Johanna Holmström: Asphaltengel
Ullstein Verlag 2014. 400 Seiten. Klappenbroschur
ISBN-13: 978-3550080579. 14,99€
Originaltitel: Asfaltsänglar
Übersetzerin: Wibke Kuhn
Verlagstext
Leilas finnische Mutter ist zum Islam konvertiert. Seitdem interessiert sie sich nur noch für die korrekte Auslegung des Korans. Sogar Familienfotos sind verboten. Leilas Vater kommt aus dem Maghreb und ist selbst Muslim – aber dieser Fanatismus ist ihm viel zu anstrengend. Und ihre große Schwester Samira ist längst vor dieser verrückten Familie geflohen. Alleine ist es schwer für Leila, zu Hause den Verstand nicht zu verlieren. Dann wird Samira eines Tages schwer verletzt am Fuß einer Treppe gefunden. Ist sie gefallen? Oder wurde sie gestoßen? Leila versucht herauszufinden, was mit ihrer Schwester passiert ist. Das Leben zwischen den Kulturen ist gefährlich, besonders für Mädchen. Aber Leila weigert sich, Opfer zu sein. Asphaltengel ist einer der beeindruckendsten und hinreißendsten Romane seit langem.
Die Autorin
Johanna Holmström wurde 1981 in Sibbo geboren. Sie gehört der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland an. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihren zwei Töchtern in Helsinki. Sie ist Journalistin und studiert arabische Literaturwissenschaft. Für ihre Erzählungen erhielt sie unter anderem den Literaturpreis des Svenska Dagbladet. Asphaltengel wurde von der Presse hymnisch besprochen.
Inhalt
Ein Asphaltengel ist ein Mädchen, „das auf den Balkon gegangen ist, um nie wieder hereinzukommen“, das unter verdächtigen Umständen verunglückt, die an Selbstmord oder Gewalt durch die Familie denken lassen.
Erzählt wird das Schicksal von Leila, Samira und weiteren Personen, muslimischen Mädchen und ihren Familien in Finnland. In einem mit Zeitsprüngen raffiniert aufgebauten Plot erzählt Leila selbst aus der Ichperspektive, eine Erzählerstimme berichtet die Erlebnisse ihrer Schwester Samira. Leilas Mutter ist Finnin und hat einen Muslim aus dem Maghreb geheiratet, der in Finnland als Busfahrer arbeitet. Beim Besuch in der Heimat ihres Mannes verschleiert die Mutter sich kurzfristig, um nicht ständig angestarrt zu werden. Später konvertiert sie zum Islam – und zeigt sich wie viele Konvertiten vor ihr als weitaus strenger und kontrollierender als ihr Ehemann. Mit 15 Jahren lebt Leila die Steigerungsform des Pubertierens, die Auflehnung gegen eine streng muslimische Mutter. Auf ihre Freiheitsbestrebungen reagiert Leilas Mutter mit aller Härte; der Standpunkt des Vaters zur Erziehung der Töchter wird erst zu einem späteren Zeitpunkt deutlich. Auf Fernsehen, Zeitung, Fotos und vieles andere sollen die Töchter verzichten, weil es „haram“ ist. Verschleierung, Jungfräulichkeit, die Aufrechnung von Ehre und Brautgeld gegeneinander, die Kontrolle durch Brüder und Nachbarn, in Leilas Umfeld werden all diese Themen kontrovers diskutiert. In der Schule (mit muslimischen Schülern aus Somalia, Kosovo und Pakistan) gibt es Mobbing und eine strenge Trennung zwischen Einheimischen und Kindern von Zuwanderern in „die“ und „wir“
Die ältere Schwester Samira hat mit 18 Jahren die Familie verlassen und lebte inzwischen von öffentlicher Unterstützung in einer eigenen Wohnung. In der Gegenwart liegt Samira im Koma nach einem Zwischenfall, der noch zu klären ist. Innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren springt die Handlung mit Rückblenden zwischen Leilas Sicht und der Erzählerperspektive hin und her. Samiras Unfall lässt an familiäre Gewalt denken. Aber das Täter-Opfer-Schema aus der Sicht Außenstehender funktioniert in dieser Familie nicht. Deutlich wird an Samiras Rolle auch die Macht der Mädchen, das Jugendamt einzuschalten, das auf eine erzwungene Verschleierung Minderjähriger reagieren würde.
Fazit
Weil es in Holmströms Roman zwar eine Icherzählerin, aber keine Hauptfigur und keinen zentralen Konflikt gibt, kommt die Handlung nur langsam in Gang. Die Motive der Mutter und wie es sich anfühlt, diese zwischen Religion und eigenen Träumen zerrissene Fünfzehnjährige zu sein, vermittelt die Autorin authentisch. Durch die Trennung der Erzählperspektiven verliert Holmström jedoch streckenweise die Innenwelt Ihrer pubertierenden Figur Leila zu stark aus dem Blick. Nicht alle Gedankengänge Leilas konnte ich nachvollziehen, einige klangen sehr nach Botschaften, die die erwachsene Autorin dringend an die Leserin bringen wollte. Aufgrund des in ganz Europa aktuellen Themas Konvertierung zum Islam und speziell der Konvertierung von Frauen bleibt „Asphaltengel“ ein wichtiger und lesenswerter Roman.
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Zitat
„Das Schulgebäude stemmt sich gegen den Wind. Drinnen riecht es nach nassen Socken und durchweichten Hosenbeinen, Schulwänden, vielleicht verstecktem Schimmel. Aber in erster Linie reicht es nach Überdruss und Schweiß und Jungs im Stimmbruch. Ein Lehrer watet durch das Hormonmeer. Widerstrebend teilt es sich vor ihm.“ (S. 357)
7 von 10 Punkten