'Bis ich dich finde' - Kapitel 37 - 30

  • Jack rollt auf den Spuren seiner Fahrt mit Alice die Reise durch Europa noch einmal auf. Er stellt fest, dass seine Erinnerungen an sein Bad im gefrorenen Graben und an den kleinen Soldaten falsch/manipuliert sind. Auch die Informationen über seinen Vater waren falsch. Jack erinnert sich nur an das, was Alice ihm erzählt hat. Hier schlägt Irving einen Bogen zu seiner Vorbemerkung zur Erinnerungsfähigkeit Vierjähriger. Jack war anscheinend leicht manipulierbar, weil er seinen eigenen Erinnerungen nicht traute und weil er Alices Erzählungen nicht mit denen anderer Beteiligter vergleichen konnte. Familienerinnerungen sind ja eine Schnittmenge aus unterschiedlichen Sichtweisen, die sich mit dem Wiederholen verändern, geschönt oder interpretiert werden.


    Irvings Geschichte geht von der Manipulierbarkeit kleiner Kinder aus und davon, dass Jack keine eigenen Erinnerungen hat. Ich bezweifele diese Sicht und deshalb wirkt der Roman im Moment auf mich, als wollte Irving Alice möglichst unvorteilhaft darstellen. Das Leben eines allein erziehenden Elternteiles mit Kind ist eine normale, häufige Lebensform. Soll Literatur Normalität darstellen oder Absonderliches erfinden? Würde Normalität keinen Umfang von 1000+x Seiten erzeugen können und damit dem Autor seine Aufgabe nehmen?


    Bemerkenswerte Sätze
    S. 798 „Wenn dich jemand sitzen lässt, hakst du das irgendwann ab, aber deine Mutter hat einen abendfüllenden Film daraus gemacht.“


    S. 800 „Was würde man als Vierjähriger, dessen Erinnerungen von der eigenen Mutter manipuliert werden, eigentlich nicht alles glauben?“


    Jack muss sich damit abfinden, dass Alice damals in Amsterdam als Prostituierte arbeitete. Denkbar ist, dass sie William damit provozieren wollte. Gibt es wirklich Beweise dafür oder ist es eine Sicht, die die befragten Zeitzeugen gern so sehen möchten? Wenn alle Frauen in Amsterdam als Prostituierte tätig waren, muss Alice auch dazugehören?


    Gute Frage: wer war William, ein religiöser Spinner, jemand, der für die Rechte von Prostituierten eintrat, oder jemand, der Amsterdam und seine Kirchen toll fand?


    Jack zögert vor dem letzten Schritt, einem Treffen mit seinem Vater. Wenn er fähig wäre, als Erwachsener von 30 Jahren die Sicht seines Vaters nachzuvollziehen, hätte er keinen Vorwand mehr für sein derzeitiges Leben, er müsste seine Opferhaltung ablegen (= Jack als passives Opfer missbrauchender Mädchen und Frauen) und sein Leben selbst in die Hand nehmen.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Jack rollt auf den Spuren seiner Fahrt mit Alice die Reise durch Europa noch einmal auf. Er stellt fest, dass seine Erinnerungen an sein Bad im gefrorenen Graben und an den kleinen Soldaten falsch/manipuliert sind. Auch die Informationen über seinen Vater waren falsch. Jack erinnert sich nur an das, was Alice ihm erzählt hat. Hier schlägt Irving einen Bogen zu seiner Vorbemerkung zur Erinnerungsfähigkeit Vierjähriger. Jack war anscheinend leicht manipulierbar, weil er seinen eigenen Erinnerungen nicht traute und weil er Alices Erzählungen nicht mit denen anderer Beteiligter vergleichen konnte. Familienerinnerungen sind ja eine Schnittmenge aus unterschiedlichen Sichtweisen, die sich mit dem Wiederholen verändern, geschönt oder interpretiert werden.


    Irvings Geschichte geht von der Manipulierbarkeit kleiner Kinder aus und davon, dass Jack keine eigenen Erinnerungen hat. Ich bezweifele diese Sicht und deshalb wirkt der Roman im Moment auf mich, als wollte Irving Alice möglichst unvorteilhaft darstellen. ...


    Das ist ein interessanter Diskussionspunkt, aber wahrscheinlich kommt mein Beitrag viel zu spät und wird nicht mehr gelesen.
    Ich finde durchaus, dass Alice ihren Sohn manipuliert hat. Ihre persönlichen Rachedanken standen im Vordergrund, nicht das Wohlergehen Jacks. Und natürlich glaubt Jack seiner Mutter. Er hat nur diese eine Erfahrungswelt, und wie du schon sagst, keine Vergleichsmöglichkeit, geschweige denn eine Ahnung von Sexualität, von Normalitäten und Abnormalitäten.
    Alice baut systematisch das Feindbild William auf und demontiert ihn. Sehr gut gelungen finde ich übrigens den Perspektivwechsel. Im ersten großen Teil des Buches die Sicht des kleinen Jungen, desseb Welt nur aus dem Auschnitt besteht, was seine Mutter ihm bietet und zulässt, später die Sicht des erwachsenen Mannes, der nach und nach die Wirklichkeit erkennt.
    Zunächst kam mir der Zwischenteil mit dem Internatsleben ziemlich langatmig vor, aber jetzt ihm Nachhinein wird duch ihn erst die ganze Tragweite des Missbrauchs deutlich. Und wie wenig Alice doch Mutter war. Jack nimmt Emma als einzige Beschützerin wahr.
    Jack hat schon Erinnerungen und die tauchen ja auch nach und nach auf. Nur hat er sich die Wirklichkeit so umgedeutet, dass seine kleine Seele diese verkraften konnte. Nach und nach entblättert sich die Vergangenheit.


    Zitat

    Original von Buchdoktor
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    Das Leben eines allein erziehenden Elternteiles mit Kind ist eine normale, häufige Lebensform. Soll Literatur Normalität darstellen oder Absonderliches erfinden? Würde Normalität keinen Umfang von 1000+x Seiten erzeugen können und damit dem Autor seine Aufgabe nehmen? ...


    Wie läuft in deinen Augen denn eine Trennung "normal" ab?
    Etwa so vielleicht: Paar XY merkt, dass sie sich auseinandergelebt haben/X merkt, dass Y sie betrogen hat/ Y möchte sich beruflich weiterentwickeln ... . Die Ehe hat einen Sohn hervorgebracht. Vor der Scheidung einigen sich beide einvernehmlich darauf, wer im Haus bleibt, wann Sohnemann bei wem ist, wie viel Unterhalt zu zahlen ist. Begleitend macht das sich trennende Paar gemeinsam mit dem Kind eine Therapie, um spätere Schäden zu vermeiden.
    Wer will das denn lesen?
    Ich kenne übrigens nicht eine einzige Trennung, die bilderbuchmäßig abgelaufen ist. Und nätürlich habe ich auch schon Manipulationen erlebt, meistens ausgehend vom verlassenen Elternteil.
    Alice Rachegedanken oder Sehnsucht, William bis ins Mark zu verletzen, sind sicherlich ungewöhnlich, aber Hauptträger der Geschichte und ungemein spannend, finde ich.
    Literatur braucht Geschichten abseits der Normalität.


    Zitat

    Original von Buchdoktor
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    Jack muss sich damit abfinden, dass Alice damals in Amsterdam als Prostituierte arbeitete. Denkbar ist, dass sie William damit provozieren wollte. Gibt es wirklich Beweise dafür oder ist es eine Sicht, die die befragten Zeitzeugen gern so sehen möchten? Wenn alle Frauen in Amsterdam als Prostituierte tätig waren, muss Alice auch dazugehören? ...


    Zwischen den Zeilen konnte man schon im ersten Teil herauslesen, dass Alice sich prostituiert hat. Das ist für Jack auch nichts Neues. Viel härter trifft ihn die Erkenntnis, dass dies nicht aus einer finanziellen Not heraus geschah, sondern aus freien Stücken. Ich habe den Abschnitt so verstanden, dass Alice sowohl William demütigen wollte, weil sein Kind in diesem Umfeld auswachsen zu sehen für ihn kaum aushaltbar ist. Zum anderen lese ich auch einen gewissen Spaß heraus.
    Sicherlich erfahren wir diesen Teil der Geschichte nur von Augenzeugen, Alice kann und würde ihn nicht mehr erzählen. ;-)


    Zitat

    Original von Buchdoktor
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    Gute Frage: wer war William, ein religiöser Spinner, jemand, der für die Rechte von Prostituierten eintrat, oder jemand, der Amsterdam und seine Kirchen toll fand?
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    Eine Antwort auf diese Frage erhoffe ich mir von dem letzten Teil des Buches. Im Moment sieht es nach beidem aus.


    Zitat

    Original von Buchdoktor
    ...
    Jack zögert vor dem letzten Schritt, einem Treffen mit seinem Vater. Wenn er fähig wäre, als Erwachsener von 30 Jahren die Sicht seines Vaters nachzuvollziehen, hätte er keinen Vorwand mehr für sein derzeitiges Leben, er müsste seine Opferhaltung ablegen (= Jack als passives Opfer missbrauchender Mädchen und Frauen) und sein Leben selbst in die Hand nehmen.


    Es gibt ein schlechteres Leben als das eines erfolgreichen Schauspielers, oder? :lache
    Ich finde, er hat sein Leben ganz gut im Griff.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich habe dein Beitrag gelesen, Regenfisch. :-)


    Und meine Gedankengänge waren beim Lesen des Buches genauso.


    Ich bin froh, dass ich es bis hier her und weiter geschafft habe. Es geht bei mir mit Kapitel 35 weiter.

    Sasaornifee :eiskristall

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    "Ich habe nicht mehr Ambitionen zum Fliegen als ein verdammter Strandlöper!" - Die Insel der Tausend Leuchttürme - Walter Moers