'Als der Himmel uns gehörte' - Seiten 290 - 384

  • Zitat

    Original von chiclana


    :write :write :write
    Das ist wirklich gut und nachvollziehbar beschrieben. Jeder hat so seine Sicht der Dinge und seine persönlichen Ziele und Probleme und versucht sich irgendwie zu arrangieren.


    Das Fred der kleine Friedrich ist, kam mir auch gleich in den Sinn. Das wäre ja wenigstens ein Trost. :lache
    Ich warte schon die ganze Zeit, wann Alberta nochmal in die englische Botschaft geht, um Hilfe ruft und dann endlich mit James nach England auswandert..



    :write



    Für mich ist es das erste Mal das ich überhaupt ein Buch lese das den 2. Weltkrieg zum Thema hat, und ich finde Charlies ganze Art diese Wandlung zu beschreiben wirklich gut und vor allem einigermaßen erträglich.... ich denke es gab viele Albis und Gisels die irgendwie versucht haben ihre Familie, oder die Menschen die ihnen wichtig sind zu schützen. Um Giselher mach ich mir Sorgen, der scheint da ziemlich tief reinzukommen, ob das seiner Frau und seiner Tochter helfen wird bezweifle ich.... :-(




    Das Fred der kleine Friedrich ist hoffe ich für mich persönlich auch, aber sicher bin ich mir gar nicht....

  • Wer ist der Vater von Fred? James Halbbruder sitzt im Rollstuhl, Fred, Sohn von Auguste auch…ist da etwas erblich? Nur gut, wie vorausschauend der Onkel Veterinär handelt, den Säugling Friedrich im jüdischen Krankenhaus behandeln zu lassen. Ein tragisches Ende nimmt es mit Guste und das auch noch am Geburtstag. Weil sie monatelang so kraftlos im Bett lag, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie es überhaupt allein in die Stadt zum Kleiderkauf schafft. Die hat doch gar keine Kraft mehr und scheint ja auch die Wohnung nicht mehr verlassen zu haben.


    Ab wann übernimmt vielleicht Alberta eine Art Mutterrolle? Wie, warum und wann kommt sie nach England?


    Ich hoffe wir lesen weiter von James und ich bin gespannt, ob das mit Albi und Hannes noch was wird. Ob James Geschwister noch wichtige Personen werden?

    Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man, und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz.
    (Tintenherz - Cornelia Funke)

  • Also der Bruder ist schon maechtig wichtig. Ohne den einzuschummeln, haette das ganze Buch nicht funktioniert, bzw. Will, unser RAF-Berater, waere uns noch mehr aufs Dach gestiegen, als er das ohnehin schon tut.
    Der arbeitet naemlich in Bletchley Park. Nee, nicht Will, unser RAF-Berater. Sondern der Bruder von James.
    Aber ich hab nix gesagt ... (und ich SCHWOERE, als ich das konzipiert und mit Will, der eigentlich fuer ein ganz anderes Buch da sein sollte, ausgekaspert habe, gab's The Imitation Game noch nicht! Ich fand mein Bletchley Park halb-genial und sonstwie originell, aber ich fuerchte, in der naechsten Zukunft arbeiten in saemtlichen Romanen Brueder in Bletchley Park ...)

  • Uff, was ein Abschnitt.


    Hannes als Vater von Gustes Kind? Halte ich für unwahrscheinlich. Ich habe auch das Gefühl, dass Gustes aktuelle Variante gelogen ist, aber Hannes halte ich nicht für den Typ Mann, der sein Kind so brutal verleugnen würde. Dann würde er sich eher tapfer und mit gesenktem Kopf dem Gezeter seiner Familie aussetzen und Guste heiraten.


    Allgemein kann ich eure Abneigung gegen Hannes nicht so ganz teilen. Ich habe ihn nach wie vor gerne. Allerdings glaube ich auch nicht, dass er Alberta glücklich machen kann, weil er ihr einfach nicht das geben kann, was sie braucht - jedenfalls jetzt nicht.


    Die Reise nach Griechenland ... da bin ich ein bisschen im Zwiespalt. Ich verstehe, dass James und Alberta sich nichts dabei gedacht haben, aber das gerade Guste das emotional nicht kalt lassen wird, so viel Weitsicht hätte ich den beiden schon zugetraut, zumindest Alberta, die Guste ja schon so lange kennt. Da hat es mich auch geärgert, dass sie versucht hat, in Gedanken James mehr Schuld an der Angelegenheit zu geben als sich selbst, auch wenn das ein normaler Reflex ist.


    Und dann stehen natürlich die politischen Veränderungen in Deutschland im Mittelpunkt. Ein Engländer hat am Abend des 30. Januar 1933 gesagt, Hitlers Wahl habe einem "Sprung ins Dunkel" geglichen. Das habe ich einmal gehört und es hat sich mir eingebrannt, weil es so passend ist. Dass alle glaubten bzw. hofften, dass die Naziregierung nur eine vorübergehende Erscheinung war, kann man, denke ich, unseren Helden hier nicht vorwerfen. Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik, wo keine Regierung lange hielt und die politische Stimmung sooft kippte wie andere Leute Unterwäsche wechseln - wer soll da damit rechnen, dass dieser Hitler sich so fest in den Sattel setzen wird. Unsere Helden sind nicht politisch interessiert oder gar aktiv, die Reichweite dessen, was sich da abspielt, können sie gar nicht erkennen.


    Ich war auch beeindruckt von der Darstellung dieses Umbruchs, Charlie. Auch wenn du es anhand von Einzelschicksalen darstellst, ergibt es ein extrem stimmiges Gesamtbild, das viele Aspekte aufgreift.


    Tja, und dann ist da der kleine Friedrich, der offenbar an Epillepsie leidet. Konsequent kommt das "Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" auf die Tagesordnung und eng damit verbunden ist das T4-Programm. Und das ist so ein Thema, da kochts in mir immer wieder hoch und gleichzeitig wird mir kalt. Ich beschäftige mich intensiv mit der Epoche - vielleicht weil ich glaube, dass ich's der Welt schuldig bin - und obwohl ich immer und immer wieder von all den Gräueln gelesen habe, hat das T4-Programm für mich immer wieder eine ganz extreme "Qualität". Menschen zu töten, weil sie nicht in die schöne heile Welt passen, weil man sie für lebensunwert hält. Der Gedanke erscheint einem heute so ekelhaft und widerwärtig.


    Einerseits stimmt es mich ein bisschen froh, dass der Widerstand in der Bevölkerung und den Kirchen zur Einstellung der Tötungsaktion geführt hat. Andererseits denke ich mir ... bei dem Thema konnte man aufstehen und nein sagen, trotz Hitler. Wenn es um andere Randgruppen ging, die einen nicht persönlich betroffen haben, war man still. Ein behindertes Kind zur Welt bringen, das konnte jedem passieren, sogar wenn man drei deutsche Schäferhunde im Stammbaum hatte. Jüdisch werden oder sozialdemokratisch oder kommunistisch ... damit hatte man ja nichts zu tun.


    Es macht einen so ohnmächtig. Entschuldigt die Ausschweifungen, aber das Thema nagt immer wieder auf's Neue besonders an mir.

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)

  • Nachdem ich heute Nacht nach einem Albtraum nicht schlafen konnte, habe ich das Buch dann in einem Rutsch ausgelesen. Beleuchtetem E-Reader sei dank :-)


    Die Griechenland Reise war für Alberta wichtig, aber das Guste und Hannes darunter leiden war klar. Wobei ich aus Guste nicht schlau geworden bin, ich kann nicht einschätzen ob und wie sehr sie in James verliebt war (also mehr als der Rest der Menschheit). Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie auch schon vor der Schangerschaft psychisch vielleicht in Richtung Depression gewandert ist.


    Das Friedrich Fred ist dachte ich mir auch sofort, das würde ja auch vom Alter her gut passen.


    Hannes nervt mich ein wenig, der kann einfach nicht glauben, dass ihn jemand einfach so lieb hat. Auch ohne Rittergut, gutem Auskommen und Olympia Medallie.
    Eigentlich passen James und Alberta viel besser zusammen, da kann jeder er selbst sein und muss sich nicht um das Selbstwertgefühl des anderen kümmern. James ist im übrigen auch mein Liebling, er ist immer für seine Freunde da, egal was kommt.


    Gisel gefällt mir als Figur sehr gut. Er zeigt genau, wie schwierig es ist in dieser Zeit sich ethisch korrekt zu Verhalten. Dass er seine Familie schützen möchte macht ihn ja nicht zum fanatischen Nazi und trotzdem trägt er dazu bei, dass diese sich festigen können.... schwierig, so richtig veruteilen kann ich ihn nicht.

  • Ja, so geht es mir auch mit ihm. Er will seine Liebste schützen und seine Tochter - und wenn er glaubt, dass die Nazis nur eine vorübergehende Erscheinung sind, wird er sich denken, dass er nur kurz "durchhalten" muss um seine Familie zu schützen. Ich habe bei Gisel nur die Befürchtung, dass sein Hass gegen Hannes und Alberta ihn dazu verleitet, seine neue Position bzw. seine Kontakte zu den Nazis auszunutzen, um ihnen zu schaden. :-(

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)

  • Ich mag an Gisel, dass er trotz aller Fehler, die er hat, versucht, einigermaßen anständig zu bleiben bzw. für seine Familie das richtige zu tun. Obwohl ihm die Situation höllisch Angst machen muss. Er ist kein klassischer Held, dazu fehlen ihm der Mut und Pathos. Aber das ist mir menschlich irgendwie näher als die Helden, die sich opfern ... weil ich wohl selbst nicht so gewesen wäre.

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)

  • Sehr viele Themen, die hier in diesem Abschnitt weiter vertieft werden - die Rassengesetze, die Behandlung von Menschen mit Behinderung, die Rolle vom Sport und all diese Facetten v on Hitlers Politik. Das alles in einem Buch unterzubringen ist schon ambitioniert, aber es gehört ja auch zusammen und gelingt bisher gut.



    Ich habe schon öfter mal Bücher gelesen, in denen es um den 2. Weltkrieg, der Holocaust usw. geht, aber gerade deshalb gefällt mir dieses hier nach wie vor sehr gut - es wirkt so authentisch. Natürlich ist es ein schweres Thema, aber das weiß man ja, wenn man sich auf ein Buch einlässt, das zu dieses Zeit spielt und ich glaube es ist ganz gut, wenn man sich damit befasst - und zwar ohne den erhobenen Zeigefinger. Deshalb gehöre ich auch zu denen, die die Antipathie für bestimmte Charaktere hier nicht teilen können. Hannes und Giselher sind egoistisch, beide auf ihre eigene Art und Weise, aber ich finde so wie sie hier dargestellt werden, kann man innerhalb des zeitlich Kontextes sehr gut verstehen, wieso sie so reagieren.


    Hannes hatte eine schwere Kindheit und danach lief es auch alles nicht viel besser. Er sieht jetzt die Chance für die Verwirklichung eines Traums, der schon verloren geglaubt schien. Aus Politik macht er sich ohnehin nicht so viel, der Sport war immer das Einzige was er hatte und er hat nun die Chance dort Großes zu erreichen und wird von den neuen Strukturen gepusht.


    Giselher versucht das Richtige zu tun. Er möchte erst einmal seine Frau und sein Kind schützen und denkt dabei nicht an das große Ganze. Es gibt aber nur wenige, die in seiner Situation anders handeln würden, und diese sind zu großen historischen Persönlichkeiten geworden. 99% der Leute sind aber nicht so. Susannah hat das zwei Beiträge über mir auch ganz wunderbart ausgedrückt. Deshalb finde ich es so wichtig, dass es auch solche Bücher mit solchen Personen gibt und sie eröffnen einem immer wieder eine neue Perspektive.


    Vieles was hier im Buch beschrieben wird deckt sich auch mit Zeitzeugenberichten aus meiner Verwandtschaft, die eher zu den "einfachen" und "unpolitischen" Leuten gehörten. Die Schatten, die haben erst einmal nur die Leute gespürt, deren Nächsten davon betroffen waren. Deshalb kann ich glaube ich Leute wie Hanners gut nachvollziehen.



    Dass Guste schwanger ist habe ich mir schon eine ganze Zeit lang gedacht. Irgendjemand hatte beim letzten Abschnitt ja mal die Frage geäußert, ob Fred nicht der Sohn von Guste ist und das muss mir im Hinterkopf herumgeschwirrt sein. Es war für mich dann also keine große Überraschung, aber wer der Vater ist, ist mir nach wie vor auch ein Rätsel. Ich habe nie geglaubt, dass es James ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach so abhauen würde. Hannes ist eine interessante Theorie, aber so richtig anfreunden kann ich mich mit dem Gedanken auch noch nicht.


    Noch ein weiteres von diesen schwerwiegenden Themen, die in diesem Abschnitt angeschnitten wurden ist natürlich die Depression von Guste. Viel geredet wird darüber ja nicht, außer dass es immer heißt "Das Grüngemüse ist krank". Es liegt sicherlich an meiner Perspektive, denn im Jahr 2015 wissen wir zwar immernoch so wenig über diese schlimmer Krankheit, aber wissen gleichzeitig auch wieder so viel mehr. Dann denkt man sich ja aber schon, dass von all den Ärzten, die vor Ort waren einer mal auf die Idee hätte kommen können einen entsprechenden Fachmann zu konsultieren. Ich möchte aber auch nicht weiter spekulieren, aktuell wissen wir ja nicht einmal woran Guste genaugestorben ist, aber da meine eigene Familie hat so zu der Zeit rum auch jemanden aufgrund dieser Krankheit verloren hat interessiere ich mich natürlich auch dafür.



    Mein Gefühl geht im Moment in die Richtung, dass Hannes es sich irgendwie mit Alberta verscherzt und James Alberta und Friedrich nach den Spielen '36 nach England holen wird, weil die Lage in Deutschland zu gefährlich wird. Für viele der anderen Charaktere habe ich leider wenig Hoffnung und dass sowohl James als auch Hannes später für den Krieg eingezogen werden ist auch relativ klar. Ich habe fast ein bisschen Angst weiterzulesen. :-(

  • Zitat

    Original von ScoobyDoo


    Noch ein weiteres von diesen schwerwiegenden Themen, die in diesem Abschnitt angeschnitten wurden ist natürlich die Depression von Guste. Viel geredet wird darüber ja nicht, außer dass es immer heißt "Das Grüngemüse ist krank". Es liegt sicherlich an meiner Perspektive, denn im Jahr 2015 wissen wir zwar immernoch so wenig über diese schlimmer Krankheit, aber wissen gleichzeitig auch wieder so viel mehr. Dann denkt man sich ja aber schon, dass von all den Ärzten, die vor Ort waren einer mal auf die Idee hätte kommen können einen entsprechenden Fachmann zu konsultieren. Ich möchte aber auch nicht weiter spekulieren,


    Freut mich, dass du das ansprichst.


    Die Guste hat ja eine ganz konkrete Depression (wollte ich jedenfalls darstellen) und zwar eine postnatale. Die leider auch heute noch sehr sehr oft unbehandelt durchgeht und zu Tragoedien fuehrt. 1933 haette man ganz enormes Glueck haben muessen, damit jemand sagt: Pass mal auf, Maedchen, da suchen wir jetzt mal einen, der damit kann. Und selbst dann waeren die Behandlungsmoeglichkeiten extrem begrenzt gewesen.
    Was vielleicht besonders traurig ist, ist, dass die Angehoerigen natuerlich noch weniger als heute gewusst haben: Da ist eine Krankheit im Spiel, die nicht allzu viel damit zu tun hat, ob ich mich netter verhalten/besser gekuemmert/tiefer eingefuehlt oder blabla haette. Mit ihren Schulgefuehlen waren die Angehoerigen noch weit mehr allein als Betroffene in GB 2015.


    Deine Anmerkungen zu Hannes und Giselher mag ich gern. Ich wollte deshalb unbedingt eine Figur wie James dagegen stellen, die ganz anders reifen, sich entwickeln und sich der eigenen Staerken bewusst werden kann - und daher auch ganz anders agiert. Fuer mich ist das ein Thema, das mich nicht loslaesst, das ich immer wieder aufgreife: Die Nationalsozialisten regierten ein Volk ueber Angst vor Gewalt (natuerlich nicht ausschliesslich - ich folge hier aber unbedingt Jean Amery, der eine - fuer mich unbedingt schluessige - Beweisfuehrung fuer die Folter als spezifisches Kennzeichen des deutschen Faschismus antritt). Und sie hatten solchen immensen Erfolg darin, auch (!) weil sie eine Generation vorfanden, die zur Angst vor Gewalt schon erzogen worden war.


    Das ist fuer mich, wie gesagt, ein Thema, an das ich immer wieder gehen muss.
    Und ich freu mich, dass du es so gelesen hast, wie ich es anlegen wollte - auch wenn es mir voellig fernliegt, Entschuldigungen fuer das Verhalten von Hannes zu suchen (das liegt mir wirklich SEHR fern). Erklaerungen aber ja. Erklaerungen werde ich mein Leben lang suchen, deshalb schreib ich Geschichten auf.


    Herzlich,
    Charlie

  • Den Unterschied, den du da ansprichst, halte ich für enorm wichtig: Erklärungen für ein Verhalten zu suchen ist etwas ganz anderes, als ein Verhalten zu entschuldigen. Und ich glaube, gerade wenn es um das Thema Faschismus und dessen Verhinderung in der Zukunft geht, sind wir alle gehalten, diese Differenzierung zu beherzigen. Denn nur wenn wir versuchen zu verstehen, dass die große Menge weder aktive Widerstandskämpfer waren noch stramme Nazis, können wir, denke ich effektiv dazu beitragen, dass es sich nicht wiederholt. Mit der pauschalen Unterteilung in die Helden, die Widerstand geleistet haben und allen anderen - die Nazis - tun wir niemandem einen Gefallen.


    Ich empfinde vielleicht deshalb "Als der Himmel uns gehörte" als noch besser als "Als wir unsterblich waren", weil mir diese einfachen Menschen ohne Heldentum mit einfachen Ängsten einfach näher sind. Wenn ich bedenke, welches ungute Gefühl mich heutzutage überkommt, wenn ich auf einer Gegendemo gegen Rassismus o.Ä. mitgehe und die neuen braunen Horden ... und bei mir steht Polizei dazwischen, die auf mich aufpasst. Wenn ich mir vorstelle, wie das in den letzten Jahren der Weimarer Republik gewesen sein muss oder gar noch später - vor diesem übergroßen und lebensbedrohlichen Feind nicht panisch zitternd wie das Karnickel vor der Schlange zu erstarren, stelle ich mir unmöglich vor.


    Gerade bei Giselher, jung verheiratet und mit einer Tochter.


    Er hat zum ersten Mal Glück im Leben, etwas, das ihm allein gehört und das den Pechvogel Gisel zu einem glücklichen Menschen macht. Und dann kommen da Menschen, die das kaputt machen könnten, nur weil seine Frau aus der falschen Familie stammt. Das eigene Leben riskieren wäre schon schlimm genug - aber das von Ehefrau und Tochter?

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)

  • Vielen Dank, Susannah!
    (Und nur unter uns: Ich mag dieses auch lieber als "Als wir unsterblich waren".)


    Ich habe auch jahrzehntelang polizeigeschuetzte Demonstrationen hinter (und leider auch vor) mir und kenne das Gefuehl, das du beschreibst, sehr genau.
    Nichts habe ich aber so intensiv als "verdammte Scheisse, wie Weimar" erlebt wie die Demonstrationen gegen die sogenannten "Republikaner" 1989 in Berlin. Da war auf der einen Seite das sogenannte "Fruehlinkserwachen", das so einen grandiosen Geschmack nach Neuanfang hatte, und auf der anderen Seite das, was wir fuer voellig unmoeglich gehalten haetten: Nazis ziehen in unseren Senat.
    Und dann fehlten auf Demonstrationen ploetzlich Polizeieinheiten, und die standen uns gegenueber, hatten Steine in den Haenden und bruellten: Rotfront verrecke.
    Mein Mann und ich waren Studenten, 24 und 27, mit einem kleinen Sohn, 2, und dem Wunsch nach einem zweiten Kind.
    Uns war das nie so klar wie da:
    Die meinen uns.
    Und die meinen es ernst.


    Ich habe auch in der antifaschistischen Ausbildung nie einen zentraleren, wichtigeren Satz gelernt als: Macht euch nichts vor - die meinen uns.


    Alles Liebe.
    Charlie

  • P.S.:


    Danke auch fuer deine sehr differenzierten Anmerkungen zu Giselher.


    Ich habe das sehr schwierig gefunden - siehe meinen Beitrag ueber Nazis in Strickpullundern - und haette das ohne den deutlichen Hinweis meines grandiosen Kollegen Holger Schmidt nicht geschafft. Ich gebe - VORSICHT SPOILER - offen zu, dass es mir enorm schwer faellt, Figuren wie Giselher ohne Urteil darzustellen, dass es mich - im Sinne des Wortes - anKOTZT, so auszusehen, als haette ich das mindeste Verstaendnis.
    Hab ich nicht.
    Nur die inzwischen ziemlich sichere Befuerchtung: Ohne um dieses Verstaendnis - das ich lieber Einblick nennen wuerde - zu kaempfen, kommen wir nicht weiter.
    Manchmal moecht' ich dann nur noch gern nach Auschwitz oder Yerevan fahren und weinen, nicht verstehen lernen muessen, was ich nicht verstehen lernen kann.


    Susannah, es ist eine sehr grosse Ehre fuer mich, dass Menschen wie du meine Buecher lesen.
    Ich habe jeden Tag - auch bei meinem Roman Ararat, bei dem ich weiss, darueber komme ich nicht mehr hinaus - das Gefuehl: Wieso masst du dir das eigentlich an, du bist dazu doch viel zu seicht. Dass meine Buecher solche Leser haben, macht mich so froh, wie ich das gar nicht sagen kann.
    Und dass ich diesen Verlag gefunden habe, der mich das machen laesst, obwohl ich so bescheuert in der Mitte sitze - mit meinen Mitteln, die viel zu seicht sind, und meinem Gebiss, das sich in andere Themen nicht verbeisst.


    Danke, dass ihr das mitmacht, mit mir.

  • Es ist schon so viel geschrieben.


    Heute ist mir Hannes sympathisch und Giselher ist im Pech - ich mag ihn nicht.
    Aber ich koennte mir vorstellen, dass ich Hannes irgendwann nicht mehr mag. Ich befürchte, er wendet sich der Partei zu wegen Olympia.

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

  • Sehr düsterer und trauriger Abschnitt...


    Alberta lebt jetzt also definitiv auf dem Landsitz von James Familie. Aber sie behauptete ja, es gehört ihr nicht und sie würde nur drauf aufpassen. Hat James es ihr also vielleicht überschrieben weil er keine eigenen Erben hatte? Oder haben die Beiden tatsächlich am Ende zusammengefunden?


    Sie wirken wie ein sehr viel passenderes Paar als Alberta und Hannes, das stimmt schon. Trotzdem ist der Verrat den die beiden begehen, indem sie einfach mal so für eine Woche verschwinden um nach Griechenland fahren nur schwer verzeihlich. Ja sie sind jung, ja manchmal muss man wohl Dinge tun ohne groß drüber nachzudenken, aber ich finde die beiden haben den Bogen da eindeutig überspannt. Ich finde, Hannes hat es ganz schön gesagt. Sowohl James als auch Albi behaupten immer wieder, dass sie ihn so furchtbar lieb haben. Aber letzten Endes sind das nur Worte. Auf jemanden der einen "lieb hat" und dann so schwer verletzt, kann man in der Tat verzichten. Das ist dann keine wirkliche Liebe, denn die würde vor Taten zurückschrecken, die den anderen so schwer treffen.


    Allerdings glaube ich auch nicht, dass Hannes ein Unschuldslamm ist. Denn ich fürchte, dass der kleine "Fred" eben doch ein Frühchen ist, dass er nämlich nicht im Juli auf der Überfahrt mit Rudi, sondern im September in dieser schrecklichen Woche in der beide so verletzte wurden mit Hannes gezeugt wurde. Er scheint ja auch eine gewisse Scheu davor zu haben, zu Albi nach Hause zu kommen. Vielleicht weil er Guste nicht treffen will. Seine Gedanken bei dem Brief von Albi kreisen ja nur darum, dass er leider sie liebt und nicht anders kann und sie einfach haben MUSS. Auf die Erwähnung von Gustes Niederkunft geht er gedanklich gar nicht ein. Er zeigt auch so keine offensichtlichen Schuldgefühle. Aber ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass er der Vater ist.


    Die Nazi-Herrschaft wird immer drückender. Jetzt merkt man es an allen Ecken und Enden. Ulli geht in die Hitlerjugend, der Sportverein muss sich verändern, Giselher bangt um seine Familie, weil nicht nur Violas Vater ein Jude war, sonder ihre Großmutter auch noch, was einen Ariernachweise auf normalem Wege unmöglich macht. Auch Hannes und Alberta werden zu Zahnrädern in dieser Maschinerie, weil die Sport-Propaganda sie als Zugpferde vor ihren Karren spannen wollen.
    Ludger hofft, dass die Sache so schnell wie möglich vorüber geht, aber es hat ja gerade erst angefangen... :-(


    Das Gespräch von Dr. Guttmann und Alberta lässt ja schon die Vermutung aufkommen, dass Friedrich die Verbindung zu den kommenden Paralympics sein könnte. Ein bisschen schmunzeln muss ich immer bei Dr. Guttmann, mein Hausarzt heisst nämlich auch so.
    Albertas Gedankengang fand ich im Übrigen sehr menschlich und nachvollziehbar. Erst die Überlegung, dass es vielleicht doch für alle Beteiligten das beste wäre, wenn der kleine Friedrich einfach sterben würde. Niemand wäre mehr belastet, es liebt ihn ja auch keiner so richtig. Ich denke, das sind Gedanken die Menschen erst mal haben, weil sie mit so einer Situation überfordert sind. Aber letzten Endes hat sie sich entschieden, dass es ihr Neffe ist, ein Teil der Familie. Dass er ja noch gar keine Chance hatte ein "richtiger" Mensch zu werden, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Und sie beschließt zu kämpfen, für diesen kleinen Mann, den andere zu dieser Zeit schlicht als "lebensunwertes Leben" bezeichnen würden.


    Guste hat sich nun also wohl das Leben genommen (zumindest glaube ich nicht an einen Unfall). Aus irgendeinem Grund, war sie nicht in der Lage, länger mit sich und den anderen zu leben. Ich hatte schon so eine böse Ahnung, als Albi sie angeschrieen hat und dazu überredet hat, dass Guste den Geburtstag mitfeiert. Ich glaube das war der Moment, wo ihre Entscheidung endgültig gefallen ist. Schuldgefühle, weil eben SIE tatsächlich Albi betrogen hat mit Hannes? Sie betont ja immer wieder, dass sie weder auf Albi noch auf James böse ist. Wahrscheinlich glaubt sie den beiden sogar, dass nichts passiert ist? Aber das macht ihren eigenen Verrat in ihren Augen natürlich umso schlimmer. Außerdem gibt sie sich die Schuld an Friedrichs Zustand. Einfach eine richtig schwere Depression, ein schwarzes Loch ohne Ausweg aus ihrer Sicht.


    Jetzt geht es ja glaub ich erst mal mit Jenny weiter, eine kleine Aufhellung an dieser Stelle tut glaub ich ganz gut. Klar sind ihre Panikattacken auch nicht einfach, aber im Vergleich zur damaligen Zeit... man vergisst so leicht, wie gut man es eigentlich hat. Und das dieses freie Leben in dem man nicht ständig Angst haben muss, nicht selbstverständlich ist

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

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  • Zitat

    Original von Paradise Lost


    Schuldgefühle, weil eben SIE tatsächlich Guste betrogen hat mit Hannes? Sie betont ja immer wieder, dass sie weder auf Albi noch auf James böse ist. Wahrscheinlich glaubt sie den beiden sogar, dass nichts passiert ist? Aber das macht ihren eigenen Verrat in ihren Augen natürlich umso schlimmer. Außerdem gibt sie sich die Schuld an Friedrichs Zustand. Einfach eine richtig schwere Depression, ein schwarzes Loch ohne Ausweg aus ihrer Sicht.


    man vergisst so leicht, wie gut man es eigentlich hat. Und das dieses freie Leben in dem man nicht ständig Angst haben muss, nicht selbstverständlich ist


    Ich glaube da ist eine kleine Verwechslung im Text?? Guste müsste Albi heißen, oder??


    Dem Schluss stimme ich zu, egal ob es um Flüchtlinge oder Diktaturen geht, viele leben ja immer im Kriegszustand und uns ist es "noch" vergönnt, es gut zu haben.

  • Findus : Ja klar, Guste hat ALBI betrogen mit Hannes. Blöder Verwechsler. :bonk Werde ich gleich mal ausbessern, danke.


    Zitat

    Original von Susannah
    Und dann stehen natürlich die politischen Veränderungen in Deutschland im Mittelpunkt. Ein Engländer hat am Abend des 30. Januar 1933 gesagt, Hitlers Wahl habe einem "Sprung ins Dunkel" geglichen. Das habe ich einmal gehört und es hat sich mir eingebrannt, weil es so passend ist. Dass alle glaubten bzw. hofften, dass die Naziregierung nur eine vorübergehende Erscheinung war, kann man, denke ich, unseren Helden hier nicht vorwerfen. Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik, wo keine Regierung lange hielt und die politische Stimmung sooft kippte wie andere Leute Unterwäsche wechseln - wer soll da damit rechnen, dass dieser Hitler sich so fest in den Sattel setzen wird. Unsere Helden sind nicht politisch interessiert oder gar aktiv, die Reichweite dessen, was sich da abspielt, können sie gar nicht erkennen.


    Ich war auch beeindruckt von der Darstellung dieses Umbruchs, Charlie. Auch wenn du es anhand von Einzelschicksalen darstellst, ergibt es ein extrem stimmiges Gesamtbild, das viele Aspekte aufgreift.


    Ganz genau. An den Beispielen hier im Buch erkennt man, was genau die schlimme Mischung war, die es überhaupt ermöglicht hat, ein ganzes Land, in dem sicher nicht die Mehrheit fanatische Nazis waren, in den Wahnsinn zu stürzen. Leute die sich einfach nicht dafür interessierten und dachten, das vergeht schnell wieder. Welche die meinten, man muss sich halt nur arrangieren, dann geht alles weiter wie gehabt. Oder die, die gute Miene zum bösen Spiel machen mussten, weil sie jemanden zu beschützen hatten. Was für ein Teufelsgebräu...


    Zitat

    Original von streifi
    Wobei ich aus Guste nicht schlau geworden bin, ich kann nicht einschätzen ob und wie sehr sie in James verliebt war (also mehr als der Rest der Menschheit).


    :rofl Sehr schön gesagt.
    Also ich muss sagen, ich mag den Jungen ja schon irgendwie, ist auch schwer das nicht zu tun, aber meine liebste Figur ist er nach wie vor nicht. Dafür ist er mir einfach zu unbekümmert in allem was er tut. Wie ein großes Kind. Ich hätte ihn vielleicht gern als Kumpel, aber definitiv nicht für mehr.


    Zitat

    Original von Susannah
    Ich mag an Gisel, dass er trotz aller Fehler, die er hat, versucht, einigermaßen anständig zu bleiben bzw. für seine Familie das richtige zu tun. Obwohl ihm die Situation höllisch Angst machen muss. Er ist kein klassischer Held, dazu fehlen ihm der Mut und Pathos. Aber das ist mir menschlich irgendwie näher als die Helden, die sich opfern ... weil ich wohl selbst nicht so gewesen wäre.


    Kann ich so nur in einem fort :write

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

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  • Ich gebe mal zu: Ich bin auch nach so vielen Romanen immer noch total ueberrascht ueber die moralischen Urteile.
    Manchmal frag ich mich, ob ich in der Hinsicht einfach ein unmoralischer Mensch bin ...
    Fuer mich sind zwei junge Leute, die einen Rappel kriegen und nach Griechenland fahren, voellig in Ordnung - meinen eigenen Kindern wuerde ich sagen: Groovy gemacht. Und ich hab solche Dinger auch gemacht. Zum letzten Mal als ich 32 war. Und ich glaub', wenn sich's ergaebe, wuerde ich es immer noch machen.