Taschenbuch: 1056 Seiten
Verlag: Ullstein Taschenbuch
erschienen am 6. Februar 2015
zum Autor:
Richard Dübell stellt sich auf seiner Homepage so umfassend vor, dass ich hier keine Zusammenfassung machen möchte.
zum Inhalt:
Levin von Briest erbt von seinem Vater zwei Güter. Sein Bruder Alvin geht dagegen leer aus. Um seinen Platz in der Familie betrogen nimmt er den Ratschlag seines Freundes und Nachbarn an und bewirbt sich bei einem Preußischen Regiment. Otto von Bismarck kann selber durch ein Leiden keine Karriere beim Militär beginnen. Ihm schwebt stattdessen die Politik vor.
Paul Baermann ist leidenschaftlicher Verehrer der Eisenbahn. Als die erste dampfbetriebene Zugmaschine in Nürnberg ist, muss er sie sehen. Als er sich nachts sogar unbefugt auf das Gelände begibt und durch ein Missgeschick der englische Triebwagen Adler beschädigt wird, steckt er in einer ernsthaften Misere. Das Geld, das er von seinem Vater bekommen hat, um beim englischen Eisenbahnbauer eine Ausbildung zu beginnen, gibt er nun zur Reparatur des Zugs aus.
In Paris lebt Louise mit ihrer Mutter in heruntergekommenen Verhältnissen. Ihr Vater hatte seinen Reichtum am Spieltisch gelassen, bevor er sich selber richtete. Seitdem sind ihre Mutter und sie auf die Zuwendungen anderer Herren angewiesen. Louise lässt sich ebenfalls auf einen zwielichtigen Mann ein. Als sie ihre hoffnungslose Lage erkennt und Pierre dabei verletzt, flieht sie nach Deutschland.
meine Meinung:
Um diese vier Personen dreht es sich im historischen Roman von Richard Dübell. Die Charaktere sind überaus lebendig herausgearbeitet. Sowohl die fiktiven als auch die historisch belegten Personen bekommen so Leben eingehaucht. Auch die Umgebung der Preußischen Güter Briest und Kniephof werden farbig gezeichnet, sodass beim Lesen der Wind spürbar wird, der über die Felder weht oder das rhythmische Stampfen der Dampflokomotive bei ihrer Fahrt gen Westen.
Richard Dübell hat mehrfach bewiesen, dass er ein großartiger Erzähler historischer Ereignisse ist. Auch seine neuzeitlichen Kriminalfälle sind immer gut durchdacht und vor allem spannend. Allen gemein ist der unterschwellige Humor, der den Leser mit einem Schmunzeln auf manche Szenen blicken lässt. Der Jahrhundertsturm vereint alles. Er ist eine spannende Geschichte um den Eisenbahnbau, intrigante Familiengeschichte, berührende Liebesgeschichte, historisch exakt recherchierte Dokumentation und Biografie eines der wichtigsten Deutschen Staatsmänner. Immer wieder blitzt dabei durch Wortwitz oder einer überraschenden Situation der Humor des Autors auf. Die Umstände rufen Sorgen und Nöte hervor, die der Autor durch die Figuren transportiert. Er lässt sie an der Missernte leiden, in den Fabriken zu unmenschlichen Bedingungen schuften und Hoffnung schöpfen, wenn sich Unternehmen für den Wohnungsbau und die Sozialkasse einsetzen.
Die Entwicklung Europas war vor allem im 19. Jahrhundert rasant. Der industrielle Fortschritt ermöglichte es. Auch die Menschen mussten sich an diese Reformen anpassen. Nicht alle Neuerungen brachten jedoch mehr Zufriedenheit. Gerade die Arbeiter litten unter schlechten Bedingungen, was letztendlich zur Deutschen Revolution führte. Kurze Zeit später führte der Preußische Staat gegen Frankreich Krieg, der wieder Hunger und Armut brachte. Vor dieser Kulisse schildert der Autor eine ergreifende Lebens- und Liebesgeschichte dreier Menschen, die jeweils auf der Suche nach ihrem Platz im Leben sind. So unterschiedlich wie sie sind, verbindet sie doch eine tiefgehende Freundschaft. Jeder für sich ist so sympathisch vorgestellt, dass es mir schwer fiel, eine Lieblingsfigur zu finden. Ich bin ihnen gern quer durch Europa zu den verschiedenen Ereignissen gefolgt. Ob nun in Berlin die Proklamation des Kaisers stattfand, sich in Paris das Heer gegen den Feind formierte oder Alfred Nobel in Hamburg seine neueste Erfindung vorstellte, stets ist man als Leser hautnah dabei und hört den Jubel. Der Umbruch der Gesellschaft ist zwischen den Zeilen spürbar und fesselt dementsprechend.
Nach 1045 Seiten sollte eigentlich alles gesagt sein. In diesem Fall sind sie fast ein bisschen wenig. Dübells Schreibstil trägt die Geschichte so überzeugend vor, dass man sich nur schwer wieder lösen kann. Gut 50 Jahre begleitet man den Werdegang des ersten Deutschen Reichskanzlers und dessen Freund Alvin von Briest. Wenn man jemanden so lange „kennt“ fällt der Abschied auf den letzten Seiten sehr schwer. Zudem gibt der Roman so viel Einblick in das Leben der Personen, dass manche Zusammenhänge deutlich hervorkommen, die in anderen Geschichtsbüchern nur am Rande erwähnt wurden. Nach derart intensiver Beschäftigung mit dem Thema bleibt dann nur noch das Revuepassieren beim Anblick der Landkarten auf der Umschlaginnenseite. Diese kann nur annähernd das wiedergeben, was das Jahrhundert noch zu bieten hatte und man ahnt, wieviel wohl unter den Tisch fallen musste. Ich habe hier eindeutig einen neuen Favoriten unter meinen historischen Romanen gefunden und hatte hundertprozentigen Lesespaß.