Hilary Mantel: Von Geist und Geistern

  • Hilary Mantel: Von Geist und Geistern
    DuMont Buchverlag 2015. 240 Seiten
    ISBN-13: 978-3832197698. 19,99€
    Originaltitel: Giving Up the Ghost (2003)
    Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence


    Verlagstext
    Wir alle haben Geister in unserem Leben. Es sind Facetten unserer Persönlichkeit, die wir nie realisieren konnten. Für jedes Ja stirbt ein Nein, für jeden Jungen, der geboren wird, entsteht der Geist eines Mädchens. Hilary Mantel hat sich ihren Geistern gestellt. In ihrer Autobiografie erzählt sie von ihrem Aufwachsen in einfachsten Verhältnissen und von den Zwängen, denen sich das eigensinnige und träumerische Mädchen unterwerfen muss. Und sie erzählt von ihrer Krankheit, die dazu führen wird, dass sich das Äußere der jungen Frau verändert und sie niemals Kinder gebären wird. Im Angesicht der Geister entscheidet sie sich für ein Geistesleben und wird zu einer der meistgefeierten Autorinnen und wichtigsten sozialkritischen Stimmen Englands. „Von Geist und Geistern“ erzählt das bewegte und bewegende Leben einer Frau, die ihre Schwächen immer wieder in Stärken verwandelt hat. Ein Zeugnis, das Mut macht und staunen lässt.


    Die Autorin
    Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte fünf Jahre lang in Botswana und vier Jahre in Saudi-Arabien; ihr Mann Gerald McEwen arbeitete als Geologe. Für den Roman „Wölfe“ (2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit „Falken“, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 als bisher einzige Frau den Booker zum zweiten Mal. Ihre Erzählungen „Die Ermordung Margaret Thatchers“ erschienen 2013.


    Inhalt
    Als 2010 Hilary Mantels Biografie Tomas Cromwells in Deutschland erschien, erlangten damit auch ihre Werke aus den fünfundzwanzig Jahren schriftstellerischer Tätigkeit zuvor neue Aufmerksamkeit. Schriftstellerbiografien befriedigen die Neugier von Lesern, welches Kind ein Autor gewesen ist und ob sich dessen Begabung bereits in der Kindheit gezeigt hat.


    Hilary Mantel und ihr Mann Gerald McEwen vollziehen im Jahr 2000 einen radikalen Schnitt, als sie gleichzeitig ihr Wohnhaus und ihr Cottage in Norfolk verkaufen. Im Cottage lebt für die englische Autorin noch der Geist ihres Stiefvaters Jack, den sie seit ihrem siebten Lebensjahr kennt. Mantel nahm den Namen des Mannes an, mit dem ihre Mutter seit den 60ern zusammenlebte, obwohl sie offiziell noch mit dem Vater ihrer drei Kinder verheiratet war. Damals ein skandalöser Umstand, über den andere Menschen sich erregten und den die Familie auch durch Umziehen nicht mildern konnte. Die kleine Hilary ist ihrem Großvater eng verbunden, der ihr Geschichten erzählt. Hilary stellte sich damals vor, Schule wäre eine Option, gegen die ein Kind sich entscheiden könnte, falls es ihm dort nicht gefällt und es lieber wie bisher vom Großvater lernen möchte. Wer über häufig wechselnde Lehrer und die Lehrmethoden jener Zeit liest, wird sich wundern, dass Kinder unter diesen Umständen überhaupt Lesen und Schreiben lernten. Aus einem mageren Kind, das oft krank ist und sich selbst für schwach hält, wird eine junge Frau, die an rätselhaften Beschwerden leidet. Hilary Mantels 20 Jahre währende Krankengeschichte wird überschattet von einem großen WENN. Wenn sie ein paar Jahre später gelebt hätte, wäre ihre schwere Endometriose anders behandelbar gewesen und sie hätte vielleicht trotzdem ein Kind bekommen können … Wenn ihre Ärzte gewusst hätten, was in der Fachliteratur längst bekannt war, hätte ihr Leiden erheblich abgekürzt werden können … Doch Mantel lebt zu einer Zeit, in der unklare Beschwerden mit Psychopharmaka behandelt werden und Mediziner Frauen auffordern, doch bitte ihren ungesunden Ehrgeiz abzulegen, um gesund zu werden. Die pharmakologischen Experimente jener Zeit können Betroffene vermutlich nur mit schwärzestem Sarkasmus ertragen, wie Mantel ihn im Rückblick auf ihr Leben zeigt.


    Mantels im Original 2003 erschiene Biografie wirkt wie das verschlungene barocke Stoffmuster eines Wandteppichs. Darin ist ein phantasievolles kleines Mädchen zu entdecken, das zuerst Schaffner, dann fahrender Ritter werden möchte und das eine Weile glaubt, mit dem Älterwerden würde sie irgendwann von selbst ein Junge. Wir lernen eine sprachbegabte Schülerin kennen, deren glückliche Kindheit und deren Spontaneität mit der Einschulung abrupt endet und die nach dem Schulabschluss zunächst Strafverteidigerin werden will.


    Fazit
    Mantels Auseinandersetzung mit den Geistern ihres Lebens ist eine hinreißende Lektüre – treffender als Susan Sontag kann ich es nicht ausdrücken.


    10 von 10 Punkten

  • "Von Geist und Geistern" ist autobiografisch. Die Geschichte der Geschichtenerzählerin.


    Ich zäume das Pferd von hinten auf. Schon lange will ich Bekanntschaft schließen mit den historischen Romanen der englischen Autorin, und lerne nun doch zuerst die Frau kennen, die so viel mehr ist, als nur eine Autorin, die sich für Geschichte interessiert. Eine Geschichtenerzählerin, die hinter Fassaden blickt, die von eigenen Geistern getrieben, offen ist für die anderer.


    Hilary Mantel glaubt, dass es nicht einfach ist, ihre eigene Geschichte niederzuschreiben, dass sie nicht so genau weiß, wo sie beginnen soll und welche Sprache sie dafür wählen soll. Ich finde, dass sie ihre Zweifel ruhig zur Seite schieben kann, denn es ist ihr absolut gelungen, den richtigen Ton zu treffen. Ein bisschen verspielt, ein bisschen poetisch, immer so, dass sie dem Leser eine Wahrheit darlegt, ohne ihr innerstes völlig nackt und ungeschützt darzulegen. Von intensiver Schreibe muss es auch vom Leser intensiv und genau gelesen werden, um hinter die Fassade der Autorin blicken und sie wirklich verstehen zu können.


    Geister sind es, die Hilary zu dem machen, was sie ist. Verschiedene Geister verschiedener Arten, ihr eigener umtriebiger Geist, der sich schon früher gerne in Fantasien geflüchtet und nicht gern begrenzen lassen hat, aber auch Geister des erlebten, besonders im Rahmen familiärer Geschehnisse.


    Ich habe einen Einblick bekommen in das Leben Hilary Mantels, habe ihre Geschichte aufgesogen und doch immer wieder weglegen müssen, weil ihr Leben zu umfangreich und intensiv ist, für so wenige Seiten und deshalb von ihr mit viel Macht und Druck in den kleinen Roman gepresst wurde, der viel Konzentration vom Leser erfordert. Mich konnte sie für sich gewinnen, konnte mich neugierig darauf machen, wie sie mit ihren Geistern umgeht und sie so gezähmt hat, dass erfolgreiche historische Romane daraus wurden, auf deren Lektüre ich mich schon sehr freue.