Boris Hillen: Agfa Leverkusen
S. Fischer 2015. 448 Seiten
ISBN-13: 978-3100022820. 19,99€
Verlagstext
Kishone Kumar, ein junger indischer Provinzfotograf, reist 1977 mit seinem besten Freund per Motorrad nach Deutschland. Er will bei den Agfa-Werken in Leverkusen die Technik der Farbfotografie erlernen – und er will in Europa Joan wiedersehen, eine lebenshungrige Journalistin, die er kurz vor der Abreise kennengelernt hat. Über Kabul, Teheran, Istanbul, Gießen und Berlin geht es vom indischen Frühling in den Deutschen Herbst: ein langer Sommer der Freundschaft und Liebe, an dessen Ende alles anders ist – und eine Reise, die erst in unserer Gegenwart endet.
Der Autor
Boris Hillen, geboren 1968 in Neuwied, war Studentenweltmeister im Rudern und spielt heute noch Rugby in der zweiten Bundesliga. Nach Studium, Auslandsaufenthalten und einer Zeit in einer Kölner Werbeagentur arbeitet der begeisterte Motorradfahrer heute als Lehrer in Frankfurt am Main.
Inhalt
Kishone Kumar ist Hochzeitsfotograf in der indischen Provinz Rajasthan. Obwohl der junge Mann in Zeiten der Schwarzweiss-Fotografie stolz auf seine Arbeit sein könnte, fühlt er sich nicht wirklich anerkannt. Mit der Entwicklung des Farbfilms verlangen Kishones Kunden Farbfotos und setzen ihn damit in Zugzwang. Farbfilme kann er jedoch nicht selbst entwickeln, das Entwickeln in der nächsten Stadt würde den Hochzeitspaaren viel zu lange dauern. Kishone ist Schwarz-Weiss-Fotograf mit Leib und Seele; denn „ein farbiges Bild duftet nicht“. Seine Begegnung mit der amerikanischen Fotojournalistin Joan zeigt Kishone, dass Geschwindigkeit für einen Fotografen keine Hexerei sein muss; Joan lässt im Fotolabor ihrer Redaktion entwickeln. Durch einen Farbfilm, den Kishone von Joan erhält, entsteht die verrückte Idee, gemeinsam mit seinem Freund Amitabh per Motorrad nach Leverkusen in Deutschland zu fahren, wo Farbfilme produziert werden. Kishones bildliche Vorstellung von Europa als Landkartenausschnitt in Daumengröße illustriert die Verrücktheit seines Plans. Am Ende seiner abenteuerlichen Reise über Kabul und Istanbul landet Kishone in einer Berliner WG. 30 Jahre später begibt sich (unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter) Saxona aus Deutschland in der Gegenrichtung auf eine Reise nach Indien. Die junge Frau folgt ihrer sehr märchenhaften Vorstellung von Indien, reist aber auch auf den Spuren ihrer Eltern. Ihren Reisebegleiter Tom hat Saxona kurzfristig per Kleinanzeige gefunden; finanziert werden soll die Tour durch die Überführung zweier Motorräder. Istanbul wird für das Paar aus Deutschland zur Drehscheibe zwischen Orient und Okzident, wie damals schon für die beiden jungen Inder.
Kishone als wertkonservativer Fotograf war in diesem Roman mein Held und zugleich Prophet wider Willen. Der abenteuerlustige Inder lieferte seinen Kunden Fotos, die für die Ewigkeit gemacht waren. In den 70ern konnte Kishone noch nicht ahnen, dass die für ihn existenzbedrohende Farbfotografie nur eine kurze Episode in der Geschichte der Fotografie sein würde. Die Qualität der farbigen Abzüge war Kishones Arbeiten weit unterlegen, die Farben verblassten oft noch zu Lebzeiten der Portraitierten.
Boris Hillen schlägt mit seiner verschachtelten Abenteuergeschichte einen an die Entwicklung der analogen Farbfotografie angelehnten zeitlichen Bogen, der zugleich mit dem Ende dieser Technologie (2009 bei Kodak in den USA und 2005 bei Agfa in Deutschland) abschließt. Handlungsfäden auf zwei Zeitebenen laufen aufeinander zu, bis die Identität der Figuren und ihre Beziehung zueinander geklärt ist. Hillen entmystifiziert aus der Distanz der Gegenwart die Tätigkeit des Fotojournalisten mit einem kritischen Blick auf Joan, die wie ferngesteuert von Einsatz zu Einsatz jettet, „um neue Watergates zu entlarven und korrupte Regierungen erzittern zu lassen“. (S. 202) Joans sinkender Stern als Journalistin beschert ihr eine berufliche Sinnkrise, als sie vor der Wahl steht, nach Kambodscha oder Nicaragua gehen müssen, wenn sie weiter in der Spitzengruppe ihres Berufs mitmischen will. Für mich als Leserin und Zeitschriftenkäuferin bietet die Begegnung mit Joan einen Perspektivwechsel zur Branche, die Nachrichten und Fotos liefert, regt aber auch zum Nachdenken über USA- und Indien-Bilder der 70er in den Köpfen der Hippie-Generation an.
Fazit
„Agfa Leverkusen“ entwickelt sich zu einer teils grotesken Spurensuche und zu einer Abenteuergeschichte, in der unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Interesse an Fotografie und Zeitgeschichte sollten Leser des Romans mitbringen. Auch Leidensfähigkeit gegenüber den Perspektiv- und Zeitwechseln des Buches ist nötig; denn zu Beginn der Kapitel war mir nicht immer sofort deutlich, wer sich gerade wo und mit wem befand.
8 von 10 Punkten