Das Papierhaus - Carlos María Domínguez

  • Es war tatsächlich ein Buch, aber keines von den erwarteten. Merkwürdig war nur, daß am Buchdeckel und Buchrücken eine schmuddelige Kruste klebte. Mörtelreste, die sich von einem beherzten Versuch, sie zu entfernen, mit einer ungeheuren Solidarität ans Buch geheftet hatten. Als ich mit spitzen Fingern den Deckel hob, entdeckte ich die Widmung von Bluma. "Für Carlos, als Andenken an die verrückten Tage von Monterery."
    Ein geheimnisvolles Buch, ein unbekannter Absender, eine Reise auf den Spuren eines Mannes mit einer außergewöhnlichen Liebe zu Büchern - ein literarisches Kabinettstück für alle, die nicht leben können, ohne zu lesen.


    Über dieses Büchlein ist seit seinem Erscheinen im letzten Jahr schon einiges an Tinte geflossen und es sind auch viele, viele Worte dazu gesagt worden. Es hat Preise bekommen, 2001 gleich bei seinem Erscheinen in Uruguay, wo der Autor heute lebt, einen Literaturpreis; kaum daß es ein Jahr später ins Französische übersetzt worden war, einen zweiten in Frankreich.
    Es beginnt mit einem tödlichen Unfall. Eine Kollegin des Erzählers, eine englische Literaturdozentin, wird überfahren, weil sie so ins Lesen vertieft war, daß sie nicht auf den Verkehr achtete. Das mörtelverschmierte Buch, ein ganz anderes Buch, das der Ich-Erzähler Wochen später in Händen hält, war an die Verstorbene adressiert und führt ihn schließlich nach Südamerika, wo er herauszufinden hofft, wie der Mörtel auf das Buch kam, was es mit den verrückten Tagen in Monterey auf sich hatte und wer dieser Carlos ist.
    Was wie ein Krimi angelegt zu sein scheint und zumindest die spannende Auflösung einer höchst geheimnisvollen Geschichte verspricht, entpuppt sich schon nach wenigen Seiten als eine zunächst vor allem amüsante und kenntnisreiche Plauderei über Bücher.
    Aus dieser ersten, und wie ich inzwischen meine, bewußten Frustration der LeserInnenschaft, resultierten einige der eher negativen Kritiken. Man fühlt sich an der Nase herumgeführt, erwartet Krimi und bekommt: gelehrte Plauderei.
    Allerdings war man von Anfang an gewarnt, denn schon beim Namen der überfahrenen Dozentin, Bluma Lennon, und der Tatsache, daß sie einen Gedichtband von Emily Dickinson bei sich hatte, sollten alle Signale auf 'Literatur' stehen.
    Gelingt es einem, schnell genug umzuschalten, ist die Plauderei durchaus gewinnbringend. Es gibt einen Marsch durch die neuere Weltliteratur, vorzugsweise der angelsächsischen und lateinamerikanischen, sowie Seitenhiebe auf das akademische Leben. Es gibt hinreißend beiläufig erzählte Anekdoten über die Gefahren von Büchern, über die menschliche Eitelkeit beim Büchersammeln und vor allem ein Statement über das Hören der passenden Musik beim Lesen, bei dem ich laut und entzückt aufgelacht habe.
    Das alles sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich auf diesen gerade 92 Seiten eigentlich eine sehr dunkle Stimmung breit macht. Mehr und mehr in den Vordergrund rückt nämlich nicht die Gelehrsamkeit, das Wissen über SchriftstellerInnen und Schreiben, sondern die Frage nach dem Verhältnis von Buch und Mensch.
    Was fangen wir eigentlich an mit dieser Fülle? Können wir sie überhaupt noch fassen? Hat sie nicht schon längst uns erfaßt, sich selbständig gemacht? Läßt sich all das, was in Jahrhunderten geschrieben wurde, noch ordnen, kategorisieren, systematisieren? Oder ist alles so sinnlos, wie die vollgekritzelten Ränder auf den Seiten der Bücher des buchverrückten Carlos, die Kommentare zum Kommentar zum Kommentar eines Autors? Ist jedes Wort zu einem Buch schon überflüssig?
    Der mysteriöse Carlos hat sich zuletzt ein Haus gebaut aus seinen Büchern, das Papierhaus. Jedes Buch ein Backstein, mit Mörtel versiegelt. Es stand fest, unbeschadet von Wind und Wetter, bis er selbst anfing, einzelne 'Steine' herauszureißen, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Buch. Die nur wenige Sätze umfassende Beschreibung des dadurch ins Wanken geratenen Hauses gegen Ende der Geschichte gehören zu den bleibenden Bildern, die die Lektüre hinterläßt, mehr noch als die sehr bildhafte Darstellung der verbleibenden Ruine.
    Ein Kabinettstück für alle, die nicht leben können, ohne zu lesen?
    Nein. Denn im Unterschied zu den vielen anderen Büchern über Bücher und das Lesen, stellt es den Sinn des Lesens, den Sinn von Literatur sehr gründlich in Frage.
    Es ist Joseph Conrad gewidmet und doch löst sich auch sein Buch, die Geschichte 'Die Schattenlinie', zum Schluß im englischen Regen auf Blumas Grab langsam auf.
    Für LeserInnen mit Kopf und Mut.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • bo,
    ja, richtig, es ist ein ambivalentes Ding.
    In Angecurses 'Welche Rezensionen...' hat Titus es zerrissen. Ich teile seinen Standpunkt nicht, aber ich kann gut verstehen, wie er draufkam.
    Bin gespannt auf weitere LeserrInnenstimmen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Eine dreißigjährige Hispanistik-Dozentin stirbt, weil sie, in einen Gedichtband von Emily Dickinson vertieft, über die Straße läuft und von einem Auto überfahren wird. Wenig später erhält ihr designierter Nachfolger ein Paket aus Südamerika, den mit Mörtel und Zementstaub verklebten Roman „Die Schattenlinie“ von Joseph Conrad, adressiert an die Tote. Der ebenfalls aus Südamerika stammende Dozent macht sich auf die Suche und erfährt die Geschichte Charles Brauers, den die Tote bei einem Kongreß kennengelernt hat: Ein Büchernarr im Sinne des Wortes, ein Mensch, der sein Leben dem Lesen gewidmet hat, der tausende Bücher anhäufte, bis ein dramatischer Zwischenfall sein Archivsystem vernichtete. Offensichtlich in tiefer Verwirrung zog sich Brauer an die unwirtliche Küste zurück, um ein Haus aus seinen Büchern zu bauen ...


    Die sehr lesbare und intelligente Erzählung befaßt sich mit der Wirkung von Büchern, vor allem aber mit ihrem physischen Reiz, dem Naturell des Sammlers und des aufopfernden Lesers, jener Menschen, die über alles hoffen, die Wirkung der Literatur in irgendeiner Form konservieren zu können. Die letztlich konsequente Idee, sich zwischen den Büchern einzumauern, dient als Metapher für den Wunsch aller Menschen, die Bücher lieben, physisch wie psychisch, und ein Manifest für diese Liebe suchen. Wissensreiche, interessante Lektüre.

  • Mein erstes posting hat sich inzwischen durch das Zusammenlegen erledigt!
    Fein, daß das Buch noch jemand gut gefallen hat.
    :wave

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    K. Kraus

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  • Dieses Buch fiel mir letzthin in die Hände - und gestern habe ich es gelesen. Es liest sich leicht und flüssig, ist sehr amüsant geschrieben mit einem dunklen Unterton. Die Detailverliebtheit des Autor ist faszinierend - besonders wenn man die "Dicke" des Büchleins bedenkt - alles in allem ein sehr lesenswertes und auch liebenswertes Buch.


    Gruß


    Telefonhexe

  • Ich habe dies Buch heute morgen in einem Rutsch durchgelesen und bin fasziniert. Bücher, in denen es um andere Bücher oder Bibliotheken geht, ziehen mich total in ihren Bann und so auch dieses. Ich war total traurig, dass es nur so wenige Seiten hatte, aber in manchen Personen habe ich mich mit meiner Buchkaufsucht und meiner Leseleidenschaft schon wiederentdeckt :-)


    Ein zauberhaftes kleines Büchlein!


    Bibi

  • Nach langen Tagen im SUB habe ich gestern Abend mit dem Lesen des Papierhauses begonnen. Ein Buch für einen Rutsch, das Lust macht auf mehr. Mehr solcher Ideen, mehr Leser, mehr Literaturverrückte. Und ein Buch das Spaß macht. Leider hab ich den einen Rutsch nicht ganz geschafft, um halb drei war Schluß. Aber wem nicht die Augendeckel vor Müdigkeit zuklappen, der wird die Buchdeckel erst dann zusammenschlagen, wenn Brauers Geheimnis gelüftet ist. Pflichtlektüre für alle, die Bücher mögen!

  • Das Papierhaus hat mir sehr gut gefallen und muss mich der Meinung von Bibihexe 76 anschließen, dass mich Bücher, in denen es um andere Bücher oder Bibliotheken geht total faszinieren.


    Gleich nach dem Papierhaus ist mir "Das geheime Leben der Bücher" in die Hände gefallen. Das Buch ist nicht so düster und rundete mein Wochenende der Bücher über Bücher ab.


    Liebe Grüße Lesesucht

    Man sieht nur mit dem Herzen gut,....
    [SIZE=7] A. de Saint-Exupéry[/SIZE]



    Aktuelles Buch:

  • Eine Frage hab ich zum Outfit des Buches: in der Ausgabe, die ich habe, ist vorne eine Landkarte eingefügt zum Aufklappen. Das selbe Pergamentpapier ist als rechteckiger Ausschnitt, der die Lagune zeigt, auf dem Kopf stehend mitten im Buch zwischen die Seiten geklemmt, an einer Stelle, die nichts mit der Lagune zu tun hat. Versteckte Botschaft? Rätsel? Fehlbindung??? Habt Ihr das auch???

  • Nö. Meins gebärdet sich völlig normal. Karte vorne und auf den Füßen.


    Angesichts des Themas aber verstehe ich Deine Beunruhigung. Sag Bescheid, wenn Du es sprechen hörst, ja?
    :lache

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe das Buch gestern Abend in einem Rutsch durchgelesen, was bei dem geringen Umfang aber auch leicht möglich war.


    Das Buch selber ist mir doch einiges schuldig geblieben. Ich kam leider mit der Rahmenhandlung nicht so gut zurecht, ich fand sie doch sehr konstruiert und aufgesetzt, sogar überflüssig. Es begann sehr vielversprechend und auch spannend, das Geheimnis um die verrückten Tage von Monterey machte neugierig.


    Was dann folgte war aber keine Lösung - nicht einmal Hinweise - auf diese verrückten Tage als vielmehr eine Reise in die Welt der Bücher. Diese Reise genoss ich sehr, sie brachte mich in mir sehr bekannte Gefilde . Lesetypen und -macken wurden beschrieben, der Umgang mit der Masse von Büchern, das Gefühl, Bücher "besitzen" zu müssen, das Problem der Aufbewahrung und Lagerung, die beste Strategie beim Büchersammeln bis hin zur passenden Musik und den Tipp, Bücher, die vor der Erfindung des elektrischen Stroms geschrieben wurden, naturgetreu bei Kerzenlicht zu lesen.


    Ich erwartete keinen Krimi oder irgendeine geheimnisvolle Spurensuche, doch trotzdem fehlten mir einfach Details, die das Buch zu einer "runden Sache" machen. Es wurde weder auf das mehrmals erwähnte Buch "Die Schattenlinie" genauer eingegangen, noch deckte es das Geheimnis um Carlos richtig auf. Das passte für mich nicht zusammen.


    Nichtsdestotrotz ein Buch, das auf alle Fälle Lust aufs Lesen macht und bei dem ich mich als Vielleser und Massenbuchbesitzer sehr verstanden gefühlt habe und dessen Lektüre ich nicht bereut habe!


    Ein absoluter Pluspunkt gilt der Aufmachung des Buches. Eine sehr edel aussehende herausklappbare Landkarte auf Pergamentpapier, darstellend Buenos Aires und Umgebung, schmückt das kleine Büchlein.

  • Jersey


    Ich habe dieses Buch auch erst vor kurzem gelesen. ;-)
    Mir ging es wie dir, die Rahmenhandlung hätte ich in dieser Form nicht benötigt. Es blieben mir bis zum Schluss zu viele Fragen offen. Aber was Domínguez über die Bücher, die Bucheroberer und die Buchsammler schrieb, hat mich sehr angesprochen. Da hätte ich gern noch mehr erfahren. An vielen Stellen habe ich mich mit meinem Leseverhalten und Lesemacken wiedergefunden.


    Ich habe die Paperback-Ausgabe, aber auch die ist sehr gut gelungen. Auch darin ist die von Jersey angesprochene Landkarte aus Pergament enthalten.

  • Habe das Papierhaus "über Nacht" gelesen und muss sagen, es geht mir ähnlich wie Emily. Die Rahmenhandlung wäre für mich nicht nötig gewesen, dafür habe ich im Mittelteil mehrfach zurückgeblättert und genüsslich geschmökert.
    Wunderschön zu lesen, wenn Dominguez schreibt, dass Lesen ein Prozess ist. "Man stellt Bibliographien zusammen, indem man beispielsweise dem Verweis auf ein Buch folgt, das man nicht besitzt. Man schafft es an und lässt sich von ihm zum nächsten führen usw." Genau getroffen, Senor Dominguez! :-]
    Das Büchlein ist zudem sehr ansprechend ausgeführt, mit einer ausklappbaren Pergamentkarte, sehr hübsch!
    Das Papierhaus bekommt jetzt einen guten Platz im Regal und bleibt bei mir!

  • Ich gehöre auch eher zu den Lesern, die "Das Papierhaus" kritisch aufgenommen haben.


    Der Anfang hat mich sehr begeistert, auch wenn er dazu führte, dass ich kurzzeitig dachte, es handele sich bei dem Buch um eine Aneinanderreihung von verschiedenen glücklichen oder unglücklichen Schicksalen.


    Bis zum Schluss hatte ich das Gefühl, dass die Rahmenhandlung nur dazu gebastelt worden war, um verschiedene Momentaufnahmen aus der fantastischen Welt der Bücher miteinander zu verknüpfen. Eine Methode, die ich für durchaus statthaft halte, aber wenn sie angewendet wird, dann doch bitte auch so, dass die Geschichte selbst ein Gewicht hat. Das hat mir gefehlt...


    96 Seiten sind einfach zu kurz, um eine Erzählung rund zu machen und dazu noch philosophische Betrachtungen einzubringen. Die Stellen über unterschiedliches Leseverhalten und die Auseinandersetzung darüber gefielen mir gut, hatte das meiste aber bereits in anderem Zusammenhang gelesen.


    Vor allem fehlte mir ein Hinweis auf den Inhalt "Der Schattenlinie" von Joseph Conrad. Gerade zum Schluss wird auf den Inhalt dieses Klassikers Bezug genommen. Es wäre schön gewesen, wenn der Verlag irgendeinen Vermerk eingebaut hätte, zumal es schwer ist, eine Zusammenfassung im Internet zu finden...


    Mein Fazit: Eine schnelle Lektüre für einen gemütlichen Lesetag, um sich abzulenken. Aber es ist auch ein Buch, desen Inhalt ich schnell wieder vergessen habe.

  • Ich habe das Buch gerad ausgelesen.


    Die Rahmenhandlung fand ich etwas merkwürdig, aber in Ordnung. Das Buch lest sich dadurch sehr flüssig und man hat es in einem Rutsch durchgelesen.


    Der skurrile Bücherfanatiker Brauer hat mich sehr amüsiert.


    Die schönen Bücher :yikes


    Auch ich hätte gerne mehr über das Buch "Der Schattenlinie" von Joseph Conrad gelesen.


    Ansonsten ist es ein wirklich sehr kurzweiliges Buch, dass man in einem Rutsch durchlesen kann.


    Von mir bekommt das Buch 7 von 10 Punkte.

    ... Liebe, die, weil sie nie genung bekommt,
    stets schon im Augenblick lebt, der noch kommen wird.
    Marcel Proust

  • Ich glaube, ich muß dieses wundervolle Büchlein mal wieder hervorholen. Ich fand es wundervoll und habe es schon mehrfach gelesen. :-]


    Es wundert mich sehr, dass es manchen nicht so gut gefallen hat. ?(