Alfred Bodenheimer: Das Ende vom Lied. Ein Fall für Rabbi Klein, München 2015, Nagel & Kimche, ISBN 978-3312006489, Hardcover mit Schutzumschlag, 205 Seiten, Format: 13,5 x 2,1 x 21 cm, Buch: EUR 18,90, Kindle Edition: EUR 14,99.
Nachdem Rabbi Gabriel Klein von der Zürcher Cultusgemeinde durch seine Einmischung in die Mordsache Berger mehr Unheil angerichtet als abgewendet hat (Alfred Bodenheimer: KAINS OPFER), wollte er sich eigentlich aus allen Kriminalfällen heraushalten. Diesmal geht das nicht, weil er persönlich betroffen ist.
Carmen Singer, ein aktives Mitglied seiner Gemeinde, ist von einem ICE überrollt worden. Suizid, Unfall oder Mord?
Die Dame konnte recht anstrengend sein. Sie war hinter Rabbi Klein her und wollte ein Nein nicht als Antwort akzeptieren. Dass die Singer für Rivka Klein, seine Frau, ein rotes Tuch war, ist weder ein Wunder noch ein Geheimnis. Dass die beiden am Tag von Carmen Singers Tod noch heftig in einem Café gestritten und die wüstesten Drohungen ausgestoßen haben, hat Rivka ihrem Mann allerdings nicht erzählt. Die Kriminalpolizei jedoch weiß Bescheid, weil die Inhaberin des Cafés die Auseinandersetzung Wort für Wort wiedergegeben hat. Erstaunlich, wie sie das alles vom anderen Ende des Lokals aus gehört haben will – bei der lauten Musik!
Die Frau des Rabbi wird verhaftet
Als Rivka von einem Verwandtenbesuch in London zurückkommt, wird sie noch am Flughafen verhaftet. Klar: Sie hat das Opfer bedroht, hat zur Tatzeit am Bahnhof Geld aus einem Automaten gezogen – und auf einer der Überwachungskameras ist zu sehen, wie eine Frau, die so einen wattierten Mantel trägt wie Rivka, Carmen Singer vor den Zug stößt. Nur: Zu erkennen die Täterin auf dem Video nicht, und solche dunklen Kapuzenmäntel gibt es wie Sand am Meer.
Der Rabbi ist völlig durch den Wind: Die Schwiegereltern sind zu Besuch, eine Freundin von Tochter Dafna (15) wohnt derzeit bei den Kleins, weil sie es zuhause nicht mehr aushält, sein Praktikant, der hochbegabte aber weltfremde David Bohnenblust, hat gerade seinen Job hingeschmissen und will wieder nach Israel, und Tobias Salomon, der neue Chef der Synagogenkommission, geht ihm mit seiner ständigen Wichtigtuerei mächtig auf den Senkel. Und jetzt auch noch das! Rivka unter Mordverdacht!
Rivkas Schulfreundin, die Rechtsanwältin Léonie de Siebenthal, ist ihm nicht aktiv genug, also ermittelt der Rabbi selber. Wenn er den Kommissaren Bänziger und Drulovic den wahren Täter präsentiert, müssen sie seine Frau doch laufen lassen, oder?
Ein Gemeindemitglied spielt ihm die Information zu, dass Carmen Singer brisantes Wissen zu Geld machen wollte. Damit hätten gleich mehrere Personen ein Mordmotiv. Doch beweisen kann der Rabbi nichts. Sein Praktikant David Bohnenblust rät ihm, ganz schamlos zu bluffen ...
Wer tut was aus welchem Grund?
Obwohl er eigentlich gar keinen Kopf dafür hat, liest Rabbi Klein, der studierte Historiker, nebenher noch die Briefe aus dem Nachlass Hermann Pollacks, eines Arztes aus Wien, der das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hat. Die Briefe sind allesamt an seine verstorbene erste Ehefrau gerichtet. Seine Tochter hat die Briefe gefunden und will nun vom Rabbi wissen, was sie damit tun soll: Veröffentlichen? Der Forschung zugänglich machen? Verbrennen?
Pollack philosophiert in seinen Briefen an Elisabeth über Leben und Tod, Glaube, Gott und Liebe und kommt immer wieder auf das Hohelied Salomos zu sprechen. Der Rabbi bezieht Pollacks Gedanken in seine eigenen Überlegungen über den Fall Singer mit ein. Tatsächlich hilft ihm das, zu verstehen, was seine Mitmenschen bewegt. Wer denkt und tut was aus welchem Grund? So kommt er dem Motiv und dem Täter auf die Spur ... wenn er auch die letzte überraschende Wendung nicht kommen sieht. Der Mensch ist eben nur bedingt berechenbar.
Rabbi Klein weiß sehr genau, wie er seine Mitmenschen nehmen muss, damit sie wie gewünscht reagieren. Wie er den Musiklehrer seiner jüngsten Tochter Rina einseift oder dem Wichtigtuer Salomon den Schneid abkauft, das ist überaus unterhaltsam! Nur bei seiner Frau Rivka funktionieren diese Tricks nicht (mehr). Sie kennt ihn zu gut.
Hier gewinnt, wer schneller denkt
DAS ENDE VOM LIED ist ein Krimi der leisen Töne. Hier gibt es keine rasanten Verfolgungsjagden. Es geht nicht darum, wer schneller rennt oder schneller fährt, sondern darum, wer schneller denkt. Und im Denken sind der Rabbi uns sein Praktikant David außerordentlich fix. Schade, dass Gabriel Kleins Vater nicht mehr lebt. Mit seiner illusionslosen Betrachtung der Menschheit und Spruchweisheiten wie dieser wird er immer wieder zitiert: „Manche erben das Vermögen ihrer Eltern, andere das Unvermögen.“ (Seite 178) Herrlich, wie er die Sache stets auf den Punkt bringt! Er wäre für das rabbinische Ermittlungsteam eine echte Bereicherung gewesen.
Ein kleines Glossar im Anhang erklärt die im Buch verwendeten Begriffe aus dem jüdischen Leben und Glauben. Neugierige Insider können auch gern vorab schon mal hineinschauen. Anders als im Vorgängerband KAINS OPFER lassen die erläuterten Begriffe diesmal keine Rückschlüsse auf die Aufklärung des Falles zu.
Der Autor
Alfred Bodenheimer, geboren 1965 in Basel, erhielt eine traditionelle jüdische Ausbildung und leitete Talmudhochschulen in Israel und den USA. In Basel studierte er Germanistik und Geschichte und promovierte 1993 mit einer Arbeit über die Emigration von Else Lasker-Schüler nach Palästina. Nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Israel und an der Universität Luzern und einer Habilitation an der Universität Genf kam er 2003 als Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an die Universität Basel zurück. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, darunter Studien über Moses und den Ewigen Juden, jüdische Narrative und Traditionsvermittlung.