In Claire Hajaj Roman Ismaels Orangen geht es um die Unterschiede der Kulturen, das Anderssein und niemals ankommen und die eigene Identität im nahöstlichen Pulverfass. Die Protagonisten scheinen zunächst einmal, wie Teile eines Puzzles aus ihrer Welt gefallen und als Leser fühlt man Jude und Salim eigentlich gut aufgehoben im London der sechziger und siebziger Jahre. Sie- eine Nachfahrin von Holocaust Überlebenden mit Hang zur Literatur und Freiheit, kann nur wenig mit dem jüdischen Glauben und dem gerade in Entstehung befindlichen Staat Israel anfangen, als sie auf Salim trifft. Er- der verarmte palästinensische Flüchtling unter Karrieredruck hat dank seines schwächlichen Vaters und dessen betrügerischer arabischer Freunde den schönsten Ort auf Erden verloren, einen Orangenhain in Jaffa und strebt nun in England einen Beruf an, der Ihn in der Welt des Westens verankern soll. Die freie Welt ist ihm Verheißung und Ansporn zugleich. Er will hineinpassen in das gesellschaftliche Gefüge und nicht zuletzt in die teuren Maßanzüge.
Längst scheint die Vergangenheit vergessen. Doch nicht nur durch die Beziehung zu Jude ist Salim gezwungen Farbe zu bekennen und sich seiner Herkunft zu stellen. Denn Judes jüdische Familie will keinen palästinensischen Eselstreiber in der Verwandtschaft. Und umgekehrt passt angeblich keine Jüdin in den erlauchten Kreis der arabischen Machowelt, die nur Rache, aber keine Liebe kennt. Jude und Salim denken zunächst, dass nichts ihrer Liebe etwas anhaben kann und ziehen nach Kuwait, um von all dem zu fliehen und die ersehnten Ziele zu erreichen. Doch niemand ist eine Insel und die Versprechen des Westens verlieren bald an Anziehungskraft.
Claire Hajaj entwirft mit Salim eine fürwahr vielschichtige Persönlichkeit. Ein Mann der nirgends Zuhause ist, dauernd zwischen den Stühlen sitzt, ein von Emotionen hin- und hergerissener junger Mann, ein Einser-Student und tollkühner Träumer, dem die eigene palästinensische Sippschaft Fallgruben aushebt, ein verbitterter Versager, ein innig Liebender, der aufgrund seines Temperaments bisweilen zum Familiendespoten degeneriert. Alles in einem. Der Orangenhain ist sein Garten Eden, ein im Grunde biblisches Versprechen. Leserherz, was willst du mehr? Nun, eine passend vielschichtige Frauenfigur, als Gegenüber, wäre nicht schlecht gewesen. Jude bleibt etwas eindimensional und löst bei mir keine Jubelstürme aus. Sie ist sein seelischer Anker, obwohl sie selbst stärkeren Rückhalt von ihrem Angetrauten bräuchte.
Manchmal habe ich mir beim Lesen noch stärkere Verstrickung in zeitgeschichtliche Begebenheiten gewünscht, auch ein etwas süffigeres Ende wäre in meinem Interesse gewesen. Doch die Autorin hat sich vor allem, um die innere Zerrissenheit der heimatlosen Protagonisten gekümmert. Das ist ihr gutes Recht und sie hat die Aufgabe auch wirklich gut gemeistert. Phasenweise konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Meisterlich erzählt sind vor allem die Passagen, in denen aus Sal ein Salim wird und er seinem Vater plötzlich viel näher steht, als seinen amerikanischen Selbstverwirklichungsträumen. Claire Hajaj schildert das Leben, ohne poetische Bilder. Sie orientiert sich an der Realität und lässt nur ab und an sprachlich ihre Muskeln spielen, in dem sie sehr gekonnt Vergleiche, als Stilmittel einsetzt. Das Gut und Böse denken, was in der Region nicht gering verhaftet ist, zerschmettert sie auf dem Altar der Wahrheit. Ganz stark, die Konstruktion des Romans. Hier greift ein Rädchen ins Andere und lässt nie Langeweile aufkommen. Insgesamt ein gelungener Roman. Leseempfehlung!
8 von 10 Punkten