Die Königin der Orchard Street - Susan Jane Gilman

  • Gebundene Ausgabe: 600 Seiten
    Verlag: Insel Verlag; 2015


    Originaltitel: The Ice Cream Queen of Orchard Street


    Kurzbeschreibung:
    New York, 1913. Die kleine Malka lebt mitten im Trubel der dicht gedrängten Straßen und übervölkerten Mietskasernen im Einwandererviertel auf der Lower East Side. Die meisten hier sind arm, haben zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, leben von der Hand in den Mund. Doch listig und raffiniert, wie sie ist, lernt Malka schnell, sich im Viertel durchzuschlagen. Und genau da, mitten im abenteuerlichen Gemenge, wo die jiddischen und italienischen Rufe der fahrenden Händler durch die Straßen schallen, wendet sich Malkas Schicksal. Denn dort trifft sie Papa Dinello, der sie in das köstlichste Geheimnis der Welt einweiht: das Wunder der Eiscreme, die Verführung der süßen Magie. Für Malka beginnt eine wahre Tour de Force durch das Leben – und aus dem pfiffigen und erfinderischen Mädchen wird die Grand Dame Lillian Dunkle, die »Eiskönigin von Amerika« und berühmt-berüchtigte Herrscherin über ein Eiscreme-Imperium … Dieser Roman fegt wie ein Wirbelwind durch das 20. Jahrhundert und erzählt die außergewöhnliche Geschichte einer ungezähmten Heldin, eines turbulenten Lebens und der Entdeckung der süßen Magie.


    Über die Autorin:
    Susan Jane Gilman stammt aus New York und hat an der Universität von Michigan studiert. Bislang veröffentlichte sie sehr erfolgreich drei Sachbücher, zudem schreibt sie u. a. für The New York Times, The Los Angeles Times und das Ms. Magazine. Die Königin der Orchard Street ist ihr erster Roman. Susan Jane Gilman lebt derzeit in Genf in der Schweiz und in New York.


    Über den Übersetzer:
    Eike Schönfeld, geboren 1949, übersetzt seit über 25 Jahren aus dem Englischen, u.a. Vladimir Nabokov, J. D. Salinger, Jeffrey Eugenides, Joseph Conrad, Katherine Mansfield, Martin Amis, Richard Yates, Sherwood Anderson und Charles Darwin. Für diese Übersetzungen wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2004 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, 2009 mit dem Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse und zuletzt mit dem Christoph Martin-Wieland Preis 2013.


    Mein Eindruck:
    Mit diesem Roman hatte ich aufgrund des Erzählstils zuerst Probleme. Die Ich-Erzählerin ist eine über 70jährige Frau, die auf ihr Leben in New York zurückblickt. Dabei wird bis 1914 zurückgegangen, als Malka als 5jähriges Kind mit ihrer jüdisch-russischer Familie in die USA einwanderte. Die Familie zerbrach leider schnell, als der Vater die Familie verlassen hatte und sie wuchs bei einer italienischstämmigen Familie auf.


    Die Erzählstimme ist im Gegenwartstrang überwiegend patzig und temporeich gehalten. Das fand ich zunächst unpassend, zudem empfand ich die Zeitwechsel manchmal zu abrupt.
    Doch mit der Zeit gewöhnt man sich daran und besonders die Passagen in der Vergangenheit werte ich als originell und gut geschrieben. Die Protagonistin durchläuft die Jahrzehnte. Sie nennt sich inzwischen Dorothy, um sich von ihrer Vergangenheit und Herkunft abzugrenzen.
    Nachdem sie geheiratet hat, gelingt es ihr zusammen mit ihrem Mann mit der Entwicklung und Vertrieb von Eiscreme als Unternehmerin erfolgreich zu werden. Schließlich sogar reich. Der amerikanische Traum. Die Schattenseiten werden aber auch transparent gemacht, denn im inneren bleibt die Protagonistin im Kern das hungrige Einwanderkind, das permanent ums Überleben kämpfen muss.
    Diese Art, ein Schicksal unpathetisch und mit grimmigem Humor darzustellen, hat mich am Ende sehr überzeugt.


    Dorothy ist eine übergroße, dominierende Figur im Roman.


    Sprachlich ist der Roman temporeich und pointiert. Gefühlsmäßig würde ich von einer guten Übersetzung sprechen, die in manchen Abschnitte sicher nicht ganz einfach war.

  • Das Buch ist mir auch schon aufgefallen, aus dem albernen Grund, weil der Eigenname der Heldin und der Buchtiitel so gut zusammenpassen:"Malka" ist das jiddische Wort für "Königin". (Und als der Name endlich zum Status passt, legt sie ihn ab? Verrückte Welt!)

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Malka ist die jüngste Tochter einer russischen Einwanderfamilie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Amerika kam. Die Familie hat es schwer, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Um sich ernähren zu können, sind alle gezwungen, etwas dazu zu verdienen. Die älteren Schwestern arbeiten in einer der vielen Fabriken New Yorks. Als Malka im Alter von sechs Jahren von einem Pferdewagen angefahren wird und seitdem gehandikapt ist, wird sie von ihrer Familie verstoßen. Das eben noch bewohnte Zimmer ist plötzlich leer. Nur die Familie des Wagenlenkers hat so viel Mitleid und nimmt Malka auf. Die russische Jüdin findet nicht nur ein neues Heim und lernt Italienisch, sondern Papa Dinello weiht sie obendrein in die Kunst der Eiscremeherstellung ein. Das ist der Beginn der Wandlung von Malka in Lillian Dunkle, der Eiskönigin der Orchard Street.


    Susan Jane Gilman orientiert sich in ihrem Debüt am Lebenslauf der Leona Helmsley. Anfangs beschreibt sie die Lebensumstände in der Lower East Side New Yorks aus Sicht der jungen Malka. Auf der Suche nach dem Glück sind ihre Eltern über Ellis Island eingewandert und stehen nun dem Kampf ums Überleben gegenüber. Amerika galt von jeher als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Am Beispiel der Einwanderer werden mehr oder weniger erfolgreiche Lebenswege geschildert. Es entsteht ein detailliert gezeichnetes Gesellschaftsporträt des 20. Jahrhunderts. Es wird über die Schwierigkeiten berichtet, täglich genug Nahrung aufzutreiben, eine Arbeit zu finden und vielleicht mit seiner Geschäftsidee ein Leben aufzubauen. Die Geschichte der Speiseeisherstellung kann anhand des Romans verfolgt werden.


    Aber genauso gehört der Verlust einzelner Familienmitglieder wegen der fehlenden Registrierung zu Malkas Leben dazu. Das durch ihr Bein behinderte Mädchen kann seinen Weg nur gehen, weil ihr andere Menschen dabei helfen. Später wird sie dieses offensichtliche Manko für ihr Firmenimage einsetzen. Gemeinsam mit ihrem Mann Bert unterstützt die Eisfabrik die landesweite Impfung gegen Polio. Die Frage nach der Moral lässt die Autorin hier offen. Sie lehnt ihre fiktive Figur der Lillian Dunkle stark an die 2007 verstorbene Immobilienkönigin Leona Helmsley an. Ihre Lebenswege unterscheiden sich lediglich durch die Branche und in wenigen Kleinigkeiten. Beiden wird ein uncharmanter Charakter zugeschrieben, ein exzentrischer und egoistischer Umgang mit ihren Mitmenschen und vor allem der Drang, es ganz nach oben zu schaffen. Ebenfalls verbindet die beiden der Prozess um Steuerhinterziehung.


    Lillian Dunkle erzählt ihr Leben vom Einwanderermädchen bis zur Vorstandsvorsitzenden des Eiscreme-Imperiums als Rückblik. Sie ist 75 Jahre alt und richtet sich mit ihren Erinnerungen direkt an die Leser. Immer wieder spricht sie sie mit dem Titel Schätzchen an. Unzählige Male verwendet die Autorin dabei die Aussage „Na und? Verklagen Sie mich doch.“ Um davon nicht entnervt zu werden, muss man wissen, dass auch das Vorbild stets eine Aussage über das Zahlen von Steuern verwendet hat.


    Der Roman spiegelt den Aufbau der Wirtschaft Amerikas in einer dichten Atmosphäre. Die Hauptfiguren werden lebendig gezeichnet. Deren Leben wird dadurch authentisch und man kann als Leser die Emotionen gut nachfühlen. Trotz des intimen Einblicks in das Leben von Lillian bleibt sie dennoch auf Distanz. Eine Verbundenheit baut sich auf den 550 Seiten nicht auf. Das alles ist dermaßen stimmig, dass man das Buch gern in einem Rutsch lesen möchte. Der Roman wird seit langem in einschlägigen Zeitungen der US-Presse hochgelobt. Zurecht, wie ich finde.

  • In "Die Königin der Orchard Street" begegnet der Leser Lilliane, der "Eiskönigin von Amerika". Ihr ganzes Leben bestand daraus, sich nicht unterkriegen zu lassen. Eine Eigenschaft, die Lilliane mitgenommen hat ins hohe Alter. Von ihrem Kampfgeist ist nichts verloren gegangen. Nun blickt sie auf ihr Leben zurück und lässt uns alle teilhaben an einer Geschichte, die so faszinierend ist, dass man sich kaum davon abwenden kann.


    1913 gelangt Lilliane, die damals noch Malka hieß und Tochter jüdischer Flüchtlinge war, nach New York. Anders als erhofft, erwarteten sie dort nicht Milch- und Honigflüsse, denn New York war ebenso arm, wie der Osten Europas, aus dem Malkas Familie stammte. Krankheiten und Armut, sorgten für den Verfall ihrer Familie und sie selbst wurde durch einen Unfall zu einem Krüppel. Nutzlos bei der Beschaffung von Geld und Lebensmittel. Malka hatte jedoch Glück im Unglück und landete bei Mr. Dinello, einem der wenigen Kaufleute, die im Besitz von Kühltechnik waren. Der Grundstein für einen ebenso erfolgreichen wie beschwerlichen Weg war gelegt.


    "Die Königin der Orchard Street" ist einer jener Romane, die man immer wieder liebevoll in die Hand nimmt, um sich an den Inhalt zu erinnern, der so lebendig ist, als sei man selbst Teil der Geschichte. Einer Geschichte, die so fesselnd ist, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann.


    Susan J. Gilman beweist in ihrem Debüt, dass sie eine großartige Erzählerin ist. Umfangreich ist das Leben von Malka, die später zur großartigen Persönlichkeit Lilliane wird. Einer Protagonistin, die so eine Präsenz hat, dass sie nicht nur die gewichtige Rolle im Roman einnimmt, sondern noch lange im Leser nachhallt. Man bringt ihr Bewunderung entgegen, leidet und hofft mit ihr und begleitet sie gern auf ihrem Weg, ist dieser auch noch so hart.


    Gilman zeichnet ein anschauliches Bild des New Yorks, der Umgebung drum herum, wie es in den Anfängen des 20. Jahrhunderts gewesen sein muss. Sprachlich hochwertig, gleichzeitig flüssig und ungemein fesselnd. Sie erzählt von Menschen, die dort einfach untergehen, Schicksale, die verrauchen, ohne einen Rest Asche zu hinterlassen. Ein Leben, das auch Malka drohte. Doch sie ist eine Kämpferin, hat alles gegeben um ihre Ziele zu erreichen und hat es geschafft. Mit viel Willen, aber auch Dreistigkeit. Es ist nicht alles vertretbar, was sie getan hat und dennoch verständlich. Sie ist eine der ganz großen Figuren der literarischen Welt. Ich bin froh ihr Bekanntschaft gemacht zu haben.

  • Susan Jane Gilman: Die Königin der Orchard Street, OT: The Ice Cream Queen of Orchard Street, aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, Berlin 2015, Insel Verlag, ISBN 978-3-458-17625-1, Hardcover mit Schutzumschlag, 552 Seiten, Format: 13,6 x 3,4 x 21,3 cm, Buch: Hardcover: EUR 19,95, Taschenbuch: EUR 10,99, Kindle Edition: EUR 16,99.


    „Wir waren wie Schauspieler in den Lichtspielen. In der ersten Szene waren wir noch Malka und Herschel Bialystoker, zwei arme, abgerissene Russen, die Jiddisch sprachen und in der größten stinkenden Hitze auf der Lower East Side ankamen. Aber jetzt waren wir Lillian Dunkle und Hank Bailey, zwei geschniegelte, unternehmungslustige Amerikaner in sauberen Kleidern aus dem Warenhaus, die in einem DeSoto und mit einer Tasche voller Geld durch das Weideland von New Jersey fuhren. Mein Vater und ich, wir waren so formbar wie Schauspieler. Wir konnten irgendwer sein.“ (Seite 346)


    Name, Alter, Sprache, Nationalität, Religion – das sind alles recht flexible Größen. Diese Erfahrung macht die USA-Immigrantin Malka Treynovsky gleich mehrfach im Leben. In diesem Buch erzählt sie uns davon. Geboren ist sie vermutlich 1908 in Wischnew, einem kleinen Dorf in Russland. Die nächste größere Stadt ist Bialystok. Ihre Muttersprache ist Jiddisch, und was ein Pogrom ist, erfährt sie schon als kleines Kind. Die Familie muss mit ansehen, wie russische Soldaten den Großvater in der Küche zu Tode prügeln.


    Onkel Hyram ist bereits nach Südafrika ausgewandert. 1913 schickt er den Treynovskys Geld für eine Passage nach Kapstadt. Also bereiten Mutter, Vater und die vier Töchter die Emigration vor. Das Reisegeld wird in Malkas Mantel eingenäht, und Mutter Tillie schärft der Kleinen ein, das Geld nur ihr zu geben, niemandem sonst. Doch Malka ist knapp sechs Jahre alt. Gegen ihren Vater Herschel kann sie sich nicht zur Wehr setzen. Bei einem Zwischenaufenthalt in Hamburg luchst er ihr das Geld ab und kauft Tickets für eine Überfahrt nach Amerika. Seine Frau, die nicht lesen kann, merkt erst, was er getan hat, als sie an Bord geht.


    New York statt Kapstadt
    Nichts ist’s mit der verwandtschaftlichen Starthilfe in Südafrika! Sie landen als bettelarme Einwanderer auf New Yorks Lower East Side, in der Orchard Street. Bei der Registrierung kriegt ein Beamter irgendwie den Familiennamen und den Herkunftsort durcheinander, und aus Herschel, Tillie, Bella, Flora, Rosa und Malka Treynovsky wird mit einem Federstreich die Familie Bialystoker. Die hat das Glück nicht gerade gepachtet. Herschel, der Hallodri, macht sich schnell vom Acker, und Tillie und die Mädchen versuchen mehr schlecht als recht, sich mit Schneidern und Putzen über Wasser zu halten. Die labile Tillie gibt Malka die Schuld an ihrer verzweifelten Lage, weil sie sich vom Vater das Reisegeld hat abnehmen lassen.


    Als Malka auf der Straße vom Pferdewagen des Speiseeisverkäufers Dinello überfahren wird und lebenslang schwer gehbehindert bleiben wird, holt ihre Mutter sie gar nicht erst aus dem Krankenhaus ab. Eine unnütze Esserin, die nicht arbeiten kann, kann sie nicht gebrauchen. Aus Mitleid und schlechtem Gewissen nehmen die Dinellos Malka auf, und die gewiefte und geschäftstüchtige Kleine wächst schnell in das „Gelato“-Business hinein. Doch wirklich dazugehören wird sie nie, auch wenn sie italienisch lernt, katholisch wird und den Namen Lillian Maria Dinello annimmt. Sie ist keine Blutsverwandte, sie ist keine Schönheit, sie lächelt nie, hat ein übles Schandmaul und dazu noch diese starke Gehbehinderung.


    Dass sie in Albert Dunkle trotzdem einen Mann findet, sogar einen überaus gut aussehenden, der Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Errol Flynn hat, grenzt für viele an ein Wunder. Bert mag attraktiv sein, aber er hat auch seine Defizite. Er stottert und hat trotz aller Bemühungen nie lesen und schreiben gelernt. Deshalb hat ihn seine Familie in Wien als Totalversager betrachtet und nach Amerika „verbannt“.


    Von der Pflegefamilie ausgebootet
    Kaum ist aus Miss Lillian Dinello eine Mrs. Lillian Dunkle geworden, wird sie von ihrer italienischen Pflegefamilie fies ausgebootet. Sie, die für den Familienbetrieb Rezeptideen entwickelt, die Buchhaltung erledigt und vorteilhafte Lieferantenverträge ausgehandelt hat, steht plötzlich arbeitslos auf der Straße.


    Aber Lillian ist eine Kämpferin. Mit ihrem Mann zusammen gründet sie eine eigene Speiseeisfirma. Aus einem klapperigen Eiswagen, mit dem die zwei über Land tuckern, wird ein millionenschweres Franchiseunternehmen mit diversen Patenten, Regierungsaufträgen und einer eigenen Fernsehshow. Und Lillian Dunkle wird zur Eiscremekönigin von Amerika. Doch Ruhm und Reichtum, Villa und Wohltätigkeit, Chanelkostümchen und Schönheitsoperationen hin oder her – Lillian ist und bleibt eine Gossenpflanze, die immer Angst hat, eines Tages wieder arm zu sein. Und sie ist nachtragend. Wer ihr einmal Unrecht getan hat, wird irgendwann mal die Quittung dafür bekommen. Das gilt selbst für Verwandte, die erst aus der Versenkung auftauchen, als Lillian Geld hat.


    Entscheidungen und ihre Konsequenzen
    Auf dem Weg nach oben hat die Eiscremekönigin nicht immer die Samthandschuhe angehabt. Als sie in den 1970er und 1980er-Jahren ein paar zweifelhafte Entscheidungen trifft, gehen einige Menschen an die Öffentlichkeit, die mit ihr noch eine alte Rechnung offen haben. Amerika scheint es gar nicht erwarten zu können, die Frau, die sie 40 Jahre lang wie eine Königin verehrt haben, vom Thron zu stürzen. Doch Lillian ist, wie gesagt, eine Kämpferin, auch noch mit 75 …


    In schwindelerregendem Tempo geht’s zickzack durch sieben Jahrzehnte eines ereignisreichen Einwandererlebens. Und ein bisschen jüngere US-Geschichte kriegen wir auch noch mit. Lillian erzählt nicht chronologisch, sondern assoziativ. Mal schildert sie sehr farbig und anschaulich eine Episode aus ihrer lieblosen und ärmlichen Kindheit, dann wieder geht’s um die Firmengründung. Zwischendrin wird angedeutet, dass der alten Dame ein paar Gerichtsprozesse bevorstehen – mit ungewissem Ausgang. Erst nach und nach kann man sich zusammenreinem, was genau passiert ist und wie das alles zusammenhängt. Wo Lillians Geburtsfamilie hingekommen ist und warum es so schwierig war, sie zu finden, erfahren wir mit der Zeit auch.


    Lillian ist gerissen und skrupellos, neureich, manchmal vulgär, herrisch und intrigant. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und zieht in einem wilden Mix aus Englisch, Jiddisch und Italienisch über Freund und Feind her. Sie ist von der Autorin nicht so angelegt, dass sie sympathisch wirken soll. Eine Antiheldin sei sie, habe ich des öfteren gelesen. Ich finde sie trotzdem großartig! Man kann fast nicht glauben, dass sie „nur“ eine literarische Figur ist. Sie erinnert mich an ein paar Selfmade-Geschäftsfrauen, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Das waren ähnliche Kaliber, und sie werden auch ungefähr Lillians Jahrgang gewesen sein. Oder, wenn man ein prominentes Beispiel haben möchte: Leona Helmsley, die Präsidentin der Helmsley Hotels. Wenn man deren Geschichte kennt, ist es kein Wunder, dass sie so geworden sind, wie sie waren.


    „Verklagt mich doch!“
    Als ich gelesen habe, wie Lillian erst mit ihren Schwestern und später mit ihrem Mann vor den jeweiligen Verhandlungen das Feilschen probt, habe ich laut gelacht. Kenne ich! Sowas kann man ja auch nicht dem Zufall überlassen, da braucht man schon so eine Art Drehbuch.


    Was etwas nervig war: Lillians Marotte, wichtige Sätze mit der Floskel „verklagt mich doch“ zu betonen. Im Englischen sagt sich das so flott: „So sue me“. Im Deutschen ist das nicht gebräuchlich und wirkt konstruiert. Ich will es jetzt nicht besser wissen als ein vielfach preisgekrönter Übersetzer, aber sowas wie „denkt, was ihr wollt“ hätte es in den allermeisten Fällen auch getan.


    Ach ja: Falls sich jemand fragt, warum die Heldin die KÖNIGIN DER ORCHARD STREET sein soll, wo ihre Erfolgsgeschichte doch erst losging, nachdem sie die Orchard Street hinter sich gelassen hatte: „Malka“ ist das jiddische Wort für „Königin“. Sie wäre immer und überall eine gewesen.


    Auch wenn diese kratzbürstige Eiscremekönigin beim besten Willen nicht als moralisches Vorbild durchgeht , sondern höchstes als zähe Überlebenskünstlerin, habe ich den Roman mit großem Vergnügen gelesen.


    Die Autorin
    Susan Jane Gilman stammt aus New York und hat an der Universität von Michigan Kreatives Schreiben studiert. Bislang veröffentlichte sie sehr erfolgreich drei Sachbücher, zudem schreibt sie u. a. für The New York Times, The Los Angeles Times und das Ms. Magazine. Für ihr Schreiben wurde sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Königin der Orchard Street ist ihr erster Roman. Susan Jane Gilman lebt derzeit in Genf in der Schweiz und in New York.


    Der Übersetzer
    Eike Schönfeld, geboren 1949, übersetzt seit über 25 Jahren aus dem Englischen, u.a. Vladimir Nabokov, J. D. Salinger, Jeffrey Eugenides, Joseph Conrad, Katherine Mansfield, Martin Amis, Richard Yates, Sherwood Anderson und Charles Darwin. Für diese Übersetzungen wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2004 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, 2009 mit dem Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse, 2013 mit dem Christoph-Martin-Wieland-Preis und 2014 mit dem Internationalen Hermann-Hesse-Preis (zusammen mit Nicholson Baker).

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • PS: Ich bin schier zum Hirsch geworten mit dem jiddischen Wort "meeskite". Ich las dauernd sowas wie "Moskito", nur mit e statt o. Bis mir irgendwann gegen Schluss dämmerte, dass die die englische Transkription stehengelassen haben. Hätten sie "Mieskeit" oder "Mieskayt" geschrieben, hätte ich den Begriff erkannt: Hässlichkeit, hässliche Person. Agrrrr!

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Inhalt:


    New York, 1913: Malka kommt mit ihrer Familie als Einwandererin nach New York. Die Familie schlägt sich in ärmlichen Verhältnissen durch das tägliche Leben. In dieser Situation wird Malka hat Malka einen schweren Unfall, sie wird von einem Eiswagen angefahren und schwer am Beim verletzt. Nachdem deutlich wird, dass Malka aufgrund des Unfalls eine Behinderung zurückbehalten wird, wird sie von ihrer Mutter verlassen, der Vater ist schon vorher aus dem Leben der Familie verschwunden. In dieser verzweifelten nimm die Fahrer des Unfallfahrzeugs, Mr. Dinello, Malkas an und sie wächst in der Familie des Eisfabrikanten auf und lernt die Herstellung von Speiseeis kennen. In diesem Buch werden wir Zeuge von Malkas Weg zur Eiskönigin Amerikas.


    Meine Meinung:


    Die Geschichte ist eigentlich sehr spannend geschrieben. Der Aufstieg einer Frau aus einfachsten Verhältnissen, die für sich den amerikanischen Traum verwirklicht. Der Leser bekommt einen tiefen Einblick in das Elend der Einwanderer, die, frisch angekommen in Amerika, versuchen ihr Leben zu organisieren. Malka ist eine Kämpferin, von ihren Zieheltern betrogen fängt sie am absoluten Nullpunkt an und wird zu einer reichen Geschäftsfrau.
    Sie erzählt ihr Leben ihren Kindern als Rückblick im hohen Alter. Die Sprünge in der Zeitachse waren nicht immer leicht nachvollziehbar, so daß ich beim Lesen gelegentlich innehalten mußte, um die Zeitachsen zu sortieren.


    Die Charaktere werden sehr gut beschrieben, ich konnte mir die Personen sehr gut vorstellen und sie haben der Geschichte das Leben eingehaucht. Leider hatte das Buch an einigen Stellen gewisse Längen, die jedoch immer von spannenderen Abschnitten abgelöst wurden, so dass ein Weiterlesen immer belohnt wurde. Erst zu Ende hin wurden die ganzen Zusammenhänge der Rahmenhandlung klar, die mich im ersten Teil des Buches etwas verwirrt haben.


    Insgesamt ein lesenswertes Buch über eine Frau, der der soziale Aufstieg in Amerika gelungen ist und die sich in die Amerikanische Gesellschaft integriert hat.