Richard Lorenz - Amerika-Plakate

  • Titel: Amerika-Plakate
    Autor: Richard Lorenz
    Verlag: Joachim Körber Verlag
    Erschienen: März 2014
    Seitenzahl: 280
    ISBN-10: 3937897542
    ISBN-13: 978-3937897547
    Preis: 22.00 EUR


    Es gibt diese Bücher, die schon nach dem Lesen der ersten Seiten den Leser wissen lassen, das sie etwas ganz Besonderes sind, das sie keine Bücher aus dem Alltäglichen-Regal sind. Und eines dieser ganz besonderen Bücher ist ohne Frage „Amerika-Plakate“ - ein Buch dessen Inhalt man kaum beschreiben kann, ohne das man sich selbst immer wieder ergänzen muss – denn mal hat man das eine übersehen und dann wiederum hat man auch das andere übersehen.


    Der Klappentext zu diesem Buch ist nüchtern und sagt nicht einmal in Ansätzen was auf den Leser resp. die Leserin zukommt:


    „Im Schrank findet der junge Leibrand einen Rückzugsort vor seinen Mitschülern, vor seinem zerrütteten Elternhaus. Er driftet ab in seine eigene kleine Welt, in die Welt der Schrankgeschichten und Amerika-Plakate, die er nach und nach auf seiner Schrankwand und später auch auf Papier verewigt. Der Kuss Suzannes, den sie ihm während eines Jahrmarkts gibt, lässt ihn aus der Welt fallen und fesselt ihn sein Leben lang, doch sie verlieren sich aus den Augen. Jahre später findet er im Fall aus der Welt Suzanne wieder ...“.


    Dieses Buch ist ohne Frage ein literarische Meisterleistung, ein Highlight der Phantasie und der Vielschichtigkeit.


    Der namenlose Ich-Erzähler ist für die Geschichte eigentlich nicht wichtig – nur, von irgend jemand muss die Ereignisse, das Geschehen ja berichtet werden. Die Geschichte von Leibrand, dem Jungen aus dem Kleiderschrank. Dieser Kleiderschrank ist sein Fluchtpunkt, hierhin flüchtet er vor dem gewalttätigen Vater und hier träumt und malt er sich seine Welt – eine Welt in der immer mehr die Realität und die Fiktion – oder ist es vielleicht genau umgekehrt – miteinander verschwimmen. Nichts ist wie es ist und alles ist so wie es ist.


    Eigentlich beginnt alles damit, als der Zirkus in die Stadt kommt, einer Stadt mit einer Rattenplage. Elf Jahre alt sind die Kinder, als sie vom Zuckerwattengeruch, vom Glücksrad und von anderen Attraktionen angelockt werden. Aber da sind auch die unheimlichen Kinoleute (Fiktion oder real?) die nicht nur den Kindern Angst machen – aber nicht alle sehen, was einige wenige sehen.


    Und dann ist da Suzanne, das Mädchen mit der roten Löwenmähne. Als sie Leibrand küsst, ist es für ihn wie eine Offenbarung. Doch sie verschwindet. Und Leibrand macht sich auf die Suche – alles was er macht hat nur das eine Ziel, Suzanne wiederzufinden. Immer wieder gibt es Zeichen und Hinweise, aber diese Zeichen und Hinweise können eben auch nur das Wunschdenken gewesen sein, das Wunschdenken eines sehr einsamen Menschen.


    In diesem Buch kann der Leser aber auch seine eigene Kindheit erleben; einer Kindheit in der das Abenteuer, die Geschichten über Werwölfe, Geister und Schutzengel zum Täglichen dazu gehörten.


    Doch dieser Roman atmet auch das Flair eines Leonhard Cohen, eines Charly Parker, eines Paul Auster, eines Bob Dylan, eines Tom Waits und einiges scheint fast an Ray Bradbury zu erinnern.


    Thomas Radlmaier hat dieses Buch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG wie folgt beschrieben:
    „Das Ganze ist eine düster-skurille Geschichte eines Einzelgängers mit sonderlichen Eigenschaften“.


    Düster-skurill ist das Buch ganz sicher aber nicht. Es ist vielmehr eine unglaubliche Ansammlung von phantastischen Einfällen, von manchmal tragisch-komischen Begebenheiten und von wunderbaren Erkenntnissen.


    Ein großartiges Buch, ein Buch das man unter Garantie nicht so schnell vergisst, ein Buch das man wohl aber in seiner Ganzheit so richtig kaum erfassen kann. Wenigstens ist mir das nicht gelungen - trotzdem war es mehr als ein großartiges und nachhaltiges Leseerlebnis.


    10 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Diese Buchvorstellung macht Lust aufs Lesen, eindringlich und überzeugend, wie sie daherkommt. Und wieder werde ich eindrucksvoll daran erinnert, warum ich die Büchereulen so schätze. Es sind vor allem diese Rezensionen, die eine Zierde sind für ein Leserforum. Ein solch hohes Maß an kritischer Qualität und literarischem Einfühlungsvermögen findet sich in anderen Blogs oder Foren nur selten.


    Chapeau, lieber Voltaire! :anbet

  • Klappentext:
    Im Schrank findet der junge Leibrand einen Rückzugsort – vor seinen Mitschülern, vor seinem zerrütteten Elternhaus. Er driftet ab in seine eigene kleine Welt, in die Welt der Schrankgeschichten und Amerika-Plakate, die er nach und nach auf seiner Schrankwand und später auch auf Papier verewigt. Der Kuss Suzannes, den sie ihm während eines Jahrmarkts gibt, lässt ihn aus der Welt fallen und fesselt ihn sein Leben lang, doch sie verlieren sich aus den Augen. Jahre später findet er im Fall aus der Welt Suzanne wieder ...


    Der Autor:
    Richard Lorenz wurde 1972 geboren und lebt heute mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Nähe von München. Neben seiner Arbeit in der onkologischen Pflege und Palliativmedizin, schreibt er als freier Journalist und Autor bereits seit mehr als 20 Jahren. Seine Kurzgeschichten und Artikel wurden schon in mehreren Tageszeitungen abgedruckt.


    Meine Meinung:
    Kleinstadt, Hitze, Sommer in den 70er Jahren. Leibrand, ein Junge, der sich im Schrank versteckt, um seinem alkoholkranken, prügelnden Vater zu entgehen, wird durch einen Kuss verzaubert. Mit Suzanne, nach der er sein ganzes Leben auf der Suche ist, kommt ein geheimnisvoller Jahrmarkt in die Stadt. Durch diesen Kuss scheint das Gefüge der Welten durcheinander zu geraten, Traum vermischt sich mit Wirklichkeit, Geschichten werden erzählt, Leibrand malt blaue Amerika-Plakate, verzehrt sich nach dem rothaarigen Mädchen und tut viel Gutes auf seinem Weg, den er jeden Tag beschreitet. Denn Leibrand wird älter, zieht nach München und stellt die Suche nach Suzanne niemals ein. Nebenbei lernt er neue Menschen kennen, die ihn ein Stück weit begleiten und auch aus ihrem Leben etwas zu berichten haben.


    "Amerika Plakate" ist ein anderes Buch, auf das man sich einlassen muss. denn es geht dabei weniger um das Verstehen, sondern darum, was man daraus mitnimmt, was man selbst sieht und für sich deutet.
    Einen roten Faden sucht man hier vergeblich, und das ist sicher auch so gewollt, denn auch im Leben ist nicht alles erklärbar. Und die Fantasie ist doch eine der schönsten Gaben, die ein Mensch haben kann. Es ist ein Buch, das über das Leben erzählt, darüber, wovon wir träumen, was wir fürchten, was wir lieben, was wichtig ist.
    Man könnte unentwegt zitieren, sich Passagen herausschreiben, die geradezu danach rufen, mehrfach gelesen zu werden.


    "Es gibt Wege und Straßen, die keinen Anfang und kein Ende haben, nicht einmal einen Platz zum Ausruhen. Es sind dunkle, enge und lange Wege, und sie existieren nur im Kopf und es ist immer Nacht, mondlose, kalte Nacht, wenn man sie beschreitet."


    In der Geschichte sind auch noch kleinere Geschichten zu finden, die über Bücher erzählen, über Vergangenheiten, die poetisch sind und traurig. Über Menschen, die viel erlebt haben, die versuchen, etwas Magie und auch Liebe einzufangen - nicht nur für sich, sondern auch für andere.
    Mir hat besonders gefallen, dass es Bezüge zu Musikern (Leonard Cohen) gab, zu Autoren (Ray Bradbury) und Filmen und Schauspielern (Shirley MacLaine).
    Die Stimmung ist meistens melancholisch, von Sehnsüchten getrübt und nachdenklich machend. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, dass die Handlung den Leser herunterzieht. Im Gegenteil, sie ist rätselhaft und manchmal unergründlich; man liest genauer, macht sich Gedanken und erinnert sich auch an die Kindheit, was mit den Beschreibungen des Jahrmarktes äußerst gut gelungen ist. Aber auch alles, was danach kommt, hat eine Bedeutung, auch wenn nicht alle Situationen greifbar sind und man grübeln darf - doch das macht gerade dieses Buch aus.


    Einfühlsam, fantastisch, sich abhebend, man muss sich darauf einlassen, gegebenenfalls das Buch ein zweites Mal lesen. Es lohnt sich.


    10 Punkte.