Mein fremdes Gesicht. Erzählbericht – Irene Oberthür

  • Erstmals erschienen 1984


    Diese Geschichte ist die fiktionalisierte Dokumentation eines selbsterlebten schweren Unfalls und seiner Folgen. Claudia B., wie Oberthür (geb. 1941) ihr Alter Ego nennt, ist dreißig, geschieden, ein Sohn, Krankenschwester, tätig in der Mütterberatung. Das erfährt man erst im Lauf der Geschichte. Die Handlung beginnt unmittelbar, beim Abtransport vom Unfallort ins Krankenhaus. Noch weiß die Ich-Erzählerin nicht, was geschehen ist, nur daß sie schwer verletzt ist, vor allem am Kopf.


    Als Leserin ist man für die folgenden Wochen dicht an ihrer Seite, sowohl beim allmählichen Begreifen über ihre Entstellung als auch bei all den Schmerzen, die die ärztliche Versorgung bzw. Folgekrankheiten des Unfalls mit sich bringen. Oberthür bemüht sich um realistische Wiedergabe, detailliert, in einer sachlichen Sprache, die das ganze Entsetzen über das, was ihr widerfährt, unmittelbar erlebbar macht. Es ist keine angenehme Lektüre.


    Ähnlich realitätsnah sind die psychischen Probleme geschildert. Beklemmend sind die Ängste vor dem Leben außerhalb des Krankenhauses und zwar mit einem entstellten Gesicht. Der Weg zurück ist ungeheuer mühsam. Weder die körperliche noch die psychische Gesundung verlaufen geradlinig, unerwartet kommt es immer wieder zu Krisen. Die Autorin stellt viele Fragen, nach der Bedeutung von Aussehen, Auftreten, dem Einfluß anderer. Wie man mit dem Verlust von Selbständigkeit umgeht, selbst wenn es nur für ein paar Monate ist, mit Abhängigkeit. Wie mißtrauisch man wird gegenüber anderen, wie gefährlich schnell man Freundlichkeit mit Mitleid verwechselt und umgekehrt. Über die Bedeutung und den Sinn des Lebens, natürlich. Sie findet etwa die interessante Formel, daß man ein Leben nicht nur gelebt haben soll, sondern erlebt.


    Die Einflüsse von außen, die der Protagonistin zurück in den Alltag helfen, werden eher verhalten geschildert. Lange sind es eher die medizinischen und psychologischen Behandlungen, die sie vorwärtsbringen. Daran spürt sie Fortschritt. Das gibt recht genau den Zustand wieder, in dem man sich als Schwerkranke befindet, wenn ausschließlich der eigene höchstgefährdete Zustand das Zentrum des Seins bildet.


    Auf der anderen Seite betont es, was Oberthür wichtig ist, nämlich daß man ein hohes Maß an Eigenleistung bringen muß, um ein solches Trauma zu bewältigen und mit der Entstellung weiterleben. Es gibt hier also keine Weisheiten von denen die es gut meinen oder besser zu wissen meinen, keine platten Sprüche der Hoffnung, keine sentimentalen Freundschafts – oder gar Liebesszenen, die über die tatsächlichen Probleme hinwegkleckern, wie so oft in Erzählungen über Menschen mit schweren Krankheiten. Kraft und Mut, beides in einem Ausmaß, das man sich nur schwer vorstellen kann, werden hier vom Individuum gefordert. Nur darauf kommt es zunächst an. Und erst, wenn man sich selbst gefunden hat, kann man die helfende Hand der anderen richtig akzeptieren.


    Eindringlich geschildert, fordernde Lektüre, mit viel Stoff zum Nachdenken.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hi, bo :grin


    nein, auf keinen Fall leicht, es nimmt einer schon ab und zu die Luft, da geht es einer wie der Autorin.
    Aber ein echtes Fundsück, wurde, wenn ich es recht gesehen habe, bis 1990 aufgelegt. Seither leider nur noch antiquarisch zu bekommen. Ich habe es auch unter Stapeln alter Bücher herausgezogen.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus