Heute beginnt der Rest des Lebens / Marie-Sabine Roger

  • "Egal, auf welches Datum ihre Geburt fiel, alle Männer meiner Familie sind also um elf Uhr früh geboren. Und das Amüsante ist: Alle, ohne jede Ausnahme, sind an ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag gestorben, noch bevor sie ihre Kerzen ausgeblasen und ihren Kuchen gegessen hatten, denn elf Uhr morgens ist eine ungünstige Zeit. Jedenfalls was den Nachtisch angeht."


    Mortimer wird von einem Fluch begleitet, der seine Familie schon seit mehreren Generationen belastet. Zumindest die männlichen Mitglieder, denn sie alle sterben an ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag. Schon seit Mortimer denken kann, steht dieser Tag im Fokus der Familie und somit auch in Mortimers Leben. Er wartet regelrecht darauf, dass sein Tod endlich eintritt. Doch dann kommt es anders und Mortimer überlebt tatsächlich seine eigene Todesstunde.


    "Ich steckte in einem kleinen Leben fest, das kaum atmete, in einem winzigen Leben mit verschleimten Bronchien. Ich brauchte Luft, Raum, Atem. Ich verlor sinnlos meine Zeit, dabei hatte ich wirklich keine übrig."


    Mortimer lebt zurückgezogen und allein. Bindungen ist er lieber nicht eingegangen, denn er hatte ja immer vor Augen, dass diese vorzeitig durch Ableben beendet werden. Seine einzigen Kontaktpersonen sind Paquita und Nassardine, das Pärchen vom Verkaufsstand, an dem es den besten Crepes und den schlechtesten Kaffee gibt. Die beiden wissen was vom Leben, kennen sich damit aus und sind deshalb Mortimers erste Adresse, um sich einen Rat zu holen. Plötzlich zu leben ist nämlich gar nicht so einfach.


    "Im nachhinein habe ich verstanden, dass mein Vater depressiv war und mit der Aussicht seines vorzeitigen Todes nicht klarkam. Letztlich hat ihm sein Tod das Leben versaut."


    Auch mit ihrem neusten Roman "Heute beginnt der Rest des Lebens", hat sich Marie-Sabine Roger, deren Roman "Das Labyrinth der Wörter" verfilmt wurde, wieder in mein Herz geschrieben. Ich mag nicht nur ihre poetische Schreibe und ihren klugen Witz sehr gerne, sondern die Art, wie sie dem Buch Leben einhaucht. Mit ganz besonderen Charakteren, die mit einem Hauch an Tragik und Unglück, aber auch viel Eigensinn und Herz ausgestattet sind, dass eine gewisse Verbindung zwischen Leser und Figuren entsteht.


    "Alles hätte mich davon überzeugen müssen abzuhauen, zu reisen, jeden Tag zu nutzen wie einen kostbaren Schatz, aber nein, ich tat genau das, was wir alle tun: Ich vergeudete meine Zeit und jammerte darüber, wie sie verrann."


    In "Heute beginnt der Rest des Lebens" gerät der Hauptdarsteller Morti ein wenig in den Hintergrund. Das lebhafte Ehepaar Paquita und Nassardine stehlen ihm mit ihrer liebenswerten Art, mit ihrer Lebensfreude, ihrer gegenseitigen Zuneigung und ganz viel Herzlichkeit wirklich etwas die Show. Dennoch ist Mortimer ein Protagonist, den man ins Herz schließt und dem man wirklich nur Gutes wünscht. Umso mehr freut man sich, dass er seinen Todestag überlegt und trägt die Hoffnung, dass er jetzt alles aus seinem Leben herausholt was geht. Was das ist, weiß weder Morti, noch ich selbst genau. Roger hat mich aber zumindest dazu gebracht darüber nachzudenken, was mir in meinem Leben fehlt und über welchen Verlust, welches nicht erlebte Abenteuer ich im Falle eines vorhersagbaren Todezeitpunkts, traurig wäre. Letztendlich wissen Mortimer und ich was im Leben wirklich zählt. Es sind nicht die großen Erlebnisse, die uns dauerhaft glücklich machen, sondern die Menschen, die diese Erlebnisse mit Freude mit uns teilen.