Lyndsay Faye: Die Entführung der Delia Wright

  • Kurzbeschreibung (Quelle: Verlagsseite)
    1846. Vor einem halben Jahr wurde die Polizei von New York gegründet. Timothy hat sich als sehr talentiert für die Polizeiarbeit erwiesen. Und er glaubt sich ganz gut auszukennen mit dem Verbrechen in seiner Stadt. Dann erscheint die schöne Blumenverkäuferin Lucy Adams in seinem Amtszimmer: Ihr kleiner Sohn Jonas und ihre Schwester Delia sind entführt worden. Tims Ermittlungen führen ihn in ungeahnte Abgründe. Denn Lucys Familie ist »gemischter«, also nicht rein weißer Abstammung. Freie schwarze Bürger im Norden der USA sind Freiwild für Verbrecherbanden, die sie in ihre Gewalt bringen und als Sklaven in die Südstaaten verkaufen. Der Einzige, der Tim jetzt helfen kann, ist sein schillernder Bruder Valentine, seines Zeichens Polizei-Captain, korrupter Politiker, Frauenheld und noch einiges mehr. Als aber in Valentines Bett eine Leiche gefunden wird, muss Tim seinem ungeliebten Bruder beistehen …


    Autorin (Quelle: Verlagsseite)
    Lyndsay Faye gehört zu den authentischsten New Yorkern, nämlich denen, die woanders geboren wurden. Sie lebt in Manhattan.


    Allgemeines
    Originaltitel: Seven for a secret, ins Deutsche übersetzt von Peter Knecht
    Erscheinungstermin der deutschen Ausgabe: 1. März 2015 im Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv)
    464 Seiten: Prolog, 27 Kapitel, Historisches Nachwort, Kleines Glossar der Gaunersprache
    Handlungsort und -zeit: New York, Mitte Februar bis Anfang März 1846
    Ich-Erzählung des Protagonisten Timothy Wilde


    Zum Inhalt
    Nachdem Tim(othy) Wilde sich in seinem ersten Fall (--> Der Teufel von New York) als geschickter Ermittler erwiesen hat, läuft er nicht mehr Streife, sondern hat sein eigenes Büro in "The Tombs", dem Gebäude der unlängst gegründeten New Yorker Polizei, und wird von seinem Chef George Washington Matsell (1811 - 1877) mit Ermittlungen in größeren Kriminalfällen betraut. Der Fall im vorliegenden Roman wird ihm allerdings auf inoffiziellem Weg angetragen: Lucy Adams, eine nahezu Weiße mit schwarzer Abstammung in der Großelterngeneration, bittet Tim um Hilfe, da ihr kleiner Sohn Jonas und ihre Schwester Delia Wright entführt worden sind. Sie ist überzeugt, dass die Täter Sklavenjäger sind, die in New York unterwegs sind, um sowohl aus dem Süden entflohene Sklaven als auch freie Schwarze (inklusive Mulatten) einzufangen, um sie gewinnbringend auf Sklavenmärkten zu verkaufen. Obwohl Tim und sein einflussreicher Bruder Valentine, Polizei-Captain des Achten Bezirks und Politiker der Demokratischen Partei, der verzweifelten Lucy relativ schnell helfen können, zeigt es sich, dass sie in ein wahres Wespennest gestochen haben. In Valentines Bett liegt eine Leiche, wer hat ein Interesse daran, ihn für einen nicht von ihm begangenen Mord an den Galgen zu bringen?
    Auch Tim muss feststellen, dass die Probleme für ihn erst richtig beginnen, als er seinen Auftrag eigentlich schon erfüllt glaubt. Mehr als einmal gerät er in Lebensgefahr...


    Beurteilung
    Timothy Wildes zweiter Fall schließt beinahe nahtlos an die Geschichte um den Teufel von New York an, im vorliegenden Roman wird wiederholt auf die Ereignisse des Sommers 1845 Bezug genommen und ein großer Teil der Romanfiguren aus dem vorherigen Band tritt wieder auf. Deshalb ist es empfehlenswert, die chronologische Reihenfolge einzuhalten, um der Handlung besser folgen zu können. Bei Lektüre des ersten Romans nach dem zweiten Band würde dem Leser ein Teil der Auflösung vorweggenommen.
    "Die Entführung der Delia Wright" ist geradliniger aufgebaut als der erste Band der Reihe, in dem Timothys Vorgeschichte ausschweifend erzählt wurde. Hier schreitet die Handlung nach einem anfänglichen Exkurs über einen anderen, von Timothy schnell und geschickt gelösten Fall zielstrebig voran, bietet gleichzeitig aber auch überraschende Wendungen, die das Interesse des Lesers wachhalten. Positiv fällt außerdem die sparsamere Verwendung der Gaunersprache Flash auf, deren häufige Benutzung im ersten Band den Lesefluss bremste, da der Leser immer wieder im Glossar nachschlagen musste. Durch den geradlinigen Handlungsverlauf und die einfacher verständliche Sprache bietet der vorliegende Kriminalroman deutlich mehr Spannung.
    Gleichzeitig handelt es sich um einen gut recherchierten historischen Roman mit einer bestürzenden Thematik. Während wohl den meisten Lesern die Praktiken der Sklaverei in den Südstaaten bekannt sein dürften, ist die Tatsache, dass entlaufene Sklaven oder freie Schwarze im Norden keineswegs sicher waren, sondern durch Entführung und Verkauf auf Sklavenmärkten durch profitgierige Sklavenjäger gefährdet waren, vermutlich weniger bekannt und sehr schockierend. Den 27 Romankapiteln sind Zitate aus zeitgenössischen Quellen vorangestellt, so zum Beispiel aus den Memoiren des ehemaligen Sklaven Solomon Northup (Twelve Years a Slave).
    Obwohl in diesem Buch keine extrem brutalen oder blutigen Szenen präsentiert werden, sprechen die zeitgenössischen Zitate für sich und lassen den Leser fassungslos zurück.
    Es wäre wünschenswert gewesen, den Anhang noch durch eine Liste bibliographischer Quellen zur Thematik der "Sklavenjagden" und der "Hilfsorganisationen" wie die Underground Railroad zu ergänzen.


    Fazit
    Ein ebenso unterhaltsamer wie informativer historischer Kriminalroman über ein dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte, sehr lesenswert!
    9 Punkte

  • Lyndsay Faye: Die Entführung der Delia Wright, Roman, OT: Seven For A Secret, aus dem Englischen von Peter Knecht, München 2015, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-26043-5, Klappenbroschur, 457 Seiten, Format: 13,8 x 3,8 x 21,3 cm, Buch: EUR 14,90, Kindle Edition: EUR 12,99, Audio-CD: EUR 17,99.


    „Als wir in der Droschke saßen, erlaubte ich mir einen nicht gerade mitfühlenden Gedanken: Ich habe so gut wie gar nichts erfahren. (...) Aber ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes war als dieses nichtssagende pauschale Nichts. Ein übles, wenn auch noch unbestimmtes Etwas. Ich hatte solche Ahnungen schon öfter gehabt, eine Art Klingeln im Kopf, das mir signalisierte, dass irgendwas nicht zusammenpasste , und wusste, dass irgendwo ein Webfehler sein musste.“ (Seite 313)


    New York, im Winter 1846: Zweimal schon hat der 27jährige Timothy Wilde alles durch einen Brand verloren: als Kind seine Eltern und sein Zuhause und vor anderthalb Jahren seinen gesamten Besitz, seine körperliche Unversehrtheit und seinen Job als Barmann in „Nick’s Austernkeller“. Tims älterer Bruder Valentine – Feuerwehrmann, Captain bei der Polizei, Frauenheld, Raufbold und engagierter Demokrat – hat ihn danach bei der neu gegründeten New Yorker Polizei untergebracht.


    Die Wilde-Brüder sind impulsiv und nicht gerade gut darin, sich an Regeln zu halten. Aber sie haben Verstand und Spürsinn, sind hartnäckig, mutig und gut vernetzt. Erst vor kurzem hat Tim mit der Unterstützung von Val eine spektakuläre Mordserie aufgeklärt. Bei so fähigen Leuten nimmt Polizeichef George Washington Matsell ein paar persönliche Unzulänglichkeiten in Kauf. Unter den Schlägertypen, korrupten Ganoven und sonstigen schrägen Vögeln seiner Truppe sind die beiden Wildes noch lange nicht die Schlimmsten.


    Im Februar 1846 kommt die junge Floristin Lucy Adams völlig aufgelöst in Tims Büro in den „Tombs“, dem Hauptquartier der Polizei, und erzählt eine unfassbare Geschichte: Unbekannte hätten ihre Haushälterin niedergeschlagen und ihren Sohn Jonas und ihre Schwester Delia Wright entführt, während ihr Ehemann auf Geschäftsreise und sie bei der Arbeit war. Wer bitte kidnappt eine arme alleinstehende Lehrerin und den Sohn einer Blumenverkäuferin? Da ist doch nichts zu holen!


    Doch es gibt einen Grund: Die rassige Lucy mit ihrem honigfarbenen Teint, den grünen Augen und braunen Locken mag zwar wie eine Latina aussehen, aber sie ist, wenn auch nur zu einem Achtel, Afroamerikanerin. Eine freie Schwarze aus Albany. Und so unglaublich es klingt: Es ist zu jener Zeit üblich und durchaus rechtens, freie Afroamerikaner als angeblich entlaufene Sklaven zu verschleppen und in die Südstaaten zu verkaufen. Ein einträgliches Geschäft für Sklavenjäger.


    Solchen Gestalten sind auch Delia Wright und ihr Neffe in die Hände gefallen. Den Wilde-Brüdern gelingt es zum Glück mit nicht ganz sauberen Methoden die beiden Entführungsopfer zu befreien. Damit machen sie sich mächtige Feinde. Diese Feinde werden wohl auch dafür gesorgt haben, dass man bald darauf eine ermordete Frau in Valentine Wildes Bett findet. Was heißt „man“? Tim stolpert über die Tote. Val kann nicht der Mörder sein, er war nicht mal in der Nähe seiner Wohnung. Aber wer würde das glauben? Tim lässt die Tote verschwinden und setzt alles daran, den wahren Täter zu finden.


    Und wo ist jetzt die Familie Adams/Wright, durch deren Rettung die Wilde-Brüder überhaupt erst in diesen Schlamassel hineingeraten sind? Wie vom Erdboden verschluckt! Haben die Sklavenjäger sie wieder in ihrer Gewalt? Tim Wilde macht sich Sorgen.


    Seine Ermittlungen ergeben Verblüffendes: Was immer Lucy Adams ihnen über ihre Familie erzählt hat, hält keiner näheren Prüfung stand. Ihr Ehemann, zum Beispiel, hat ein Geheimnis. Kannte Lucy das? Weiß auch ihre Schwester davon? Und was hat Silkie Marsh, die ebenso skrupellose wie machtgierige Bordellbetreiberin mit dem Verschwinden der Familie Adams/Wright zu tun? Ist das ihre Rache an den Wilde-Brüdern für die geschäftsschädigende Aufklärung des Kinder h u r e n-Falls (Lindsay Faye: DER TEUFEL VON NEW YORK)?


    Zusammen mit seinem alten Kumpel, dem Afroamerikaner Julius Carpenter und dessen Freunde vom Bürgerschutzkomitee macht Tim sich auf die Suche nach der Familie Adams/Wright und ihrer wahren Geschichte. Dabei kommen sie den vergrätzten Sklavenjägern, der gewissenlosen Silkie Marsh, korrupten Polizisten und dem einen oder anderen charakterlich zweifelhaften Politiker in die Quere. Und irgendwo in diesem Wust von kriminellen Verflechtungen muss ja auch die Person stecken, die für den Tod der Frau in Vals Wohnung verantwortlich ist.


    Timothy Wilde, der Polizist mit aller Macht für das Gute kämpft, erleidet schwere Verluste und Verletzungen, bis er endlich die Lösungen für seine Fälle gefunden hat. Es gibt ein paar faustdicke Überraschungen ... und ein paar Fragen, die wohl für immer unbeantwortet bleiben.


    Der moralisch flexible Wilde-Bruder Valentine mag der interessantere Charakter sein, aber erzählt wird die Geschichte aus Timothys Sicht. Tim will die Welt zu einem besseren Ort machen, während Valentine hauptsächlich darauf aus ist, die Gegebenheiten zu seinem Vorteil zu nutzen.


    Tim kann nicht fassen, was auf legale Weise mit seinen farbigen Mitbürgern geschieht, seien sie nun Sklaven oder frei Geborene. Wie er verzweifelt versucht, seinen Kumpel vor Gericht herauszuboxen, ist atemberaubend! Tim setzt sich für einen stummen sechsjährigen Kaminkehrer ein und kümmert sich immer noch um Bird Dally, die ehemalige Kinder h u r e , die er bei seinem ersten großen Fall kennen gelernt hat. Nie mehr wird die Kleine ein „normales“ Schulmädchen sein, dafür hat sie zu viel Schreckliches erlebt. Und er hängt immer noch an seiner Jugendliebe Mercy Underhill, die mittlerweile im fernen London lebt und ihm lange und etwas wirre Briefe schreibt.


    Diese Nebenhandlungen zeigen, was für ein Mensch Tim ist. Wenn er den aktuellen Fall mit seiner Vermieterin Elena Boehm und der vorzeitig erwachsen gewordenen Bird diskutiert, bringt das die Geschichte durchaus weiter. Manches allerdings bremst den Handlungsverlauf eher. Ist ja schön, dass Schriftstellerin Mercy ihren neuen Wohnort so wortreich und poetisch beschreiben kann ... aber was ist jetzt mit der Frauenleiche? Ungeduldige Leser werden da leicht nervös, obwohl hier bei weitem nicht mehr so ausschweifend erzählt wird wie im ersten Band. Auch der Gebrauch der Gaunersprache Flash, der den TEUFEL VON NEW YORK so anstrengend zu lesen machte, ist im vorliegenden Buch deutlich zurückgegangen. Ein Glossar am Schluss übersetzt die Begriffe. Allzu oft nachschlagen muss man aber nicht. Das meiste erklärt sich aus dem Zusammenhang.


    DIE ENTFÜHRUNG DER DELIA WRIGHT ist ein sorgfältig recherchierter und atmosphärisch dichter historischer Kriminalroman mit ein paar verflixt überraschenden Wendungen. Als Leser hat man aber kaum eine Chance, von selbst auf die Lösung zu kommen. Wenn Tim nicht am Schluss nicht jemanden gefunden hätte, der ihm Rede und Antwort steht, wäre er genauso schlau gewesen wie wir.


    Die Autorin
    Lyndsay Faye hat Englisch und Schauspiel studiert und war jahrelang als Schauspielerin tätig. Mit ihrem Mann und ihren Katzen lebt sie in Manhattan.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner