Antigone von Sophokles

  • Halli Hallo,


    hier will ich doch direkt mal das wohl bekannteste Drama der Antike vorstellen: "Antigone" von Sophokles.


    Kurzbeschreibung:
    Antigone hat zwei Brüder, Eteokles und Polyneikes, die sich um den Thron Thebens nach dem Tode ihres Vaters streiten. Sie erschlagen sich beide gegenseitig und Kreon, der Onkel der Geschwister, kommt an die Macht. Er erlässt das Gebot, dass Polyneikes nicht bestattet werden darf, da er den rechtmäßigen Thronfolger Eteokles angriff, um die Herrschaft über Theben zu erlangen. Doch Antigone hält sich an das Gebot der Götter, dass jedem Menschen eine Bestattung zusteht...
    [Ich habe das wirklich mal extrem kurz gerafft. Aber die Leute, die die Geschichte kennen, wissen, dass es sich hierbei um eine wirklich KURZE Beschreibung handelt. Wer mehr erfahren möchte, kann z.Bsp. mal hier schauen.]


    Meine Meinung:
    Natürlich ist es schwierig über so eine bekannte und allseits hochgelobte Schrift eine Meinung so auszudrücken, dass sich niemand auf den Schlips getreten fühlt. Aber ich bin ja nur eine kleine Abiturientin und werde mal versuchen, das Drama aus meiner Sicht kurz zu beurteilen...


    Ich fand "Antigone" am Anfang richtig schrecklich und verwirrend... aber nachdem wir es nun im Unterricht durchgesprochen und einiges unter die Lupe genommen haben, gefällt es mir eigentlich recht gut. Eines der besseren Bücher, die wir lesen müssen - obwohl ich es wahrscheinlich früher oder später sowieso gelesen hätte ^^


    In "Antigone" ist der eigentliche Kern des Dramas, dass Antigone gegen das weltliche Gebot Kreons verstößt und ihren Bruder bestattet, jedoch nur, um das göttliche Gebot nicht zu verletzen, dass jedem Menschen eine Bestattung zusteht. (Iris hat hier sicherlich eine andere Meinung, aber das kann ja jeder anders interpretieren :-)). Eigentlich ein sehr interessantes und auch hochaktuelles Thema - schließlich haben viele Konflikte, die wir heute haben, mit Religion und religiösen Handlungen zu tun. Haben eher die göttlichen oder die weltlichen Gesetze Vorrang? Kann man das überhaupt einschätzen? Kann man das überhaupt einschätzen, wenn man nicht gläubig ist - oder gerade dann?


    Im damaligen Verständnis, im alten Griechenland der Antike, haben natürlich die göttlichen Gebote absoluten Vorrang und deshalb ist das Drama ja auch dementsprechend brisant, da Kreon sich nicht daran hält - er ist von einer so genannten "Hybris" befallen, einer grenzenlosen Selbstüberschätzung. Aber Antigone eigentlich auch, denn sie missachtet Kreons Gebot. Oder nicht?


    Hach, es gibt so viele Möglichkeiten hier etwas zu interpretieren und der Kopf raucht. Wie gefällt/gefiel euch das Buch? Ich denke, dass es viele in der Schule lesen mussten ^^


    Liebe Grüße,
    Angelcurse

  • Ich hab es letztes Semester für die Uni gelesen.



    Ich fand es eigentlich nicht schlecht. Nur ganz ehrlich: Der Chor...! Wenn man den auch noch konzentriert durchlesen will...! Puh...!


    Über die Interpretation kann man streiten. Aber dazu ist so ein Stück ja da.


    Schuldig, nicht schuldig, unschuldig schuldig?


    Kann sie nichts dafür, weil ihre Familie ja immer ins Verderben rennen muss?


    Aber wieso hat sich ihre Schwester nicht so "aktiv" verhalten, wie sie?


    Ich hab Antigone vor Kurzem auch im Theater gesehen. Sehr modern, aber (trotzdem oder deswegen???) gut inszeniert.


    Ich denke man muss nicht zu einer abschließenden, allgemeingültigen Meinung kommen, was die Schuld angeht.


    Dass man darüber nachdenkt und versucht die verschiedenen Perspektiven zu sehen reicht meiner Meinung nacah schon mal aus.

  • Also ich finde Antigone sehr schön, allerdings gebe ich Ronja Recht: der Chros ist echt nicht gut zum durchhalten ;-) Den habe ich meist auch nur so überflogen.


    Aber ansonsten: ich finde es sehr lesenswert :-)

  • Also ... wenn ich diese schulübliche Interpretation kommt mir als Fachfrau die Galle hoch ... Das ist vergleichbar, als würde man in der Schule noch lehren, daß die Erde sich um die Sonne dreht ... <grusel>


    Sophokles' Antigone als "Schicksalstragödie" anzusehen oder als Beispiel dafür, daß die Griechen geglaubt hätten, "tragisch" sei, wenn man es nur falsch machen könne, weil zwei Prinzipien einander widerstreiten -- sorry, aber die Vorstellung von einem Kreidekreis, in dem der handelnde Mensch von zwei Prinzipien schier zerrissen wird, stammt aus einer weltanschaulichen Ecke, die in Europa erst seit dem Ende des Mittelalters fröhliche Urstände feiert -- einem Sophokles war das fremd!


    Wenn man das Stück nach Aristoteles interpretiert, dessen Lebensdaten sich mit denen des Sophokles noch überschneiden und der mit seiner Poetik eine beschreibende Theorie des damaligen Dramas (auf der Basis seiner Erkenntnistheorie und Handlungstheorie) abgeliefert hat, dann kommt etwas völlig anderes heraus:
    Antigone und Ismene stammen ebenso wie ihre Brüder Eteokles und Polyneikes aus einer Familie, die quasi ein "Gen" für Vorschnelligkeit und Stolz vererbt, und mindestens ein Elternteil lebt das auch vor (z.B. Ödipus Vater Laios und Ödipus selbst). Auch die Brüder sind ziemlich tempramentvoll und haben sich bis aufs Blut verkracht (soll vorkommen), und Antigone ist noch so ein Feuerkopf -- nur Ismene gerät nicht nach dieser Linie und versucht immer, beschwichtigend und mäßigend auf ihre Schwester einzuwirken.
    Daß Antigone in die Luft geht wegen Kreons Entscheid und sich darüber hinwegsetzt, liegt ihr einfach im Blut!


    Kreon ("der Mächtige, Starke") hat geradezu wider besseres Wissen das Verbot erlassen, die beiden "durchgeknallten" Brüder zu bestatten, weil sie mit dem gegenseitigen Brudermord in ihrem Haß aufeinander alles über Bord geworfen haben, was menschliches Miteinander ausmacht. Jetzt sollen ihre Leichen zur Strafe unbestattet bleiben, damit ihre Seelen keine Ruhe finden und sie noch als Tote zur Abschreckung dienen können. Kreon denkt, er könne noch die Toten für ihren Frevel und ihre Maßlosigkeit bestrafen.
    Dabei übersieht er völlig, was er damit innerhalb der Familie der Brüder anrichtet: Antigone bekommt keine Ruhe, daß ihren Brüdern der Frieden verwehrt wird. Dabei hätte er es wissen müssen, denn Antigone ist die Braut seines Sohnes Haimon, und dieser liebt sie sehr.
    Als Antigone das Verbot übertritt, läßt Kreon sie einmauern, wutentbrannt darüber, daß sie nicht nur gegen seine Anordnungen verstößt, sondern auch noch seinen an den Brüdern vollzogene Strafe zunichte gemacht hat. als er wieder zur Vernunft kommt, ist es allerdings bereits zu spät: Antigone -- maßlos in ihrem Stolz, hat sich erhängt, Haimon ersticht beinahe seinen Vater, schreckt zurück und richtet die Waffe in seiner Verzweiflung gegen sich selbst.


    So wurde aus übergroßem Stolz und durch eine Verkettung vorschneller Entscheidungen und Handlungen eine Katastrophe in Gang gesetzt, die auch Kreon (der besonnenere von beiden Hauptakteuren) nicht mehr in den Griff bekam.


    Eigentlich klingt das verdammt nach einem Hollywoodfilm der 1940er-50er Jahre, gell? :lache
    Ich habe es etwas verkürzt dargestellt, aber letztendlich läuft es darauf hinaus. Hýbris ("Überhebung") und Áte ("Verblendung") bedingen einander, weil die miteinander agierenden Verursacher der Katastrophe, Kreon und Antigone, ohne nachzudenken, ja sogar wider besseres Wissen und obwohl sie sich mögen, ihre jeweilige Linie durchziehen, sich im Recht wähnen.
    Ihr Schicksal zieht allerdings "nur" eine persönliche Katastrophe (Tod bzw. Verlust der Familie) nach sich, keine ewige Verdammnis -- die Konnotation, die die Katastrophe heute hat, ist nachweislich typisch christlich und keineswegs von Sophokles gemeint.


    Nachzulesen u.a. hier:
    Arbogast Schmitt, Bemerkungen zu Charakter und Schicksal der tragischen Hauptpersonen in der ‚Antigone‘, Antike und Abendland 34, 1988, 1–16
    ders., Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen ‚König Ödipus‘, Rheinisches Museum 131, 1988, 8–30
    ders., Freiheit und Subjektivität in der griechischen Tragödie? In: Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle und Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Berlin/New York (de Gruyter) 1998, 91–118
    (Diese Aufsätze habe ich hier vorliegen, da ist noch eineiges drin zitiert, was auch weiterführt. Es wäre überaus wünschenswert, wenn die Germanisten mal über ihren Tellerrand gucken würden -- vor allem, wenn sie außerhalb ihres eigenen Reviers pirschen -- landläufig nennt man das Wilderei! :grin

  • Ach ja, was die Chöre angeht ...


    Die damaligen Theaterstücke waren keine reinen Sprechdramen, sondern die Sprechteile, in denen die Handlung vorangetrieben wird, wurden von Chorlieder unterbrochen.
    Eine Szene (Sprechteil) wurde Epeisódion (daher kommt "Episode") genannt, ein Chorlied Stásimon.


    Der Chor ist nicht Sprachrohr der allgemeingültigen Meinung oder der Meinung des Dichters, sondern Repräsentant einer bestimmten Position innerhalb des Stückes, er wirkt sogar durchaus auf die Handlung ein. Z.B. wird im König Ödipus Ödipus durch das Gejammere der Thebaner veranlaßt, Stärke zu zeigen und den Verursacher des Leidens in der Stadt kraftvoll zu verfluchen (ohne zu berücksichtigen, daß ein Fluch auch auf einen selbst zurückfallen kann -- was dann ja auch geschieht).
    Meist vertritt der Chor eine Position, die die Zuschauer zunächst als spießig ansehen würden, die sich im Verlauf der Handlung aber als ihre eigene entlarvt -- also nicht als Idealmeinung sondern deren real existierendes "Pendant". Es ist nämlich äußerst auffällig, daß die salbungsvoll vorgetragenen Lieder gelegentlich vor Binsenweisheiten nur so strotzen!


    BTW: Daß die Übersetzungen dieser Stásima meist nahezu unleserlich ausfallen, liegt am Spagat, den die Übersetzer versuchen: Worte und Metrum ins Deutsche zu übertragen ist nahezu unmöglich.

  • Iris


    Deine Interpretation klingt schon irgendwie... möglich. Aber wieso sollte Sophokles dieses Stück geschrieben haben, wenn es eigentlich noch "nur" von ein paar Hitzköpfen handelt, die ein paar dumme Sachen machen und es blöderweise schaffen, dass am Ende alle tot sind? Das Stück muss doch dem damaligen Polis-Bürger irgendeine Lehre vermitteln - oder denkst du, dass Theater damals pure Unterhaltung gewesen ist? Ich denke, dass - ebenso wie heute - Theaterstücke schon etwas vermitteln sollten, aber nach deiner Interpretation würde das ja bedeuten: Ok, die sind eben so, sie können selbst nichts an ihrem Verhalten ändern, schade. Aber das kann wohl kaum alles sein?


    Und weiterhin kann ich nicht glauben, dass es nur diese beiden möglichen Interpretationen von Antigone gibt - die sich auch noch völlig wiedersprechen. Und woher will man wissen, dass Sophokles etwas ganz anderes im Sinn hatte, als die Polisbürger vor einem grausamen Tyrannen zu warnen, der göttliches Gesetz übertritt und selbst durch die benannten Hýbris absolut nicht mehr Herr seiner Sinne ist?


    Weiterhin würde mich interessieren, wie du darauf kommst, dass Kreon und Antigone sich mögen. Ok, er ist ihr Onkel - aber das muss ja nichts bedeuten. Wir haben gelernt, dass Antigone und Kreon eigentlich nicht wirklich etwas miteinander zu tun gehabt haben - und im Buch wird auch an mehreren Textstellen mehr als deutlich, dass Kreon das Regieren "seines" Staates über Alles stellt, undzwar auch über seine Familie (was wiederum an der Hýbris, bzw. Áte liegt).


    Du schriebst weiterhin, dass Kreons "Verfehlungen" keine ewige Verdammnis nach sich ziehen. Ok. Aber ist er nicht doch in dem Sinne verdammt, dass seine Familie tot ist und er diese Strafe bis zu seinem Tode "aussitzen" muss? Denn er bettelt ja förmlich darum, dass jemand ihn umbringt, doch die Götter lassen es nicht zu - sie wollen, dass er seine Strafe bis zu seinem Lebensende spürt.


    *************************************************************


    Und noch eine kleine Berichtigung: Kreon erlässt das Verbot Polyneikes zu bestatten, nicht beide Brüder. Eteokles, der "Gute", wurde ehrenvoll bestattet.


    Und noch was zum Thema Chor: Der Chor repräsentiert in der "Antigone" entweder den Ältestenrat Thebens oder das Volk.

  • Zitat

    Original von Angelcurse
    Deine Interpretation klingt schon irgendwie... möglich. Aber wieso sollte Sophokles dieses Stück geschrieben haben, wenn es eigentlich noch "nur" von ein paar Hitzköpfen handelt, die ein paar dumme Sachen machen und es blöderweise schaffen, dass am Ende alle tot sind? Das Stück muss doch dem damaligen Polis-Bürger irgendeine Lehre vermitteln - oder denkst du, dass Theater damals pure Unterhaltung gewesen ist? Ich denke, dass - ebenso wie heute - Theaterstücke schon etwas vermitteln sollten, aber nach deiner Interpretation würde das ja bedeuten: Ok, die sind eben so, sie können selbst nichts an ihrem Verhalten ändern, schade. Aber das kann wohl kaum alles sein?


    Wenn das die Quintessenz ist, dann habe ich mich völlig falsch ausgedrückt ...



    Also alles nochmal auf Anfang ...


    Primäres Ziel eines Dramas war damals Unterhaltung, und durch diese Unterhaltung sollte etwas transportiert werden: Die Zuschauer sollten mit einer Erkenntnis nach Hause gehen.


    Im Falle von Antigone lautet die Erkenntnis: »Wenn du einen Beschluß faßt, dann bedenke die Folgen für die Betroffenen! Berücksichtige ihre (individuellen) Reaktionen! Lerne, besonnen zu handeln!«
    Kreon mußte wissen, was für ein Mensch Antigone ist; also hätte er seinen (berechtigten) Brass auf Eteokles und Polyneikes drosseln, sich mäßigen, die Polyneikes' Bestattung zulassen müssen, um eine Versöhnung möglich zu machen. Die Tatsache, daß er weder sich selbst noch Antigone richtig erkannt und die Folgen falsch eingeschätzt hat, führt zur Katastrophe -- denn selbst als er gebeten wird, von seinem Beschluß abzusehen, beharrt er ja darauf!


    Vergleichbar mit einem rasenden Autofahrer -- er sieht die Ausfahrten, braust aber dennoch weiter, weil er nun mal gerade auf der Überholspur sein will. Auch wenn seine Fahrt dadurch umständlich oder gar gefährlich wird.
    (Okay, das Beispiel hinkt, aber ich denke, du verstehst trotzdem, worauf das hinauswill.)


    Der grundlegende Satz griechischen Denkens steht über dem Portal des Orakeltempels von Delphi: Gnôthi sautón -- erkenne dich selbst!


    Der Unterhaltungsfaktor ist für den Zuschauer primärer Zweck des Theaterbesuches: Niemand ging in eine solche Vorstellung, um etwas zu lernen! Man wollte etwas erleben. Wenn sich eine Erkenntnis als Nebeneffekt einstellt, dann war das in Ordnung, aber seitens der Zuschauer war das nie der eigentliche Zweck des Theaterbesuchs.


    Anderseherum wollte und will ein ambitionierter Autor wie Sophokles, daß die Menschen mit einer Erkenntnis aus dem Theater gingen, er wollte sie verändern. Er schuf unterhaltsame Stücke, um sie dabei zu einer Erkenntnis zu führen.


    Hier liegt übrigens der Hund begraben, was die heutigen, völlig falschen Vorstellungen über die aristotelischen Begriffe von phóbos ("Schrecken") und eleós ("Mitleid") sowie der sogenannten kátharsis ("Reinigung"): Es geht nicht darum, daß die Zuschauer quasi durch das Mitfühlen von eben diesen Gefühlen "gereinigt" werden, sondern daß der Erkenntnisprozeß dazu führt, daß sie sich diese Emotionen und Haltungen und deren Gefahren bewußt und dadurch klüger und in diesem Sinne eben "reiner" (weil von falschen Meinungen gereinigt) werden.


    Zitat

    Und woher will man wissen, dass Sophokles etwas ganz anderes im Sinn hatte, als die Polisbürger vor einem grausamen Tyrannen zu warnen, der göttliches Gesetz übertritt und selbst durch die benannten Hýbris absolut nicht mehr Herr seiner Sinne ist?


    Weil es antike Kommentare und Anmerkungen zu den Tragödien gibt, die etwas anderes sagen, in die seit dem wiederaufgekommenen Interesse an der Attischen Tragödie aber noch kein Germanist seine Nase gesteckt hat. Und bislang wähnen sich viele Germanisten und damit auch Deutschlehrer auch zu klug, um sich mal in den für das Thema zuständigen Fachbereich einzuarbeiten. :grin
    Zumal Griechisch ja ohnehin als obsolet angesehen wird. :rolleyes


    Zitat

    Weiterhin würde mich interessieren, wie du darauf kommst, dass Kreon und Antigone sich mögen. Ok, er ist ihr Onkel - aber das muss ja nichts bedeuten. Wir haben gelernt, dass Antigone und Kreon eigentlich nicht wirklich etwas miteinander zu tun gehabt haben - und im Buch wird auch an mehreren Textstellen mehr als deutlich, dass Kreon das Regieren "seines" Staates über Alles stellt, undzwar auch über seine Familie (was wiederum an der Hýbris, bzw. Áte liegt).


    Muß ich dir wirklich erklären, daß im damaligen Gesellschaftssystem eine Ehe zwischen Antigone und Haimon unmöglich gewesen wäre, wenn Kreon diese nicht selbst angebahnt hätte, zumal Antigone und Ismene ebenso wie Eteokles unter seinem Schutz in Theben lebten? Die Vorgeschichte sollte doch bekannt sein: Der geblendete thebanische König Ödipus wurde von seinen Söhnen Eteokles und Polyneikes abgesetzt und eingekerkert; deshalb verfluchte er die beiden (in den beiden anderen Ödipus-Dramen König Ödipus und Ödipus auf Kolonos wird eine andere Variante erzählt). Die Söhne geraten über die Erbschaft in Streit, Polyneikes geht nach Argos, heiratet die Königstochter und zieht mit einem Heer gegen Theben, um die Macht an sich zu reißen ("Sieben gegen Theben").
    Im Verlauf der Belagerung wird ein Zweikampf der Brüder beschworen, bei dem sich beide gegenseitig erschlagen. Damit wird Kreon als zweitmächtigster Mann zum Regenten von Theben, weil sein Sohn Haimon mit der Ödipustochter Antigone verlobt ist. Der Regent nun, will das Übel bestrafen und erläßt das Verbot der Bestattung des Polyneikes, da dieser die Heimat verraten und den Bruder ermordet habe.


    Wo da die Idee von einem "Tyrannen" herkommen soll, ist mir ernsthaft schleierhaft. Nirgendwo steht, daß Kreon sich die Herrschaft erschlichen habe, indem er seinen Sohn mit der Königstochter verheiratet hätte -- dann hätte er ja hinter dem Tod der Brüder stecken müssen o.ä. Kein Hinweis auf solche Hintergedanken.


    Im Gegenteil ist ihn seine Bereitschaft, das Allgemeinwohl weit über sein Privatwohl zu stellen, eines der typisch attischen staatsbürgerlichen Ideale -- spezielle für jemanden, der die Geschicke der Stadt lenken soll. So jemand darf nämlich idealerweise nicht in erster Linie an sich und seinen Leute denken, sonst bereichert er sich nur selbst auf Kosten der Allgemeinheit.


    Zitat

    Du schriebst weiterhin, dass Kreons "Verfehlungen" keine ewige Verdammnis nach sich ziehen. Ok. Aber ist er nicht doch in dem Sinne verdammt, dass seine Familie tot ist und er diese Strafe bis zu seinem Tode "aussitzen" muss? Denn er bettelt ja förmlich darum, dass jemand ihn umbringt, doch die Götter lassen es nicht zu - sie wollen, dass er seine Strafe bis zu seinem Lebensende spürt.


    Du gehst von sehr modernen Vorstellungen aus: Wenn Kreon darum bettelt getötet zu werden, will ja auch er das Unrecht durch neues Unrecht ersetzen; denn den König/Regenten zu töten, würde bedeuten, die Stadt ins Chaos zu stürzen. Er ist nun einmal der Chef, und wenn der Chef vor lauter Schmerz schon wieder vorschnell handelt, dann begeht er neues Unrecht. Im Grunde braucht es also das "Eingreifen" der Götter, den "Königsmord" zu verhindern, damit nicht auch noch völlig Unbeteiligte, nämlich die einfachen Bürger, ins Unglück gestürzt werden. Denn nach dem plötzlichen Tod eines Königs ohne Erben wäre doch die Gefahr eines blutigen Machtkampfes sehr groß.
    (Die Vorstellung, der Tyrannenmord allein reicht, um eine Nation in die Freiheit zu führen, ist eine ziemliche Idiotie, die in der Menschheitsgeschichte zu vielen blutigen Episoden geführt hat).


    Nebenbei bemerkt: Ihr hantiert mit einer Übersetzung. Jede Übersetzung ist eine Interpretation. Ihr behandelt also einen Text, der sprachlich bereits an eine Interpretation angepaßt ist. Das bitte ich auch einmal zu bedenken.
    Die Kenntnis des Originals erlaubt viele dieser Interpreationen nur unter Verbiegung der Sprache -- was früher zu einer Flut gewichtiger Kommentierungen und Abhandlungen geführt hat, die wortreich zu belegen suchten, daß der Dichter selbstverständlich etwas ganz anderes meinte, als er schrieb.
    Von dieser Auffassung kommen diejenigen, die den Sophokles im Urtext lesen können zunehmend wieder ab. Aber der Schatten der alten Heroen der Altphilologie, die meist zugleich auch die Germanistik beeinflußten, ist lang und dunkel. :grin


    Zitat

    Und noch eine kleine Berichtigung: Kreon erlässt das Verbot Polyneikes zu bestatten, nicht beide Brüder. Eteokles, der "Gute", wurde ehrenvoll bestattet.


    my fault! Du hast natürlich recht. Es gibt irgendwo eine Glosse oder Textstelle, wo eine andere Variante erzählt oder erwähnt wird. Mythen sind biegsam. Aber bei Sophokles wurde die Bestattung nur Polyneikes verweigert, das ist richtig.


    Zitat

    Der Chor repräsentiert in der "Antigone" entweder den Ältestenrat Thebens oder das Volk.


    Das bedeutet noch lange nicht, daß er die Meinung des Autors, die "Moral" verkündet. Die Indizien sprechen eher dagegen; wahrscheinlicher ist, daß hier auf clevere Weise die Allerweltsmeinung dargestellt und oft auch bloßgestellt wird.
    Die Tragödienparodien von Aristophanes, speziell in Die Frösche, das sich auf sehr witzige Weise mit der att. Tragödie beschäftigt, legen diese Deutung ebenfalls nahe. Dort sind die Frösch ein "Schwarm" von Nachplapperern, deren Refrain unter Altphilologen Legende ist: brekekekéx koáx koáx. :lache


    Sorry für den endlosen Sermon. Es ist ein grundlegendes Problem, daß die Germanistik immer noch total veraltete Theorien über das antike Drama in den Deutschunterricht spült. Als Fachfrau macht mich das krank ...

  • Meine Meinung ist recht zwiegespalten.


    Erst die starke Frau, die nichts fürchtet und dann der plötzliche Wechsel und sie jammert nur noch?


    Die Themen, die Sophokles verarbeitet fand ich hingegen sehr ansprechend.



    JASS :keks

  • Zitat

    Original von JASS
    Erst die starke Frau, die nichts fürchtet und dann der plötzliche Wechsel und sie jammert nur noch?


    Spätestens da hätte es bei jedem klugen Menschen klingeln müssen, daß es im Leben keine Frage von göttlichem und menschlichem Recht ist, sondern es um Menschen geht, die den Bogen weit überspannen und es zu späte kapieren -- und indem der Zuschauer es miterlebt und mitfiebert, erkennt er, daß das auch ihm selbst passieren und wohin das sogar führen kann.


    Die griechischen Dramatiker wollten, daß die Zuschauer verändert aus der Vorstellung gingen und danach die Welt mit etwas anderen Augen sahen.

  • Zitat

    Original von Iris


    Spätestens da hätte es bei jedem klugen Menschen klingeln müssen, daß es im Leben keine Frage von göttlichem und menschlichem Recht ist, sondern es um Menschen geht, die den Bogen weit überspannen und es zu späte kapieren -- und indem der Zuschauer es miterlebt und mitfiebert, erkennt er, daß das auch ihm selbst passieren und wohin das sogar führen kann.


    Ich hoffe, das war keine Anspielung auf meine Intelligenz. :grin


    Ich habe es auch als Drama gesehen -doch ich fand es übertrieben. Mir fehlte die Überleitung und auch die Erkenntnis. Antigone scheint mir Rückwärts zu reifen, anstatt wirklich etwas einzusehen.


    JASS


    PS: Nichts gegen die Intelligenz von griechischen Dramatikern. Ich persönlich halte sie für brillant.

    Es ist erst dann ein Problem, wenn eine Tasse heißer Tee nicht mehr hilft. :fruehstueck

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  • Zitat

    Original von JASS
    Ich hoffe, das war keine Anspielung auf meine Intelligenz. :grin


    Nee, eher auf die so manches Gelehrten, der beeindruckt nachplappert, was die Heroen einst vom Katheter donnerten ... :lache


    Zitat

    Ich habe es auch als Drama gesehen -doch ich fand es übertrieben. Mir fehlte die Überleitung und auch die Erkenntnis. Antigone scheint mir Rückwärts zu reifen, anstatt wirklich etwas einzusehen.


    Was erwartest du von der Interpretation einer Fehlinterpretation? :grin


    Ich will nicht gemein sein, aber da gibt es wirklich massiven Handlungsbedarf ... Eine wirklich gute Übersetzung muß her, ein Regisseur, der ein Stück inszeniert und nicht sich selbst und grad mal noch seine Truppe und irgendwelche kruden Vorstellungen vom "archaischen Menschen".


    An einer Frankfurter Bühne haben sie es mal gemacht, aber leider habe ich keine der wenigen Vorstellungen besuchen können. :cry

  • Zitat

    Ich habe es auch als Drama gesehen


    mit diesem Satz habe ich mich selbst disqualifiziert *anStirnfass* als was soll ich es denn sonst gesehen haben...


    Zitat


    Was erwartest du von der Interpretation einer Fehlinterpretation? :grin


    Du meinst mit Fehlinterpretation die Übersetzung an sich?




    JASS :keks

    Es ist erst dann ein Problem, wenn eine Tasse heißer Tee nicht mehr hilft. :fruehstueck

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  • Zitat

    Original von JASS
    Du meinst mit Fehlinterpretation die Übersetzung an sich?


    Ja, die meine ich. Das Problem ist, daß Übersetzungen immer auch Interpretation sind: Sie geben den Text so wieder, wie der Übersetzer ihn verstanden hat. Die Wortwahl kann bei der Übersetzung verheerende Folgen für den Inhalt haben -- die Bedeutung einzelner Wörter nur um ein paar Grad zu verschieben reicht aus, um dem Text einen ganz anderen Sinn zu geben.

  • Zitat

    Original von Iris
    Ja, die meine ich. Das Problem ist, daß Übersetzungen immer auch Interpretation sind: Sie geben den Text so wieder, wie der Übersetzer ihn verstanden hat. Die Wortwahl kann bei der Übersetzung verheerende Folgen für den Inhalt haben -- die Bedeutung einzelner Wörter nur um ein paar Grad zu verschieben reicht aus, um dem Text einen ganz anderen Sinn zu geben.


    Das habe ich bei "Die Witwe von Ephesus" gemerkt. Es gab eine griechische und eine römische Variante. *überleg* oder war das zweite eine mittelalterliche...


    Jedenfalls wird die Witwe in den beiden Versionen völlig anders dargestellt. Einmal als arme Trauernde, die neue Hoffnung findet und einmal als, ich kann es nicht anders nennen "Schlampe". <- obwohl dies nur meine Interpretationen sind.


    JASS :keks

  • Halli hallo,


    Die gängige "Antigone"-Interpretation ist doch eigentlich die aus der "Phänomenologie des Geistes", die Antigone als "ewige Ironie des Gemeinwesens" sieht. Es geht auch bei Hegel eher um eine Entgegensetzung von "Allgemeinwohl und Privatwohl", wie Iris das gesagt hat, als um eine Entgegensetzung von weltlicher und religiöser Sphäre. Bei Hegel wird das Ganze dann auch noch durch den Geschlechtergegensatz ergänzt: Der Mann Kreon muss sich in der männlichen öffentlichen Sphäre um das Gemeinwohl kümmern, während die Frau Antigone - als Repräsentantin der häuslichen weiblichen Sphäre - sich es leisten kann, das Privatwohl über das Allgemeinwohl zu setzen. Diese Interpretation ist nicht unwidersprochen geblieben, doch das würde jetzt wohl zu weit führen.
    Es ist aber nicht so, dass "die Germanistik" "den Deutschlehrern" veraltete Interpretationen an die Hand gibt. Das Problem ist, dass die Deutschlehrer/innen ihr Wissen meist eher aus völlig unzureichenden und tatsächlich veralteten (oder vielmehr: einfach schlechten, denn Hegels Interpretation ist ja nun auch schon fast 200 Jahre alt) Interpretationshilfen beziehen statt aus ihrem Studium. Die heutige Lehrerausbildung scheint mir ohnehin ein größeres gewicht auf das "Wie" als auf das "Was" zu legen - eine beklagenswerte Entwicklung, wie ich finde. Aber das ist nochmal ein ganz anderes Thema.


    Herzlich, B.

  • Zitat

    Original von Bartlebooth
    Es ist aber nicht so, dass "die Germanistik" "den Deutschlehrern" veraltete Interpretationen an die Hand gibt. Das Problem ist, dass die Deutschlehrer/innen ihr Wissen meist eher aus völlig unzureichenden und tatsächlich veralteten (oder vielmehr: einfach schlechten, denn Hegels Interpretation ist ja nun auch schon fast 200 Jahre alt) Interpretationshilfen beziehen statt aus ihrem Studium.



    An der Uni wird allerdings nicht immer die von Iris erklärte Interpretation gelehrt.


    Meine Dozentin ist auf diesen Aspekt überhaupt nicht eingegangen. Bei uns wurde nur die "Religion - weltliche Ansichten" und die "dem Fluch der Familie nicht entgehen können" Thesen betrachtet.

  • Zitat

    Original von Ronja


    An der Uni wird allerdings nicht immer die von Iris erklärte Interpretation gelehrt.


    Meine Dozentin ist auf diesen Aspekt überhaupt nicht eingegangen. Bei uns wurde nur die "Religion - weltliche Ansichten" und die "dem Fluch der Familie nicht entgehen können" Thesen betrachtet.


    Hallo Ronja,


    Ich wollte nicht so verallgemeinernd klingen. Mein Beitrag sollte nur darauf hinweisen, dass man bei einer fundierten "Antigone"-Interpretation eigentlich kaum an Hegel vorbeikommt, es sei denn, man stellt sich sehr blind, denn der ist für die Antigone einfach sehr grundlegend und breit rezipiert. Dh natürlich nicht, dass man seine Interpretation automatisch am einleuchtendsten finden muss. Judith Butler hat sich zB sehr stark gegen die Geschlechterzuweisung in Hegels Interpretation gewendet.


    Herzlich, B.



  • Ich hatte auch kein Problem mit deiner Verallgemeinerung. :-)


    Wollte damit nur sagen, dass einige Lehrer vielleicht gar nichts von einem anderen Interpretationsansatz wissen, weil ihnen der selbe wie mir an der Uni vermittelt wurde und sie nie über einen anderen gestolbert sind, was ja gut passieren kann. :-)