Die obere Hälfte des Motorrads - Bernt Spiegel

  • In "Die obere Hälfte des Motorrads" geht es ausschliesslich um eben diese, nämlich den Fahrer bzw. die Fahrerin. Das Buch soll aufzeigen, warum es so schwierig ist ein guter Motorradfahrer zu werden (und zu bleiben) und was man ganz gezielt an sich selbst beobachten und verbessern kann. In der ersten Hälfte des Buches holt der Autor dazu weit aus und fängt praktisch mit der Menschwerdung an. Er zeigt auf, welche komplizierten Prozesse in den Nervenbahnen und im Gehirn geschaltet werden müssen, um auch nur die einfachsten anatomischen Mechanismen in Gang zu setzen. Er macht deutlich, warum es so schwierig ist, eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern und neue zu erlernen und beschreibt dabei interessante Details, die auf den ersten Blick eigentlich nichts mit dem eigentlichen Thema Motorradfahren zu tun haben. So lesen sich zwar rund 50 Prozent des Buches sehr interessant, aber der Motorradfahrer fragt sich: was hat das Alles mit mir zu tun?
    Nun, dafür hat der Autor nach und nach sehr anschauliche Beispiele parat - so auch folgendes: eines der grössten psychologischen Hindernisse für den Motorradfahrer ist die Schräglage. Die Schräglage kann Leben retten, wenn man sie konsequent, vorallem wenn's brenzlig wird, einsetzen würde. Was hindert aber nun den Fahrer sich tiefer und tiefer und noch tiefer gen Asphalt zu legen um die lebensrettende Kurve vielleicht doch noch zu kriegen und nicht im Graben zu landen? Antwort: Es ist für den Menschen an sich völlig unnatürlich über seine Achsenmitte mehr als 20 Grad hinauszugelangen. Das ist rein anatomisch einfach nicht möglich. Versuche mit Läufern an einer Steilkurve zeigen das auch deutlich. Ab einer Schräge von etwa 20 Grad, findet ein Mensch im Laufen keinen Halt mehr und das Gehirn signalisiert, dass man gleich umfallen wird, wenn man diese Schräglage beibehält. Und genau diese "Urprogrammierung" im Gehirn sagt dem Motorradfahrer "Bis hierher und ja nicht weiter!", was natürlich durch die wesentliche höhere Geschwindigkeit eines Motorrads (als ein Mensch zu Fuss hat) eigentlich kein Problem ist - für das Gehirn ist es ein grosses, manchmal unüberwindliches. Mit dieser Kenntnis, dass uns das Gehirn in diesem Fall eine Falschmeldung gibt und wir mit dem Motorrad eigentlich noch viel höhere Schräglagengrade gefahrlos erreichen können, schlägt der Autor gezieltes Training vor, um die eigene Wahrnehmung "umzuschulen".
    Das ist aber nur ein kleines Beispiel und gerade im zweiten Teil des Buches gewinnt es durch ähnlich viele praxisorientierte Bezüge deutlich an Nutzwert. Auch der vorgeschlagene Fehlerzähler und die vielen anderen ausführlich beschriebenen Ideen und Anregungen sind eine Fundgrube für jeden begeisterten Motorradfahrer, der damit nicht nur seinen Fahrstil entscheidend beeinflussen kann, sondern auch andere in ihrem Denken und Tun im Strassenverkehr besser einzuschätzen lernt.


    Für alle Interessierten, denen es bei Bernt Spiegel (gerade im ersten Teil des Buches) zu theoretisch und praxisfremd zugeht, dem sei an dieser Stelle auch das von der Zeitschrift MOTORRAD herausgegebene Buch "Sicher motorradfahren" nahegelegt, dass auch in Zusammenarbeit mit dem gleichen Autor ausschliesslich auf die fahrpraktischen Übungen eingeht und auf die Vermittlung von Hintergrundwissen fast völlig verzichtet.


    Wie auch immer - gerade jetzt, da die Tage wieder anfangen länger und wärmer zu werden, kann für den einen oder anderen auch eine lesetechnische Beschäftigung mit der schönsten Nebensache der Welt bestimmt nur von Vorteil sein. Gute Fahrt!


    Gruss,


    Doc ;)

  • Ich kann aus meiner Berufserfahrung berichten : absolutes Standardwerk, was immer wieder durch Mundpropaganda weiterempfohlen wird...

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Schöne Theorie, Doc
    Ich würde allen MotorradfahrerInnen lieber ein Sicherheitstraining empfehlen anstatt die Nase in ein Buch zu stecken.


    Um ein Gefühl für die Maschine zu bekommen muß man fahren..nicht lesen.

  • Zitat

    Original von Alexx61
    Schöne Theorie, Doc
    Ich würde allen MotorradfahrerInnen lieber ein Sicherheitstraining empfehlen anstatt die Nase in ein Buch zu stecken.


    Um ein Gefühl für die Maschine zu bekommen muß man fahren..nicht lesen.


    Ich hab auch nicht behauptet, daß man nur durch Lesen motorradfahren lernt. :-) Nein nein, das Buch zeigt für alle Fahrer, die meinen schon alles zu können und zu wissen durchaus jede Menge Schwachstellen, die man eben im Alltag tatsächlich hat. Und der Autor gibt durchaus jede Menge sofort umsetzbare Tipps, wie man solche gefährlichen eingeschliffenen Schwachstellen erkennt und beseitigt.


    Sicherheitstrainings, und zwar regelmässig, sind das A und O. Ich mache eigentlich jedes Jahr eines und finde die klasse!


    Gruss,


    Doc

  • alex
    So ähnlich sah das nach unserem Enduro-Training aus. Wir mussten so schnell wie möglich den rausgeschwitzten Flüssigkeitsverlust ausgleichen... :-)


    Gruss,


    Doc

  • Sympathischer Umgangston - wenig Inhalt


    Klappentext, Rezensionen und Beschreibungen versprechen viel: Der Leser erwartet einen keineswegs techniklastigen Diskurs über das Fahren motorisierter Zweiräder, und freut sich plötzlich über Regen, Schnee, Eis, oder gesundheitliche Einschränkungen, die das Lesen eines Buches zu einer willkommenen Alternative zum genussvollen Heizen auf kurvenreichen Strecken erscheinen lassen. Die Überzeugung, endlich ein Buch in den Händen zu halten, dass nicht mit religiösem Eifer das Motorrad glorifiziert, oder seitenweise über Bremszonen und Einlenkpunkte philosophiert, weckt Vorfreude - lässt sogar manchen Praktiker mit theoretischen Ausführungen liebäugeln. Das Werk eines Verhaltensforschers verspricht eine kompetent und routiniert gegliederte populärwissenschaftliche Abhandlung über das menschliche Verhalten am Beispiel Motorradfahren.


    Man muss weder Physiker noch KFZ-Mechaniker oder Ingenieur sein, um sich in Spielgels Werk zurechtzufinden. Schon wer gelegentlich mit einem Motorroller oder auch einem Fahrrad unterwegs ist, findet durchaus Anregungen, sein eigenes Tun in konstruktiver Form zu reflektieren und so mehr Sicherheit oder Fahrvergnügen zu erlangen. Insbesondere die ersten vier Kapitel widmen sich dem Zusammenspiel aus Psyche und Physik, und beschreiben in kompakter Form teils interessante Phänomene und Erkenntnisse.


    Hat man nach etwa zwei Dritteln des Buches das dreiseitige Resümee zur unerklärlichen Faszination des Motorradfahrens gelesen, ist man vielleicht ein Wenig schlauer. Allerdings fragt man sich, ob die Lektüre von mehr als zweihundert Seiten den erreichten Zuwachs an Erkenntnis und Reflexion tatsächlich rechtfertigen. Zu lang sind mitunter die in betont unwissenschaftlichem Stil verfassten Ausführungen über Denkvorgänge, Verhaltensmuster und menschliche Eigenschaften, die gelegentlich unerwartet detailliert von Ausführungen über Fahrphysik und Fahrtechnik unterbrochen werden. Wortwahl und Aufbau vermitteln oft den Eindruck, es handele sich bei dem Buch nicht um ein systematisches Werk, das strukturiert durch die einzelnen Inhalte führt. Vielmehr wirken die Texte wie transkribierte Vorträge in denen der zweifelsfrei erfahrene und keineswegs unwissende Autor mit viel Leidenschaft versucht seinem Publikum abseits vom üblichen Fachbuchterminus die mentale Grundlage eines Hobbies zu vermitteln, das leider zu viele sehr unüberlegt angehen. Oft stößt man auf durchaus lesenswerte Ansätze, die scheinbar bereitwillig über den üblichen Horizont hinausstreben, aber zu häufig liest sich der anschließende Text wie vielfältig mehrfach umschriebenes Halbwissen ohne jede weitere Substanz. Besonders die Ausblicke in die Neurologie (Entwicklung und Aufbau des Gehirns)oder die Psychologie (Unterteilung des Ich) nehmen einen Umfang in Anspruch, der mit weniger Wiederholungen mehr Platz für kompaktes Fachwissen bereitstellen könnte. Seinem im Vorwort beschriebenen Vorsatz, den laufenden Text einigermaßen schlank zu halten, hätte Spiegel mit dem repräsentierten Wissen trotzdem durchaus gerecht werden können - dann hätte das Buch mindestens ein Drittel seines Umfangs eingebüßt, was bei geschickter Vorgehensweise definitiv ein deutlicher Zugewinn wäre.


    Wer nun mit Begeisterung die in Kapitel fünf erstaunlich praktisch aufbereiteten Übungen zu lesen bekommt, findet sich mit seinem Urteil, dieses Kapitel sei das beste des Buches, prompt in der Gruppe der Leser wieder, für die dieses Buch vielleicht gar nicht geschrieben worden ist: Die Biker, die nach Tipps suchen, ihren Umgang mit der Maschine zu verbessern. Doch wer nach einer sprachlich reizvoll aufbereiteten und bewusst interdisziplinären Abhandlung über das Fahren motorisierter Zweiräder sucht, die sich nicht mit den üblichen Inhalten gängiger Fahrertrainings befasst, und selbst für Menschen ohne Motorrad einen inspirierten und geistreichen Blick in die Vielfalt menschlichen Daseins und Tuns bietet, wird möglicherweise enttäuscht.


    Letztendlich ist Spiegels Versuch, die Theorie des Motorradfahrens ohne wissenschaftlichen Pathos und technokratischem Ballast zu vermitteln als gescheitert zu betrachten. Und das obwohl weder kryptische Formulierungen noch überbordende Exkurse das Lesevergnügen schmälern. Was bleibt ist ein Buch, das weit mehr verspricht als es zu halten vermag, und den Leser mit wortreichen Ausführungen mehr strapaziert, als mit kompakten anspruchsvollen Texten.


    (Wahrscheinlich hätte ich zuvor nicht zu viel von Oliver Sacks oder Paul Watzlawick lesen sollen.)


    Vielleicht mag dieses Buch für einen Biker eine Lösung sein, wenn unter eingangs beschriebenen Bedingungen das Fahren nicht möglich ist und sämtliche einschlägigen Zeitschriften bereits gelesen sind. Sonst: Rauf auf'n Bock und mit der richtigen Mischung aus Konzentration, Gelassenheit und Selbstkritik 'Kilometer machen', und gelegentlich an Fahrertrainings teilnehmen.