Gottesdiener - Petra Morsbach

  • Das Tischchen neben meinem Lesessel ist für mich eine Art Insel im Meer des Gedruckten, an der nicht nur Schiffe anlegen, die bestellte War liefern, sondern an deren Felsenrand auch Treibgut angespült wird, ganz nach Laune von Wind und Gezeiten. So ein Stück Treibgut, etwas ganz unerwartet und zufällig Herangespültes, war dieses Buch. Ich habe es aufgesammelt, weil mir das Thema auffiel, es kam mir sperrig vor, ungewohnt, regelrecht Abneigung erweckend. Aber als ich es genauer in Augenschein nahm, entdeckte ich, daß es sich tatsächlich um einen kleinen Schatz handelt.


    Es war mein erster Roman von Morsbach, ich hatte nie zuvor von ihr gehört. 1956 geboren, informierte mich die Umschlagsklappe, Regisseurin und Dramaturgin am Theater, seit 10 Jahren freie Autorin, inzwischen mit dem Marie-Luise-Fleißer-Preis ausgezeichnet.
    Den Titel ihres jüngsten Buchs 'Gottesdiener' muß man wörtlich nehmen, wie so vieles in diesem Roman. Es handelt sich tatsächlich um die Lebensbeschreibung eines Dorfpfarrers, irgendwo im Bayerischen Wald. Isidor Rattenhuber ist rothaarig, wenig ansehnlich und er stottert von Kind auf. Seine Familienverhältnisse sind alles andere als idyllisch. Rettung für das liebebedürftige Kind kommt in Gestalt des Pfarrers, der dem kleinen Isidor sein persönliches Wunder, und die Glaubenserkenntnis, bringt. Damit ist für Isidor die Zukunft klar: er wird Priester werden.
    Der Zeitraum der eigentlichen Handlung umfaßt nur die wenigen Tage vom letzten Adventssonntag bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag in Isidors Gemeinde irgendwo im Bayerischen Wald. Alles andere, sein Werdegang, seine 'Geschichte', wird in Rückblenden erzählt. Dazwischengefügt sind die Geschichten der anderen, denen Isidor im Lauf seines Lebens begegnet, seiner Familie, der Mitschüler am Priesterseminar, Lehrer, Vorgesetzten, seiner Gemeindeschäfchen, des einen oder anderen Freundes, der Frau, in die er sich schließlich doch verliebt. Das geht alles wunderbar glatt, wunderbar überzeugend ineinander über, trotz der schroffen Tempus-Wechsel zwischen Präsens und Präteritum, oft von einem Satz zum anderen. Unzählige kleine Geschichten werden hier zu einer Geschichte, nicht nur, weil die Autorin die Sprache so gut beherrscht, sondern weil es ihr gelingt, alles einem einzigen Aspekt unterzuordnen, der Frage nach der Bedeutung des christlichen Glaubens nämlich.
    Es geht nicht um die große, überwältigende Erfahrung, um das (angeblich) sichere Wissen von der Existenz einer Höheren Macht im Leben der Menschen, sondern um den Alltag. Es geht um die Brüche, die Schwierigkeiten, die Verfehlungen, die Enttäuschungen, etwa, wenn Isidor dem geliebten alten Pfarrer, seinem Ersatzvater, ganz selig seinen Entschluß verkündet, selber Priester werden zu wollen und der nur antwortet: Oana muaß as ja mocha.
    Es geht um die Zweifel, die Anfechtungen, Kämpfe, und immer wieder um das Versagen. Isidor wird, wie so viele seiner Amtsbrüder, Alkoholiker. Er kämpft sich frei, wie auch von der Liebe zu Judith, von der ihm (zunächst) nur eine einzige Wimper bleibt. Wie er sie bekommt, gehört zu den traurigsten und zugleich verrücktesten Stellen in einem Roman voller trauriger, ergreifender, verrückter und irrsinnig komischer Situationen.
    Daß man die Lektüre durchhält, liegt nicht zuletzt an der Hauptfigur. Denn Isidor ist einfach unwiderstehlich, in seiner Liebesfähigkeit, seiner Treuherzigkeit, seiner überwältigenden Fähigkeit zu glauben: an den christlichen Gott, an seine Barmherzigkeit, an einen Sinn.
    Man muß seine Ansichten nicht teilen, man muß überhaupt nicht glauben, wenn man diese Geschichte liest und man braucht auch nicht katholisch zu sein. Man muß sich nur von einer sehr klugen, sehr einsichtigen Autorin führen lassen, die einem vermittels eines tiefen Einblicks in den Alltag katholischer Prägung eine Menge Einsichten über Menschen, männlich wie weiblich, hier und heute, vermittelt.
    Und das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die dieser Roman birgt. Daß das eigentliche Rätsel nicht ein Gott ist, noch die Schöpfung an sich, sondern der Mensch.


    Keine einfache Lektüre, aber unbedingt empfehlenswert.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Zitat

    Magali schrieb:
    Das Tischchen neben meinem Lesessel ist für mich eine Art Insel im Meer des Gedruckten, an der nicht nur Schiffe anlegen, die bestellte War liefern, sondern an deren Felsenrand auch Treibgut angespült wird, ganz nach Laune von Wind und Gezeiten. So ein Stück Treibgut, etwas ganz unerwartet und zufällig Herangespültes, war dieses Buch. Ich habe es aufgesammelt, weil es so merkwürdig aussah, sperrig, ungewohnt, regelrecht Abneigung erweckend. Aber als ich es genauer ansah, entdeckte ich, daß es sich tatsächlich um einen kleinen Schatz handelt.


    Was für eine schöne Formulierung :anbet


    Das Buch hört sich interessant an, ich habe es mal auf meine Wunschliste gesetzt.

  • Zitat

    Original von geli73


    Was für eine schöne Formulierung :anbet


    Das Buch hört sich interessant an, ich habe es mal auf meine Wunschliste gesetzt.


    Geli, danke. Ich habe grad ein bißchen abgeändert, weil mir eben jemand erklärt hat, ein Teil eines Satzes würde einen komischen Sinn ergeben. Ich schreibe manchmal ein bißchen zu schnell und denke nicht richtig nach.
    Also, falls jetzt jemand Unterschiede auffallen, det war icke!
    :grin

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Das Buch muss ich unbedingt haben!!!


    Leider gibt es ja noch kein Taschenbuch dazu, aber vielleicht findet sich ja irgendwo ein günstiges HC.


    Danke für die Vorstellung, magali! :-)

  • Du, Ronja, ich habe auch gestöhnt, als ich den Preis gesehen habe. Gilt halt als 'Literatur' :grin
    Aber es hat sich gelohnt.
    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Dieses Buch gibt es jetzt als Taschenbuch und alleine der Titel hat mich so interessiert, dass ich es bestellt habe..bin mal gespannt :grin

    Liebe Grüße Eselohr


    Ich lese: Jesus liebt mich- David Safier :rofl


    Wir leben zu sehr in der Vergangenheit, haben Angst vor der Zukunft und vergessen dabei völlig die Gegenwart zu genießen

  • Ich habe das Buch kürzlich gelesen und kann mich magalis worten nur anschließen. Wirklich ein sehr schönes Buch mit wunderbaren Charakterstudien, mit Beschreibungen von Menschen und ihren allzu menschlichen Verhaltensweisen, mit völlig unaufdringlichen Auseinandersetzungen mit Glauben und Zweifel.


    Wenn man selbst katholisch ist, enthält das Buch vielleicht noch ein paar zusätzliche Schmunzler, aber man muss gewiss nicht religiös sein, um hier einen echten Lesegenuss zu haben.


    Gruß


    Rabarat

  • Ich habe das Buch hier liegen und bei einem "flüchtigen Blick" ins Buch, ob sich das Ausleihen angesichts der hier tonnenweise herumliegenden Bücher wirklich lohnt, bin ich nahezu sofort auf Seite 30 gelandet.


    Ich bin begeistert, da das Buch mich sofort gefesselt hat... sobald ich eine kleine Leserundenpause habe, werde ich mich auf den Gottesdiener stürzen (natürlich rein literarisch!).

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Batcat ()

  • Aufgrund der Empfehlung einer Eule kaufte ich dieses Buch, von dem ich eigentlich aufgrund der Thematik längst bei einem Berufsgruppentreffen hätte hören müssen ...


    Aber manche Schätze werden anscheinend den Unmündigen nicht offenbart.


    Ein Dorfpfarrer im Bayrischen Wald und seine Gedanken, Fragen, Methoden und Konzepte. Zu langweilig für einen Roman?


    Nein, die Erzählung ist durchgehend packend und faszinierend. An vielen Stellen habe ich mich gefragt, wie es der Autorin gelingen konnte, die täglichen Fragen und Probleme, aber auch die kleinen Erfolgserlebnisse, die mit diesem Beruf verbunden sind, so überzeugend zu schildern. Meine Lieblingsstelle war die Beschreibung verschiedener Typen von Pfarrern. Zu jedem beschriebenem Typ hatte ich konkrete Beispiele vor Augen.


    Und als katholischer Theologe, der sich nach acht Semestern als Priesterkandidat für sich gegen die Lebensform "Zölibat" entschieden hatte, wurde ich durch "Gottesdiener" wieder in eine Welt hineingeführt, mit der ich mich seit 17 Jahren nicht mehr so intensiv beschäftigt hatte.


    Summa Summarum: Dieses Buch sollten alle katholischen Theologen als Pflichtlektüre lesen. Und alle Menschen, die die Frage nach Gott und der Welt umtreibt, auch. Ich wäre darüberhinaus unheimlich gespannt, wie Eulen das Buch bewerten, für die Glauben und Vernunft nichts miteinander zu tun haben.

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Zitat

    Original von Batcat
    Oje. Das wollte ich schon längst gelesen haben (ist nämlich nur ausgeliehen).


    Ich werde es heute weitergeben an meinen ehemaligen Chef, der das Buch bei mir gesehen hat :-)

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Danke für diesen Tipp - ohne dieses Forum wäre das Buch wohl nie in mein Bewusstsein getreten. Beim Lesen der Rezension ist mir nämlich aufgefallen, dass ich das schon x mal in der Buchhandlung gesehen und vor allem übersehen habe.


    Für mich katholisch - traumatisch Erzogene war die Lektüre zwischen anstrengend und genußvoll und immer sehr intensiv. Was ja eigentlich nicht am Sprachlichen liegt, denn die Sätze sind einfach, die direkten Reden im Dialekt gehalten... das eigentlich so Erfüllende war die Vielzahl an Gedanken und möglichen Neuinterptretationen von Dingen, die ich ganz anders abgespeichert hatte.


    Ein empfehlenswertes Buch, für Gläubige und Skeptiker gleichermaßen.

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Soooo, endlich kam ich dazu, mich in dieses Buch zu vertiefen und ich habe es nicht bedauert.


    magalis wunderbarer Rezension ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.


    Auf den ersten Blick könnte man ja schon meinen: Was soll an den Lebensgeschichten eines bayerischen Dorfpfarrers schon aufregend sein? Das ist so ein Stoff, aus dem zig Romanheftchen sein könnten.


    Aber ganz im Gegenteil: Leise und unaufdringlich erzählt der Roman viele kleine Patchworkgeschichten, die zusammen eine wunderbare "Geschichtendecke" ergeben. Da gibt es lustige und traurige Momente, wunderbare und sonderbare.... und alles fügt sich harmonisch in ein unaufgeregtes, aber dennoch lesenswertes Buch zusammen. Kaufen! Lesen!

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Hallo,


    der Zufall wollte es, dass bei einer Gesprächsrunde in unserer kath. Pfarrgemeinde dieses herrliche Buch erwähnt wurde. Unser Pfarrer meldete sich sofort begeistert zu Wort. Er habe das Buch auch gelesen und finde es großartig, weil die Schilderungen des Pfarrerdaseins so real, so unüberhöht dargestellt sei. Er empfahl es sehr! Ich auch.


    Grüße


    Rabarat