Adrian ist mit seinen vierzehn Jahren schon über 1,90 m groß und er wird noch wachsen. Das macht sein Leben nicht leicht, aber er kommt damit zurecht, weil seine Größe dem einzigen Menschen, der ihm wichtig ist, nichts ausmacht, Stella nämlich. Adrian und Stella sind seit Kleinkindertagen befreundet. Sie wohnen in einem Doppelhaus, das durch eine Terrasse verbunden ist. Die beiden kennen jeden Zentimeter im Nachbarhaus, jedes Familienmitglied der/des jeweils anderen, als wäre es die eigene Verwandtschaft. Sie haben die gleichen Vorlieben, denken ähnlich, sie haben spielerische Rituale entwickelt.
Allerdings sind die Rollen klar verteilt, die Führung hat Stella. Sie geht auch offen mit Adrians Größe um. Statt sein Anderssein betont zu übersehen, nennt sie ihn Einsneunzig und sucht zusammen, was auf der Welt am größten und längsten ist, Brücken, Schlangen, Pflanzen und schlägt es ihm um die Ohren. Wenn Stella pfeift, kommt Adrian angelaufen. Das erspart ihm eine Menge Eigeninitiative. Davon hat er über die Jahre folglich wenig entwickelt. Er bringt sie höchstens auf, wenn es darum geht, Arzttermine zu schwänzen. Seine Mutter möchte nämlich, daß er eine Hormontherapie macht, um sein Wachstum zu stoppen.
Als im verrufenen Haus gegenüber plötzlich und auch noch nachts jemand einzieht, ist es ganz klar, daß die beiden herausfinden müssen, was es damit auf sich hat. So trifft Stella Dato und Adrians heile Welt liegt in Trümmern. Für immer scheint es, schließlich herrscht bitterer Winterfrost.
Kreller erzählt diese Geschichte betont künstlerisch, in einer Mischung aus personalem und auktorialer Perspektive, die Nähe und Distanz zugleich ermöglicht. Adrian blickt von hoch oben auf die Geschehnisse und ist zugleich direkt betroffen. Das funktioniert aber nur wenige Seiten lang, bald wirkt es steril
Dazu kommt, daß die Autorin sich um eine kunstvolle Sprache bemüht, die aber leider nur Wortgeklingel ist. Banale Aussagen werden aufgebläht, um ihnen Bedeutung zu verleihen. Weil es in Stellas Haus nach Vanille duftet, werden die dortigen Treppen zu ‚Vanilletreppen‘, ein Sofa ist ‚nächtlich erschrocken‘, ein Ehemann ‚längst verjährt‘, Seufzer ‚beschwert‘ und ein Gegenstand von Stella ‚umhandet‘. Auch scheint Adrians Familie nicht nur in puncto Körpergröße anatomisch auffällig zu sein. An einer Liebeskummertrunkenen Stelle hat Adrian ein ‚verkrümmtes Herz‘ und das Gehirn seines Vater ist von Lachfältchen durchzogen. Der Text ist voll mit solchem Unsinn, der zudem an nicht wenigen Stellen im Kontext gesehen dann Gesagtes aushebelt, nebulös macht oder gleich unmöglich.
Ein wesentlicher literarischer Bezug soll Andersens Märchen von der Schneekönigin sein, Stellas Großmutter hat es den Kindern oft vorgelesen, aber das wirkt bemüht und ist auch nicht recht verstanden worden. So handelt es sich z.B. nicht um einen Eissplitter, den die Opfer der Schneekönigin im Auge haben. Und sie haben ihn auch nicht ‚einäugig von der Schneekönigin kassiert.‘
Von dem vermeintlich künstlerischen Geschreibsel schon verärgert stößt man bei Betrachtung der Figuren und der Bestandteile der Handlung auf kaum etwas mehr als Klischees. Adrians Mutter sieht man vor allem in Schürze bei Hausfrauentätigkeit und in der Regel am Rand der Hysterie, weil Adrian nicht verstehen kann/will, wie schwer das Leben als sehr großer Mensch ist. Adrians Vater zwar selten daheim, aber zur rechten Zeit zur Stelle und dann gütig. Stella hat den marktüblichen Stiefvater und eine böse Stiefschwester außer einer Mutter, deren Hauptbeschäftigung es ist, nach Vanille zu duften.
Eine wesentliche Rolle hat Stellas Großmutter. Da es sich inzwischen herumgesprochen hat, daß Großeltern nicht mehr per se weißhaarig und tattrig sind und beim Anblick von Enkelkindern unweigerlich Kuchen und Kakao und weise Sprüche servieren, hat man sich etwas einfallen lassen. Zeitgemäße Großeltern in Kinder – und Jugendbüchern sind exzentrisch. So auch hier.
Stellas Großmutter hat rote Haare und eine Alkoholikerinnen-Karriere hinter sich samt einem englischen Liebhaber, weswegen sie ‚Misses Elderly‘ genannt werden will. Da sie keine Andersen-Märchen mehr vorlesen kann, macht sie Yoga-Kurse. Trotzdem hat sie jede Menge weise Sprüche auf Lager und versteht Adrian besser als er sich selbst.
Natürlich ist unser Held ein Künstler. Er zeichnet. Natürlich wird Weihnachten gefeiert und das altbekannte Klagelied über den Verwandtenbesuch angestimmt. Von dem Stroh ist kaum noch ein Stäubchen übrig, so oft wurde es gedroschen.
Ausgesprochen diskussionsbedürftig werden die Klischees bei der Darstellung der Familie im Haus gegenüber. Sie stammt aus Georgien, es sind Flüchtlinge. Von allen Fluchtgründen hat Kreller sich den sentimentalsten und altmodischsten ausgesucht, ob das den Märchencharakter oder die Liebesgeschichte verstärken soll oder, wie vieles in dem Buch, ohne langes Nachdenken allein um der grellen Wirkung Willen geschah, ist nicht herauszufinden.
Die georgische Familie ist sehr bunt und vor allem exotisch, selbstverständlich wird wunderbar gekocht – fremde Kulturen lassen wir uns am liebsten auf der Zunge zergehen – und sie hält die Heilung für Adrians verwundetes Herz parat. Kurz: das Fremde wird wieder einmal benutzt, um die Bedürfnisse des weißen Mannes zu stillen.
Allerliebst, rundum.