Der Autor (Quelle Amazon)
Thomas Piketty, geboren 1971, ist Professor an der Pariser École d’economie. 2013 erhielt er den Yrjö Jahnsson Preis der European Economic Association. Sein Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" ist ein internationaler Bestseller.
Das Buch (Quelle: Amazon)
"Das Kapital im 21. Jahrhundert" ist ein Werk von außergewöhnlichem Ehrgeiz, von großer Originalität und von beeindruckendem Rigorismus. Es lenkt unser ganzes Verständnis von Ökonomie in neue Bahnen und konfrontiert uns mit ernüchternden Lektionen für unsere Gegenwart. Wie funktioniert die Akkumulation und Distribution von Kapital? Welche dynamischen Faktoren sind dafür entscheidend? Jede politische Ökonomie umkreist die Fragen nach der langfristigen Evolution von Ungleichheit, der Konzentration von Wohlstand und den Chancen für ökonomisches Wachstum. Aber befriedigende Antworten gab es bislang kaum, weil geeignete Daten und eine klare Theorie fehlten. In "Das Kapital im 21. Jahrhundert" untersucht Thomas Piketty Daten aus 20 Ländern, mit Rückgriffen bis ins 18. Jahrhundert, um die entscheidenden ökonomischen und sozialen Muster freizulegen. Seine Ergebnisse werden die Debatte verändern und setzen die Agenda für eine neue Diskussion über Wohlstand und Ungleichheit in der nächsten Generation. Piketty zeigt, dass das moderne ökonomische Wachstum und die Verbreitung des Wissens es uns ermöglicht haben, Ungleichheit in dem apokalyptischen Ausmaß abzuwenden, das Karl Marx prophezeit hatte. Aber wir haben die Strukturen von Kapital und Ungleichheit nicht in dem Umfang verändert, den uns die optimistischen Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg suggeriert haben. Der Haupttreiber der Ungleichheit - dass Gewinne aus Kapital höher sind als die Wachstumsraten - droht heute vielmehr extreme Formen von Ungleichheit hervorzubringen, die den sozialen Frieden gefährden und die Werte der Demokratie unterminieren. Doch ökonomische Trends sind keine Handlungen Gottes. Politisches Handeln hat ökonomische Ungleichheiten in der Vergangenheit korrigiert, sagt Piketty, und kann das auch wieder tun.
Meinung
Thomas Piketty will mit seiner „Weltformel“ zur Diskussion anregen. Wahrhaftig, das ist ihm gelungen. Endlich mal wieder ein ökonomisches Werk, das kontrovers diskutiert wird. Nicht nur unter Experten. Ich habe mich mit seinem Thesen ein halbes Jahr rumgeschlagen. Und ich bereue nichts.
Seine Ungleichung r > g (die Kapitalrendite sei normalerweise höher als das Wachstum des Bruttoinlandprodukts) ist irreführend, wenn man sie so interpretiert, dass Kapitaleinkommen oder Vermögen schneller wachsen als Arbeitseinkommen oder die Wirtschaftsleistung.
Schließlich können die Netto-Kapitalerträge nicht mit der Kapitalrendite gleichgesetzt werden. Vermögensbesitzer konsumieren, spenden und zahlen Steuern auf ihre Erträge. Hinzu kommen Investitionen, um den Wert des Kapitals dauerhaft zu erhalten, denn Maschinen und Fabriken nutzen sich ab. Ein fairer Vergleich sollte sich daher an den Erträgen des Nettokapitaleinkommens orientieren, das tatsächlich für Investitionen zur Verfügung steht. Und siehe da, die Ungleichung könnte sich sogar in Richtung Gleichung bewegen.
Piketty weist darauf hin, dass nur in den Zeiten der Krisen und Kriege die Ungleichung außer Kraft gesetzt wird. Logisch, denn gerade dann wird Kapital vernichtet. Man könnte sie auch andersherum interpretieren: Die Ungleichung beweist, dass in Zeiten ohne Kriege und Krisen die Wirtschaft funktioniert.
Denn im Grunde macht es Sinn, dass die Kapitalrendite höher als das Wachstum ist. Wäre sie gleich oder kleiner, dann entstünde ein Anreiz zum Sparen, der die Kapitalrendite tiefer drücken könnte. Außerdem stünde weniger Wagniskapital für Investitionen zur Verfügung, die Arbeitsplätze schaffen. Zumindest im heimischen Markt, denn Kapital würde in Länder flüchten, wo Renditen höher sind. Zusätzlich würde aufgrund niedrigerer Erträge mehr Kapitaleinkommen konsumiert statt investiert, was sich wiederum negativ auf das Wachstum auswirkte. Man kann davon ausgehen, dass sich irgendwann wieder r > g einpendeln würde, was im Übrigen einer Grundannahme der Wachstumstheorie entspricht.
Die Stärke des Buchs ist die fundierte Analyse. Hier hat sich jemand Mühe gemacht, das Kapital/Einkommensverhältnis, die Wachstumsraten und Sparquoten … über einen langen Zeitraum hinweg zu untersuchen und die Daten unterschiedlicher Länder miteinander zu vergleichen. Zwischen den Zeilen liest man heraus, dass der hervorragende Analytiker Piketty den Marktkräften misstraut und eher dem Etatismus verpflichtet ist. Hier ist er ganz Franzose. Auf Seite 627 wird er deutlich: „Lässt sich für das 21. Jahrhundert eine Überwindung des Kapitalismus denken?“ Nun ja, die Tatsachen, dass alle bisherigen Alternativen glorreich gescheitert sind und womöglich nur der Kapitalismus (in welcher Form auch immer) geeignet ist, die vielen Herausforderungen der Zukunft zu meistern, wischt er beiseite. Immerhin will er ihn nicht abschaffen, denn er ringt sich zu Eingriffen durch, um den Kapitalismus zu regulieren - so weit geht der sozialistische Traum dann doch nicht.
Dennoch, bei aller Kritik: Die Akkumulation des Kapitals in krisenfreien Zeiten verschärft die Polarisierung der Gesellschaft. Darüber müssen wir reden. Das sollte genau untersucht und anschließend diskutiert werden. Logisch, dass Monetaristen und Angebotstheoretiker die Daten anders interpretieren sowie die Datenerhebung kritisieren und zu anderen Schlussfolgerungen gelangen. Dennoch können wir Pikettys These nicht einfach wegschieben und zur Tagesordnung übergehen.
Was schlägt Piketty vor, um Arbeits- und Kapitaleinkommen „gerechter“ zu verteilen? Leider fällt ihm nicht viel mehr dazu ein als Steuererhöhungen. In einer Fußnote plädiert er für einen Spitzensteuersatz in Höhe von 82%. Daran hat sich die sozialistische Regierung Frankreichs orientiert, die einen Spitzensteuersatz von 75% ab 1 Million € angekündigt hatte. Ende 2012 hat Frankreichs höchstes Gericht das sozialistische Prestigeprojekt gekippt. 75% widersprach dem Prinzip der Fairness. Es widerspricht womöglich auch dem Prinzip des Nutzens. Sicherlich bringen 82% theoretisch mehr Steuereinnahmen. In der Praxis sieht es anders aus. Kapital wandert ab, Investitionen werden zurückgestellt oder gestrichen, unternehmerische Kreativität und Motivation verkümmern und das Steueraufkommen könnte sogar geringer werden. Einen Spitzensteuersatz können wir uns nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln. Zwar wissen wir, dass es einen „optimalen“ Grenzsteuersatz gibt, allerdings weiß niemand, wo der genau liegt. Wo ist der Wendepunkt? Wo produziert ein höherer Prozentpunkt Steuer einen geringeren Prozentpunkt Steueraufkommen? Leider weiß das kein Mensch, selbst Thomas Piketty nicht.
Als nächstes fordert er die Einführung einer globalen progressiven Kapitalsteuer. Theoretisch ist das eine gute Idee, denn damit könnte man auch den unfairen Steuerwettbewerb zwischen den Ländern unterbinden. Allerdings ist das wohl eher ein frommer Wunsch. Wir können uns in Europa ja noch nicht einmal auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge einigen. Vom Eurochaos ganz zu schweigen.
Abschließend empfiehlt er, den Sozialstaat zu modernisieren. Dem stimme ich zu, denn wir müssen ihn viel effizienter machen. Last but not least schlägt er einen Tilgungsfond zur Beilegung der Schuldenkrise vor. Ja, das hätten wir schon längst tun müssen, da werden wir kaum drum herum kommen.
Das Buch lässt sich gut lesen, auch von Nicht-Experten. Dadurch, dass er die Werke Austens, Balzacs und James in seine Untersuchungen einbezieht, spricht er auch literaturbegeisterte Leser an, sich mit den kalten Zahlen zu beschäftigen. Die Literatur des 19. Jahrhunderts lockert den Stoff auf und hilft, nach der Analyse von Tabellen und Kurven immer mal wieder zu verschnaufen.
Gegen Ende des Buches identifiziert der Autor die großen Herausforderungen unserer Zeit. Das Schuldenproblem und die Zunahme der Umweltschäden. Er vergisst die Bewältigung der Flüchtlingsströme, die beweisen, dass Europa vieles sehr viel besser macht als die meisten anderen Länder, deren Menschen in prekären Verhältnissen leben, die wir uns kaum vorstellen können. Hier müssen wir ansetzen. Wir brauchen eine globale Lösung und es ist an der Zeit den großen Entwurf zu konstruieren: wie gestalten wir Wohlstand für alle in einer instabilen Welt? Darüber müssen wir nachdenken.