Matthew Thomas: Wir sind nicht wir

  • Matthew Thomas: Wir sind nicht wir
    Berlin Verlag 2015. 896 Seiten
    ISBN-13: 978-3827012067. 24,99€
    Originaltitel: We Are Not Ourselves
    Übersetzerinnen: Astrid Becker und Karen Betz


    Verlagstext
    Wurde je bedingungsloser ans Glück geglaubt als im New York des 20. Jahrhunderts? Matthew Thomas‘ Epos einer irisch-amerikanischen Einwandererfamilie – international schon eine literarische Sensation – umspannt drei Generationen und zeichnet das Porträt von Eileen Tumulty, vielleicht eine der kompromisslosesten Träumerinnen der Literaturgeschichte. Ob in dem kleinen Apartment in Queens, in dem Eileen in den 1940er- und 50er-Jahren aufwächst, gelacht oder geweint wird, kommt ganz darauf an, wer gerade zu Besuch ist oder wieviel getrunken wird. Nicht ihre Eltern möchten, dass sie es einmal besser hat – sie selbst will dieser Enge unbedingt entfliehen. Als sie Ed Leary begegnet, einem jungen Wissenschaftler voller Sanftmut, scheint das Ersehnte so nah: ein schönes Haus, eine kleine Karriere, eine glückliche Familie. Doch was, wenn Träume in Erfüllung gehen, das Glück sich aber nicht hinzugesellt? Thomas erzählt nicht von Tellerwäschern und Millionären, sondern von ganz gewöhnlichen Menschen. Denn sie – die Mittelschicht – sind es, die Amerika zu einem mythischen Ort der Freiheit und Selbstverwirklichung gemacht haben. Aber so, wie wir längst wissen, dass dieser Mythos nur eine Chimäre war, erfahren auch Eileen, Ed und ihr Sohn Connell, wie schnell Sichergeglaubtes ins Wanken gerät. Dann stellen sich die drängenden Fragen: Was ist wirklich wichtig im Leben? Hat man ein Recht auf Glück? Und wer sind wir, wenn wir nicht mehr wir selbst sind?


    Der Autor
    Matthew Thomas, in der New Yorker Bronx geboren und in Queens aufgewachsen, studierte an der Universität Chicago und Kalifornien. Er lebt mit seiner Frau und Zwillingen in New Jersey. 10 Jahre schrieb der ehemalige Highschool-Lehrer an seinem ersten Roman, und wurde dann mit „Wir sind nicht wir“ über Nacht zum umworbensten Autor des Jahres.


    Inhalt
    Eileen, die Tochter irischer Einwanderer in New York, war schon als Kind unbedingt entschlossen, die ärmlichen Verhältnisse zu verlassen, in denen sie aufwuchs. Als sie sich mit 13 Jahren bei ihrem Job im Waschsalon fragte, ob sie je genug verdienen könnte, um aus der Armut herauszukommen, symbolisierten die Häuser der Wohlhabenden für sie stets Sicherheit. Eileen steigt auf zur Pflegedienstleiterin und arbeitet in verschiedenen Krankenhäusern, sie heiratet Ed Leary und wird in einem Alter Mutter, in dem andere Paare die Hoffnung auf ein Kind längst aufgegeben haben. Von Ed erwartet Eileen, dass er sie und den Sohn Connell mit seinem Erfolg nach oben tragen wird. Glück und Erfolg liegen für Eileen nicht im Sein oder im Können, sondern im Haben. Glück ist nicht, wenn Ed im Einklang mit sich und seiner Lehrtätigkeit lebt, sondern Glück wäre, wenn er Eileens Ziele verfolgen würde. Um die Frage, ob Ed mit dem Erreichten zufrieden ist oder im Universitätsbetrieb weiter aufsteigen möchte, kommt es zu ersten Unstimmigkeiten zwischen den beiden. Bereits vor seinem 50. Geburtstag zeigt Ed verstörende Anzeichen einer Persönlichkeitsveränderung, die eine schwere Krankheit vermuten lassen. Die ersten Symptome sprechen eine deutliche Sprache, die Eileen trotz ihrer Berufserfahrung in der Krankenpflege nicht wahrhaben will. Diesen Ereignissen vorausgehend, ist das Stadtviertel der Learys in Washington Heights gekippt; die vertrauten Nachbarn sind weggezogen, Geschäfte und Restaurants haben die Besitzer gewechselt. Eileen ist der Meinung, dass sie sich eine Adresse in diesem Viertel in ihrem Beruf nicht mehr leisten kann. Sie ist einerseits unbedingt entschlossen, einige hunderttausend Dollar für Connells Studium zurückzulegen, obwohl noch unklar ist, ob eine angesehene, kostspielige Universität überhaupt sein Ziel ist. Keiner der Ehepartner hat für den Fall der Berufsunfähigkeit vorgesorgt. Ed hat in seinem Alter erst Anspruch auf eine minimale Rente, Eileen hat noch keinen Rentenanspruch. Das Kippen des Wohnviertels könnte für beide eine Wertminderung ihres Hauses und damit ihrer Altersvorsoge bedeuten. Eileen argumentiert aber nicht mit der Entwicklung der Immobilienpreise; sie hat sich in den Kopf gesetzt, nun endlich ein Haus mit sieben Zimmern in einem angesehenen Viertel besitzen zu wollen. Sparen für ein Studium, Hauskauf, ein weiterer Weg zur Arbeit, Eds sich abzeichnende Krankheit – Eileen müsste dringend auf den Boden der Realität zurückfinden. Da Eileens Eltern beide Trinker waren, habe ich eine Weile damit gerechnet, dass sie in ihrer kompromisslosen Maßlosigkeit eine weitere Patientin in der Familie sein würde.


    Fazit
    Wer den körperlichen und geistigen Verfall eines Demenzkranken miterlebt hat, ahnt zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Handlung, welchen Weg Eds Schicksal nehmen wird. „Wir sind nicht wir“ zeichnet als opulenter Familienroman dreier Generationen diese Entwicklung akribisch auf, behält aber auch Frau und Sohn des Patienten im Blick. Mit Eds Verfall vom Vater zum hilflosen Pflegefall muss Connell erst umgehen lernen – Eileen ist ihm dabei keine Hilfe. Seine Mutter, die mit dem Erreichten niemals zufrieden sein kann und die so viel Wert auf die Wahrung der Fassade legt, steht hier als gesellschaftliche Aufsteigerin in einer Einwanderer-Gesellschaft stellvertretend für die amerikanische Mittelschicht. Matthew Thomas schont seine Leser vor keinem ernüchternden Detail einer Alzheimer-Erkrankung; gerade die Entwicklung der betroffenen Angehörigen finde ich aufgrund seines sezierenden Blicks unbedingt lesenswert.


    8 von 10 Punkten

  • Als ich „Wir sind nicht wir“ zur Hand nahm, ahnte ich nicht, wie sehr mich dieses Buch vereinnahmen würde. In den letzten Tagen habe ich jede freie Leseminute mit diesem Buch verbracht und war so tief in die Familiengeschichte von Eileen, Ed und Connell abgetaucht, dass ich schon fast das Gefühl hatte, selbst zur Familie zu gehören. Die drei sind die Hauptfiguren in diesem beeindruckenden Familienepos von Matthew Thomas. Obwohl es anfangs noch eine Zeit um die Eltern und die Kindheit von Eileen geht, verändert sich mit ihrem Erwachsenwerden der Focus und richtet sich dann nur noch auf sie, ihren Mann Ed und ihren Sohn Connell.


    Es ist eine unglaublich detailverliebte Geschichte um eine amerikanische Familie, von der man anfangs nur meint, es ginge darum, einen immer höheren gesellschaftlichen Status zu erlangen. Man beobachtet Eileen, die treibende Kraft in der Familie, wie sie immer mehr und immer mehr von ihrem Leben will. Die Unzufriedenheit mit ihrem aktuellen Status begleitet sie eigentlich ihr ganzes Leben und als Leser erkennt man, wie selten sie einen glücklichen Moment zu erkennen weiß.


    Als Ed beginnt, sich zu verändern und die Diagnose Alzheimer gestellt bekommt, verändert sich das Leben der Familie komplett und wechselweise wird von Eileen und Connell berichtet, wie sie damit umgehen. Der Autor beschönigt nichts, lässt nichts aus und so bleibt einem kein Stadium von Eds Krankheit erspart.


    Zusammen mit Eileen und ihrem Sohn erlebt man den Weg von der Diagnose „Alzheimer“ bis zum Sieg der Krankheit, über den zuvor hochintelligenten Universitätsprofessor Ed.
    Es geht Thomas aber nicht nur um die Krankheit; sein Blick ist fest auf Eileen und Connell gerichtet. Ihre Art und Weise damit umzugehen, die Unterschiede ihrer Herangehensweisen an die neue Situation ist sehr unterschiedlich und doch sind beide trotz der Gegensätzlichkeit absolut nachvollziehbar.


    Es ist sehr schwer, dieses ungeheuer komplexe und außergewöhnliche Buch zu beschreiben, seine Essenz zu finden und zu versuchen, ihm irgendwie gerecht zu werden. Die Dichte der Erzählung, die unzähligen kleinen Details, die ein ganzes Leben ausmachen; Matthew Thomas hat sie so klar eingefangen, dass man als Leser jegliche Distanz zu seinen Figuren verliert und sich ihnen eng verbunden fühlt.


    Dieses Buch gehört für mich zu den Büchern, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich bin froh, es gelesen zu haben und immer noch beeindruckt von Stil des Autors, dem es gelungen ist, eine so dichte und faszinierende Familiengeschichte zu schreiben und mich so tief in seine Handlung zu ziehen, dass das Auftauchen schon fast ein bisschen schwer fiel. 10 Punkte für dieses Meisterwerk.

  • Selten habe ich ein Buch gelesen, dass sich gleichzeitig anfühlt wie so „typisch New York“ wie diese Familiengeschichte– und das, während das Buch doch gleichzeitig so universell ist in seiner Beschreibung von Familie, von Träumen und Sehnsüchten, von Ängsten und Bewältigungsstrategien. „Ein Tag nach dem anderen“, sagte ihre Mutter, und Eileen dachte: Und alles auf einmal.“ S. 126


    Selten habe ich so fasziniert an den Seiten geklebt, um dann plötzlich herauskapituliert zu werden durch solche Sätze wie in diesem Buch. Da wird Eileens Vater „Big“ Mike Tumulty beschrieben als „mit einer Bitterkeit im Herzen, die er mit Schweigen nähren würde“ S. 55 Da begreift Eileen nach der Eheschließung und einer gewissen Ernüchterung über ihren Mann Ed „…, dass die Unvollkommenheit ihres Mannes etwas Vollkommenes hatte…“ S. 120.


    Selten habe ich über Seiten, viele Seiten, hinweg etwas gelesen, das zusammengefasst gar nicht viel Handlung wäre – zum Beispiel wäre über lange Strecken von Teil III zu sagen „Eds Verhalten ändert sich“ – und das war völlig ohne das Gefühl von Länge, es passte, es war stimmig.


    Selten habe ich erlebt, wie ein Autor es schafft, eine Geschichte aus der Sicht von zwei Protagonisten zu erzählen, noch dazu ein Mann UND eine Frau, verschiedener Generationen, Eileen und Connell, ohne sie als Ich-Erzähler auftreten zu lassen und das in einer derartigen Komplexität. Beide haben ihre Stärken und ihre Schwächen – und selbst die Schwächen, mit denen man sonst als Leser gerne ungnädig wird, wirken so stimmig, dass man sich immer noch mit den Personen identifiziert, wie Eileens Aufstiegsträume, ihre Probleme mit Nähe.


    Selten habe ich ein Buch gelesen, dass sich so locker-flockig-leicht lesen ließ – und das bei einer Stärke von fast 900 Seiten und einer Einordnung zur eher anspruchsvollen Literatur. Da sind keine sperrigen Sätze, keine Fülle gleichzeitig auftauchender Personen – das Buch liest sich wie ein guter Schmöker, ohne Kitsch oder falsche Romantik. Das hier kann lesen, wer vorher von der Clifton-Saga fasziniert war (als Beispiel für die Schmöker) oder von Benedict Wells‘ „Vom Ende der Einsamkeit“ (für die eher literarischen Bücher). Herrlich, wie Eileens Vater auf das jugendliche Alkoholexperiment seiner Tochter reagiert: er besorgt eine ganze Batterie an Hochprozentigem und zwingt sie zum Trinken. Das Fazit? „Trink Whiskey…Guten Whiskey. Nicht zu viel. Das ist der langen Rede kurzer Sinn.“ S. 62


    Selten habe ich ein Buch gelesen, dass so sehr „Familie“ auf den Punkt brachte. Liebe, Fürsorge, Peinlichkeit, Sorge…Gleichzeitig waren da aber so viele individuelle Themen – Aufstiegspläne, die Verzweiflung, wenn man sich am anderen aufreibt.


    Selten...ach, einfach: Bitte lesen!