Fluch eingebracht. Zwei Jahre Headlines in der Springerpresse. Immer schön die Hirne vernebeln. Scheissjob. Aber angesichts von Milliarden Welten in der Schöpfung, musste man eben möglichst viele so kontrolliert wie möglich laufen lassen. Selbst der Boss kann nicht überall mitmischen.
    Immerhin: Auch als einfacher Engel konnte man so hin und wieder unbemerkt das göttliche Regelwerk unterlaufen. Oder einen plappernden Partner verfluchen. „Halt endlich die Schnauze, Froschflügel.“ Jean-Pierre flatterte vor Ärger aufgeregt mit seinen - im Vergleich zu Heiners Schwingen recht zierlichen - Federstummeln. Heiner schmunzelte; selbst die Ewigkeit kennt wohl keine Gerechtigkeit. Aber verflixt: Wegen dieses dümmlichen, vom Schanker abberufenen Franzosen war ihm jetzt ihr Klient aus den Augen geraten. Dr. Peter Rein-Lodemann, Justiziar einer Papiergroßhandlung, 56 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Gründerzeitvilla am Stadtrand, Mercedes E-Klasse, ein SL-Roadster für die Gattin. Keine Herausforderung für ein versiertes Betreuerteam. Spießig, langweilig, vorhersehbar. Aber wenn der Alte rausbekommen sollte, dass sie ihren Klienten verloren hatten, kämen sie kaum mit zwei Jahren PR-Produktion davon. Das kostete mindestens zehn Jahre in der Begleitung einer dieser Historienschinken-Schriftstellerinnen. Scheisse. Heiner schwebte von der Mauer und zerrte den schmollenden Jean-Pierre hinterher. Sie flogen die Hauptstraße hinunter zum Café, in dem Rein-Lodemann gerne einen Latte-Macchiato bestellte. „Uff,“ stöhnte Heiner, „Glück gehabt. Wir haben ihn wieder.“ Jean-Pierre zupfte seinen Partner am Umhang. „Was aaaben wir döönnn hier? Kennst du nischt diese junge Mademoiselle aus der Boutique, in der Madame Lodemann einkauft?“ Er zeigte erregt auf eine vollbusige und für Heiners Geschmack etwas zu stark geschminkte Frau am Nebentisch Lodemanns. Heiners verärgerte Miene hellte sich auf. Sollte ihm Jean-Pierres Weibergetue doch nützlich sein? Eine wahrhaft teuflische Idee. „Komm’“, raunte Heiner seinem Partner zu, „wir wollen etwas Pepp in den göttlichen Plan bringen.“ Zweiter Frühling, Affäre, Scheidung, Absturz. Heiner musste lachen. Ja, das machte Laune.


    Nein, so ungeschickt kannte er sich gar nicht! Dr. Rein-Lodemann war mit seinem Ellbogen nur leicht an das Latte-Glas gestoßen und doch flog der Kaffee wundersam weit durch die Luft, direkt auf das Kleid der Dame am Nebentisch. „Oh, verzeihen sie, wie kann ich das nur gut machen ...“ Der Jurist suchte nervös nach einer Serviette. Dann sahen sie sich tief in die Augen. Manchmal trifft es einen wie aus heiterem Himmel, dachte Lodemann. Und für einen kurzen Moment meinte er, von weit her ein Lachen zu hören.

  • von Buecherbuhdi


    Loretta war endlich oben angekommen. Eine halbe Stunde hatte sie in der Schlange für den Aufzug stehen müssen. Nun trat sie an die großen Fenster und genoss den Blick über die Stadt. Die Sonne schien.


    New York, die Stadt ihrer Träume. Ein ganzes Jahr hatte sie nun in den USA gelebt, seit einer Woche war ihr Au-Pair-Aufenthalt zu Ende.
    Es war ein Jahr voller Erlebnisse gewesen. Aber nun freute sie sich trotzdem auf zu Hause.


    Loretta trat nahe ans Fenster. Sie stellte ihre Taschen ab. Wie blöd von ihr, vorher zu shoppen und nicht hinterher. Zumal es noch früh war. Immerhin blieb ihr noch ein ganzer Tag in New York, bevor sie spät abends zum Flughafen musste.


    Sie wollte unbedingt noch ein Geschenk für ihre Freundin Lissy finden. Und dann würde sie noch mal zu GAP gehen und den teuren Blazer anprobieren, den sie jetzt schon 2 Tage anschmachtete. Vermutlich würde er doch noch in ihrem Gepäck landen und ihr Konto wäre hoffnungslos überzogen, wenn sie wieder in Deutschland war. Aber was machte das schon, wer weiß, wann sie wieder nach Amerika käme.


    Ob sie die zugenommenen Kilos bis zur Hochzeit ihrer Schwester Nina wieder abgenommen haben würde? Zumindest waren ihre Haare in dem Jahr hier verdammt lang geworden. Sicher würden alle sie bewundern. Musste nur noch ein chices Kleid her.


    Zunächst würde sie aber mit ihrem Studium beginnen.
    Ganz sicher war sie sich noch immer nicht, ob Medizin das richtige für sie war. Aber etwas Besseres war ihr auch bis heute nicht eingefallen.


    Loretta atmete tief durch. Sie war aufgeregt.
    Sicher hatte sich einiges verändert in München, seit sie weggeflogen war vor einem Jahr. Klar hatten alle sie auf dem Laufenden gehalten. Marie und Jule hatten sie hier sogar besucht. Aber dennoch war schließlich auch das Leben ihrer Familie und ihrer Freunde weitergegangen.
    Ob sie sich wieder nahtlos dort einfügen konnte?


    Sie beobachtete ein Flugzeug am Himmel.


    Es war der 11.September 2001. Loretta kehrte nie mehr nach Hause zurück.

  • von Asrai


    Aus heiterem Himmel fiel ihm der Himmel auf den Kopf. Er verletzte ihn nicht schwer, denn er trug Hut, aber der Hut wurde doch ganz ordentlich eingedellt. Er nahm ihn ab und betrachtete ihn kritisch.
    Als er dann nach oben sah, erkannte er, dass der Himmel immer noch da war, wo er hingehörte. Etwas musste also aus einem der Fenster des Hauses, an dem er gerade vorbeigegangen war, gefallen sein.
    Er sah sich um. Ein Stein lag auf dem Bürgersteig. Er tippte ihn mit der Fußspitze an. Eine Ecke brach ab und etwas Helles kam zum Vorschein. Das war kein Stein. Verwirrt sah er erneut nach oben, aber keins der Fenster sah danach aus, dass etwas aus ihm gefallen wäre. Es war ein hohes Haus und es waren viele Fenster. Der Hut war teuer gewesen und neu. Konnte er jemandem die Haftpflichtversicherung nützlich machen? Er zählte die offenen Fenster ab, stupste das Geschoss in seinen Hut und begann zu klingeln. Das komische Ding bröckelte in seinem Hut vor sich hin.
    Die Leute wehrten ab. Es könne nichts aus ihren Fenstern gefallen sein, sagten sie. Im achten Stock tropfte es beinahe tränenvoll durch die Sprechanlage. Der Kater sei verflucht, erklärte sie mit nachdrücklichem Schniefen. Er sei kein Kater und er habe auch keinen, erwiderte er verwirrt. Es sei ihr egal, sagte sie und legte auf.
    Er klingelte erneut. Nun war sie ärgerlich. Was passiert sei, wollte er wissen, an das Geschoss dachte er fast nicht mehr. Sturzbachartig sprudelte sie nun alles hervor, endlich fragte einer. Dass sie es hasse zu backen und er mäkele wieder. Wer er sei, fragte er. So’n Typ mit dem sie verheiratet sei, knurrte sie. Und der Kater sei genauso, der verstehe auch nichts vom Backen und nun sei er auf’s Fensterbrett gesprungen und habe ihren Kuchen hinabgestoßen, mit extraviel Schokoglasur. Ob sie ihn wiederhaben wolle, fragte er lächelnd.

  • von Nasenbär


    Klaus kam mit Blumen nach Hause. Das konnte nur eines bedeuten. Uta verdrehte die Augen. Er wollte mir ihr ins Bett. Während sie das Gemüse putzte, überlegte sie, ob das letzte Mal tatsächlich schon wieder so lange her war, dass er Blumen mitbringen musste. Es waren drei, nein vier Wochen vergangen, seit...
    Nun gut, dann würde sie sich ihm wieder einmal „zum Geschenk“ machen. Diesen Ausdruck hatte Uta einmal in einer Frauenzeitschrift gelesen und er erinnerte sie immer wieder daran, dass es für Klaus ein schöner Vorgang war, auch wenn sie selbst nie verstehen konnte, was daran so außergewöhnlich war. Meist lag sie unter ihm und stöhnte, weil sie glaubte, es gehöre dazu. Doch was sie zum Stöhnen bringen könnte, wusste sie einfach nicht. Es war einfach ein Akt, der getan werden musste, weil Klaus sonst immer nervöser wurde und es damit endete, dass er nur noch herumschrie. Diese Phase war einmal eingetreten, nachdem sich Uta acht Wochen nicht verschenkt hatte.
    Das Essen verlief an diesem Abend eher schweigend. Uta versuchte sich so gut es eben ging, in Stimmung zu bringen und Klaus schien mit seinen Gedanken auch schon beim Nachtisch angelangt zu sein. Wenn Uta sein seliges Lächeln richtig beurteilte.
    Sie stellte das Geschirr in die Spülmaschine, als sie Klaus Schritte hinter sich hörte. Vorsichtig drehte sie sich um. Er lächelte sie an.
    „Wollen wir nach oben gehen?“ fragte er mit einer Stimmlage, die in seinen Ohren anscheinend verführerisch klang, die Uta aber schlicht abstoßend fand. Innerlich schüttelte sie sich, aber sie wusste, dass sie nichts tun konnte und nickte.
    Stumm lag sie im Bett und wartete, dass er zu ihr kam. Sie wollte es schnell hinter sich bringen. Es begann wir immer und Uta war in Gedanken mit der Einkaufsliste für den nächsten Tag beschäftigt. Doch im nächsten Augenblick konnte sie sich nicht mehr auf die Liste konzentrieren. Klaus war nicht mehr über ihr. Er war... Aber das war auch egal, denn sie konnte ihre Gedanken nicht mehr kontrollieren. Ein Kribbeln erfasste ihren Körper. Ein warmes, aufregendes Kribbeln, das nie wieder aufhören sollte. Und als es doch aufhörte entlud es sich in einer Welle, die ihren ganzen Körper erfasste.

  • von Polli


    „Schon wenn ich an einem Stück Torte vorbeigehe, nehme ich zu.“
    Meine Kollegin Irina sagt diesen Satz drei Mal täglich zu ihren Hauptmahlzeiten auf und wirft mir dann einen anklagenden Blick zu.
    Du kannst mich nicht verstehen, du mit deinen Fingern dünn wie Hühnerknöchelchen und dieser unverschämten Haben-Sie-das-Kleid-auch-in-Kindergröße-Figur. Das sagt sie nicht, aber sie denkt es.
    „Dabei esse ich zwischendurch rein gar nichts“, murmelt sie entrüstet. Das Nichts bewahrt sie im Kühlschrank unserer Teeküche auf: Zwei Paletten Joghurtbecher mit rechtsdrehenden Bakterien, gewonnen aus dem Windelinhalt kackender Kleinkinder. Mir vergeht der Appetit. Wer sich vom Kühlschrank aus nach links dreht, dem fällt das Regal mit dem Dosenstapel auf. Das Regal heißt „Für schlechte Zeiten“ und es wird täglich gebraucht. Für die schlechten Zeiten zwischen neun und elf Uhr morgens und nachmittags zwischen drei Uhr und Feierabend. Irinas Appetit vergeht nie.


    „Zucker macht dick, den habe ich gänzlich aus meinem Speiseplan gestrichen.“
    Ich nicke gehorsam und sehe den beiden Kandisstücken zu, die sich in meinem Teeglas gemächlich auflösen.
    „Solltest du auch mal probieren, ist ganz ohne Kalorien.“ Irina schiebt mir eine Cola-Light-Flasche zu, die ich an unserer gemeinsamen Schreibtischgrenze gleich abfange und zurückschiebe.
    „Süßstoffe werden im Schweinefutter als Masthilfsmittel verwendet. Das weiß nur kein Schwein“, tippe ich in den PC und lösche den Text wieder. Statt dessen erinnere ich meine Kollegin daran die Post holen zu gehen.
    „Ach, Paulinchen, meine Allerliebste, ich weiß, dass ich heute dran bin. Aber ich bin immer so aus der Puste, wenn ich die Treppe nehmen muss. Kannst du das nicht für mich erledigen - ausnahmsweise?“
    „Meinetwegen, ausnahmsweise“, seufze ich.


    In der Poststelle wartet der schräge Otto auf Besucher. Genauer gesagt, auf Publikum, das bereitwillig über seine ewig gleichen Bemerkungen lacht. „Hereinspaziert, meine schöne Paula, hol dir deine Liebesbriefe ab“, dröhnt er leutselig. „Warum ist denn unsere kugelrunde Irina nicht gekommen, passt sie etwa nicht mehr durch die Bürotür? Hast du schon gehört, dass sie jetzt einen neuen Namen beantragt hat? Ab morgen heißt sie Walztraut!“ Otto wiehert über seinen Witz und haut mir bekräftigend auf die Schulter. Aua. Manchmal träume ich davon, in einer anderen Stadt zu arbeiten. Oder in einem Amt ganz ohne Kollegen. Zuerst würde ich den Kühlschrank gründlich auswaschen. Und die Post müsste mir ein ernster dunkelhaariger Bote auf den Schreibtisch legen. Schweigsam. In Jeans, Größe 31/32.
    Als ich die Tür zu unserem Büro öffne, kreischt Irina schrill auf: „Neiiiin! Geplatzt! Ich verstehe gar nicht, wie das schon wieder passieren konnte. Dabei habe ich in den letzten Tagen so gut wie nichts gegessen.“
    Meine Kollegin hält mit Mühe den Riss hinten an ihrer Hose zusammen.
    „Dann kann es sich nur um einen plötzlich auftretenden Materialfehler handeln“, erkläre ich freundlich und setze mich wieder an den PC.

  • von Iris


    Eine rote Sonne gleißt über die Dächer hinweg, dann verschwindet sie und mit ihr die Wärme. Gerti senkt den Kopf. Eine Patrouille kreuzt den Platz, den die Kirche überschattet. Der Turm ist eingestürzt, in der Westfront klafft ein Riss.
    Gertis Vater ist katholisch, kein frommer Mensch, aber ein rechtschaffener. In dieser Kirche wurde er getauft, erhielt die Erstkommunion, die Firmung, und hier hätte er heiraten sollen – wenn er nicht eine Lutherische genommen hätte, die darauf bestand, lutherisch getraut zu werden. Dann kam der Krieg.
    Gerti schiebt die Türe auf. Unter ihren Sohlen knirscht der Schutt. Die Bänke bilden ordentliche Reihen, nur wo ein herabgestürzter Schlussstein die Bodenplatten zertrümmerte, blieb eine Lücke. Über dem Altar hängt das schlichte Kreuz. Wo sie heute Nacht hingehen wird, dorthin wird Gott sie nicht begleiten.
    Doch wo war er, als die Russen den Keller aufbrachen, in dem sich die Hausbewohner versteckt hatten? Wo war er, als einige der Soldaten die Männer fesselten, während andere an ihren Hosen herumfummelten? Es geschah einfach; die Soldaten drückten die Frauen auf den Boden, die jungen wie die alten. Mütter, Töchter, Schwestern, Nachbarinnen. Sie überkamen die Frauen – anders konnte Gerti es nicht ausdrücken. Sie keuchten dabei, manche sahen aus, als befolgten sie einen Befehl, und gerade die brauchten entsetzlich lange, bis sie Platz machten für ihren Hintermann.
    Vierzehnmal.
    Gleich nach ihrem Eintreffen hatten sie die Kinder in den Flur gebracht, man hörte, dass sie mit ihnen spielten, ihnen Süßigkeiten gaben, Lieder vorsangen und Geschichten radebrechten. Die Kinder sollten nicht zusehen. Manchmal riefen sie nach ihren Müttern und Vätern.
    Nach zwei Tagen verließen die Russen den Keller, und die Hausbewohner kehrten in ihre zertrümmerten Wohnungen zurück. Sie ignorierten die Tage im Keller. Sie taten so, als wäre es nie geschehen.
    Gerti kann nicht länger so tun, als sei es nicht geschehen. Die Saat dessen, was nie geschehen war, ging in ihr auf, und Gott verhinderte es nicht. Wo wird Gott sein, wenn sie die Kirche verlässt und das Haus in der Nebenstraße betritt, wo ein alter Arzt für eine Tasche voll amerikanischer Zigaretten zwar nicht den Schaden behebt, aber die Folge beseitigt?
    Ein Knarren weckt Gerti; aus dem Beichtstuhl tritt eine alte Frau, kniet in die Kirchenbank und senkt den Kopf hinter gefalteten Händen. Gerti verharrt im Mittelgang, vor dem Loch im Boden. Die Fensterhöhlen sind erloschen, und Dunkelheit senkt sich in das hohe Gewölbe, umhüllt das Kreuz. Zögernd wendet Gerti sich ab.
    Ein paar Laternen tauchen den Platz in trübes Zwielicht. Gerti geht an den zugenagelten Fenstern entlang, biegt in die Nebenstraße ein, die von Akazien flankiert wird. Hundert Schritte, dann steht sie vor dem Haus. Sie tastet nach dem Klingelknopf.
    Ein Windstoß streift sie, das Laub der alten Akazien flüstert. Sie blickt in den Himmel, in dem einzelne Lichter blinken. Ein heller Streif fällt ihr entgegen. Und noch einer. Ein Regen von Sternen setzt ein, und ihr ist, als würde sie ihnen entgegenfliegen.