Susanne Aernecke: Septemberkinder. Eine Kapitänstochter auf den Spuren ihres Vaters
DuMont Buchverlag 2015. 288 Seiten
ISBN-13: 978-3832197919. 14,99€
Verlagstext
Susanne Aerneckes Vater war Kapitän auf hoher See. Seinen Landurlaub nahm er meist zum Fest der Liebe und des Miteinanders an Weihnachten. Kein Wunder also, dass fast alle seine Nachkommen neun Monate später im September geboren wurden. Sechs Halbgeschwister, die sich erst 1984 bei der Bestattung ihres Vaters kennenlernten. Susanne Aernecke fährt mit ihrer Schwester Petra auf einem Frachter rund um Südamerika. Sie wiederholt eine Reise, die sie 1981 schon einmal mit ihrem Vater unternommen hat. Die damals 18-Jährige hatte ihren Kapitänsvater bei dieser sechsmonatigen Fahrt um Südamerika erstmals kennengelernt. Und auch diesmal hofft sie, ein wenig mehr über das Leben des Menschen zu erfahren, der für sie stets der große Unbekannte war und der ihr Leben und das ihrer Geschwister dennoch und gerade durch seine Abwesenheit stark beeinflusst hat. Und so verbinden sich die Reisen am Ende zu einer einzigen: zu einer Reise zu sich selbst.
Die Autorin
Susanne Aernecke studierte Sprachen und absolvierte eine Regieausbildung. Sie drehte Fernsehdokumentationen (für ARD, ZDF, Arte, 3sat, Discovery), schreibt Bücher und Drehbücher, produziert Hörbücher und synchronisiert Filme. Bislang erschienen von ihr „Komm mit, ich liebe dich. Eine Abenteuerreise in die Demut“ (2008) und „Irgendwas muss dran sein. Wahre Geschichten über Begegnungen mit Gott“ (2010).
Inhalt
Als Susanne Aernecke geboren wurde, war die Beziehung ihrer Eltern schon wieder zu Ende. Ihre Mutter konnte sich mit dem Leben einer Kapitänsfrau nicht abfinden und in der norddeutschen Heimat ihres erheblich älteren Mannes nicht Fuß fassen. Sie beschloss, dass es für ihre Tochter besser sein würde, ihren Vater erst gar nicht kennenzulernen. Mit 19 sucht die vaterlos aufgewachsene Tochter Kontakt zu ihrem Vater und begleitet ihn auf einer Reise nach Brasilien. Die Begegnung mit ihrem Vater konfrontiert die Autorin mit einer Reihe von Halbgeschwistern, Nichten und Neffen. Die Familienverhältnisse mit Kindern aus mehreren Ehen sind für den Leser ohne Hilfe eines Merkzettels erst allmählich zu durchschauen. Anhand der sichtbaren Familienähnlichkeit auf den Familienfotos im Buch wird nachvollziehbar, wie das Wissen über die eigene Abstammung uns auch mit Charakterzügen und verwandten Verhaltensmustern der eigenen Sippe versöhnen kann.
Eine gemeinsame Reise mit ihrer älteren Schwester Petra nach Brasilien an Bord des Frachters „May Oldendorff“ folgt 30 Jahre nach der ersten Brasilienreise den Spuren des Vaters und dient der Begegnung zweier Abgesandter des Aernecke-Clans. Heinz-Richard Aernecke (* 1914) war sechsmal verheiratet und hat vermutlich Kinder aus weiteren Beziehungen. Das Muster seiner Ehen wiederholte sich und ist für die Kriegs- und nachfolgenden Wirtschaftswunderjahre nicht ungewöhnlich. Susanne Aerneckes Mutter sieht in ihrem fast 40 Jahre älteren Mann möglicherweise einen Ersatzvater, sie ist auf die Einsamkeit und ihre Rolle als alleinige Familienmanagerin nicht vorbereitet. Die Ehe scheitert. Auch die Geschwister suchen in ihren Partnerbeziehungen den Rückhalt, den sie als Kinder vermissten. Auch sie scheitern und werden Eltern von Kindern, die das Beziehungsmuster wiederholen. Die ungewöhnliche Familiengeschichte lässt sich teils aus den Moralvorstellungen der 50er und 60er erklären und dem damals geltenden Kuppeleiparagrafen, als Paare ohne Trauschein kaum eine Wohnung gefunden hätten. Sie zeigt aber auch beispielhaft die „vaterlose Gesellschaft“, in deren Sprachgebrauch nicht Paare gemeinsame Kinder erzogen, sondern Männer Kinder zeugten und Frauen Kinder „hatten“.
Die Geschichte der Aernecke-Kinder, jeweils im September geboren, 9 Monate nach dem Landurlaub des Vaters, reiht sich in mehrere kürzlich erschienene Biografien der Kinder von Kriegsteilnehmern ein. Die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse von Susanne Aerneckes Vater bilden die Achse ihrer Spurensuche, um die sie die Schiffsreisen und die Einzelschicksale ihrer Geschwister anordnet. Neben dem Niederschreiben der Geschichte ihrer Halbgeschwister stellt sich für Aernecke die zentrale Frage nach Verhaltensmustern, die die Abwesenheit des Vaters seinen Kindern aufprägte.
Die einzelnen Abschnitte dieser Spurensuche fallen in ihrer Tiefe unterschiedlich aus. Nicht alle Ereignisse müssten etikettiert und analysiert werden. In Susanne Aerneckes Erinnerung an den zweiten Mann ihrer Mutter fehlt mir z. B. bei einer Frau ihres Alters die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zur Selbstkritik an ihrer alterstypisch pubertären Vorwurfs- und Anspruchshaltung jener Zeit. Die soziale Vaterrolle für einen mitgeheirateten pubertierenden Teenager auszufüllen ist für den Betroffenen sicher kein Honigschlecken.
Fazit
Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, das ich besonders wegen des Ausklinkens auf See aus dem Alltagstrott in den Reisepassagen sehr gern gelesen habe.
7 von 10 Punkten