Das Tischchen neben meinem Lesessel ist für mich eine Art Insel im Meer des Gedruckten, an der nicht nur Schiffe anlegen, die bestellte War liefern, sondern an deren Felsenrand auch Treibgut angespült wird, ganz nach Laune von Wind und Gezeiten. So ein Stück Treibgut, etwas ganz unerwartet und zufällig Herangespültes, war dieses Buch. Ich habe es aufgesammelt, weil mir das Thema auffiel, es kam mir sperrig vor, ungewohnt, regelrecht Abneigung erweckend. Aber als ich es genauer in Augenschein nahm, entdeckte ich, daß es sich tatsächlich um einen kleinen Schatz handelt.
Es war mein erster Roman von Morsbach, ich hatte nie zuvor von ihr gehört. 1956 geboren, informierte mich die Umschlagsklappe, Regisseurin und Dramaturgin am Theater, seit 10 Jahren freie Autorin, inzwischen mit dem Marie-Luise-Fleißer-Preis ausgezeichnet.
Den Titel ihres jüngsten Buchs 'Gottesdiener' muß man wörtlich nehmen, wie so vieles in diesem Roman. Es handelt sich tatsächlich um die Lebensbeschreibung eines Dorfpfarrers, irgendwo im Bayerischen Wald. Isidor Rattenhuber ist rothaarig, wenig ansehnlich und er stottert von Kind auf. Seine Familienverhältnisse sind alles andere als idyllisch. Rettung für das liebebedürftige Kind kommt in Gestalt des Pfarrers, der dem kleinen Isidor sein persönliches Wunder, und die Glaubenserkenntnis, bringt. Damit ist für Isidor die Zukunft klar: er wird Priester werden.
Der Zeitraum der eigentlichen Handlung umfaßt nur die wenigen Tage vom letzten Adventssonntag bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag in Isidors Gemeinde irgendwo im Bayerischen Wald. Alles andere, sein Werdegang, seine 'Geschichte', wird in Rückblenden erzählt. Dazwischengefügt sind die Geschichten der anderen, denen Isidor im Lauf seines Lebens begegnet, seiner Familie, der Mitschüler am Priesterseminar, Lehrer, Vorgesetzten, seiner Gemeindeschäfchen, des einen oder anderen Freundes, der Frau, in die er sich schließlich doch verliebt. Das geht alles wunderbar glatt, wunderbar überzeugend ineinander über, trotz der schroffen Tempus-Wechsel zwischen Präsens und Präteritum, oft von einem Satz zum anderen. Unzählige kleine Geschichten werden hier zu einer Geschichte, nicht nur, weil die Autorin die Sprache so gut beherrscht, sondern weil es ihr gelingt, alles einem einzigen Aspekt unterzuordnen, der Frage nach der Bedeutung des christlichen Glaubens nämlich.
Es geht nicht um die große, überwältigende Erfahrung, um das (angeblich) sichere Wissen von der Existenz einer Höheren Macht im Leben der Menschen, sondern um den Alltag. Es geht um die Brüche, die Schwierigkeiten, die Verfehlungen, die Enttäuschungen, etwa, wenn Isidor dem geliebten alten Pfarrer, seinem Ersatzvater, ganz selig seinen Entschluß verkündet, selber Priester werden zu wollen und der nur antwortet: Oana muaß as ja mocha.
Es geht um die Zweifel, die Anfechtungen, Kämpfe, und immer wieder um das Versagen. Isidor wird, wie so viele seiner Amtsbrüder, Alkoholiker. Er kämpft sich frei, wie auch von der Liebe zu Judith, von der ihm (zunächst) nur eine einzige Wimper bleibt. Wie er sie bekommt, gehört zu den traurigsten und zugleich verrücktesten Stellen in einem Roman voller trauriger, ergreifender, verrückter und irrsinnig komischer Situationen.
Daß man die Lektüre durchhält, liegt nicht zuletzt an der Hauptfigur. Denn Isidor ist einfach unwiderstehlich, in seiner Liebesfähigkeit, seiner Treuherzigkeit, seiner überwältigenden Fähigkeit zu glauben: an den christlichen Gott, an seine Barmherzigkeit, an einen Sinn.
Man muß seine Ansichten nicht teilen, man muß überhaupt nicht glauben, wenn man diese Geschichte liest und man braucht auch nicht katholisch zu sein. Man muß sich nur von einer sehr klugen, sehr einsichtigen Autorin führen lassen, die einem vermittels eines tiefen Einblicks in den Alltag katholischer Prägung eine Menge Einsichten über Menschen, männlich wie weiblich, hier und heute, vermittelt.
Und das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die dieser Roman birgt. Daß das eigentliche Rätsel nicht ein Gott ist, noch die Schöpfung an sich, sondern der Mensch.
Keine einfache Lektüre, aber unbedingt empfehlenswert.