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Gila Lustiger erzählte zu Beginn der Veranstaltung ein wenig über sich selbst und weshalb sie noch vor dem Abitur ausgerechnet von Deutschland nach Israel ging. 1963 wurde sie als Tochter von Arno Lustiger geboren, einem der (Wiederbe-)Gründer der jüdischen Gemeinde in Frankfurt und einem Überlebenden des Holocaust. An ihrer Schule sei ein neuer junger GK-Lehrer gewesen, der den Schülern die sicherlich gut gemeinte Aufgabe stellte, aufzuschreiben was ihre Eltern während des Kriegs gemacht hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt sei sie Klassenkameradin gewesen, danach dann Jüdin. Mit 18 wolle man sich selbst entdecken und definieren, statt von außen definiert zu werden. Sie wollte nicht mehr vordergründig jüdisch sein müssen und so sei sie in das einzige Land gezogen, in dem sie nicht mehr Jüdin sein musste - nach Israel. Dort sei sie über Nacht bewusst Deutsche geworden und studierte Germanistik bei Emigranten, die in den 1930er Jahren mit ihren Bibliotheken ausgewandert waren. Damals habe es Erstausgaben von z.B. Döblin fast nur noch in Jerusalem und Brasilien gegeben. Erst dort sei ihr ihre Liebe zur deutschen Sprache und Literatur bewusst geworden, verbunden mit der deutschen Kultur.
Sechs Jahre später zog sie mit ihrem Partner Emmanuel Moses nach Paris, wo sie zunächst als Journalistin tätig war, später auch als Lektorin. Obwohl sie seitdem nicht mehr in Deutschland gelebt hat, fühlt sie sich in der deutschen Gemeinde in Paris, der deutschen Kultur und Sprache tief verwurzelt.
Auf die Frage, weshalb das Judentum in jedem ihrer Bücher eine Rolle spiele, antwortet Gila Lustiger, dass sie das nie bewusst einflechten würde, ganz im Gegenteil eher vermeiden oder zumindestens reduzieren wolle, doch es würde sich immer wieder einschleichen.
Im Mittelpunkt ihres neuen Buches "Die Schuld der anderen" steht der Journalisten Marc Rappaport. Dieser würde sich immer wieder in intensive Recherchen stürzen und dessen neuestes Projekt die Aufklärung eines Mordfalls ist, der vor 27 Jahren an einer Prostituierten verübt wurde. Der anfangs eher kleine Fall nehme irgendwann nationale Ausmaße an und hier wurde die Moderatorin von Gila Lustiger ausgebremst, denn mehr solle nicht verraten werden.
Dann wurde ein etwas längerer Abschnitt vorgelesen, der die Ankunft von Marc Rappaport in Marseille schilderte, sowie das Leben in einem problematischen Vorort. Einfühlsam und überzeugend werden die Probleme und Gedanken der Menschen dort geschildert, nachvollziehbar ihre Resignation und auch teilweise die Kompromisslosigkeit. Schon auf den wenigen vorgetragenen Seiten wird Marc Rappaport lebendig und die Zuhörer waren sichtlich gefesselt.
Eigentlich habe sie diesen Roman nicht so schreiben wollen, aber nach über 25 Jahren hatte sie das Gefühl Frankreich nicht mehr zu verstehen. Nicht verstehen zu können, weshalb Marie Le Pen gewählt wird, wie es zu den Krawallen und Demonstrationen in Paris kommen konnte und zu antisemitischen Übergriffen. In ihrem eher wohlhabenden Wohnviertel werde sie auf ihre Fragen keine Antworten finden und so reiste sie durch das Land, durch Vororte von Großstädten und durch kleinere Orte. In Gegenden, in denen 30% die Front National wählten und die Menschen sich abgehängt fühlen. Bei der Recherche stieß sie auf den im Buch geschilderten Fall, der echt ist. (Auch an dieser Stelle verhindert Gila Lustiger, dass dem Publikum zuviel vom Inhalt verraten wurde.)
Auf die Frage, warum sie einen Journalisten als Hauptfigur gewählt hat statt einem Polizisten, ob dieser der bessere Ermittler sei, reagiert Gila Lustiger amüsiert - denn die Moderatorin ist selbst Journalistin.
Sie würde ihre Figuren nicht alle bewusst und gezielt konzipieren, sondern die Figur war einfach so. Eine Person, die die Welt ganz klar in schwarz und weiß unterteilt, aber selbst einen ambivalenter Charakter hat. Genau dies habe sie gereizt, sowie die Frage nach der Schuld für die sozialen und politischen Probleme, für die Folgen des Kolonialismus.
Ihr Roman ist teilweise in den 1980er Jahren angesiedelt, als Mitterand an der Regierung war, die Sozialisten beschlossen mit dem Liberalismus zu brechen, die Schlüsselindustrien zu verstaatlichen und den Staat binnen zwei Jahren in den Bankrott führten. Als Folge daraus hätten eben jene Sozialisten den wahren Liberalismus eingeführt.
Als Ausländerin habe sie eigentlich kein so kritisches Buch über die französische Gesellschaft schreiben wollen, habe jedoch nichts vergleichbares auf Französisch gefunden. Die Problematik der Menschen in den Vorstädten habe sie so sehr beschäftigt, dass "Die Schuld der Anderen" daraus wurde. Ein kritischer Blick auf Frankreich, verpackt in die Handlung des Kriminalfalls.
Der Roman wird jetzt ins Französische übersetzt und Gila Lustiger ist sehr gespannt auf das Echo in Frankreich.