Lilly Lindner - Was fehlt, wenn ich verschwunden bin [ab 14 Jahre]

  • Phoebes ältere Schwester April hat eine beste Freundin: Ana, kurz für Anorexie. Sie wird in eine Klinik eingeliefert, um ihre Krankheit zu behandeln. Phoebe darf sie nicht besuchen und so beginnt sie, ihr zu schreiben. Fast jeden Tag verfasst sie einen Brief an April, in dem sie aus ihrem Alltag erzählt, von der Familie, den Eltern, dem Hund, ihren Freunden und allem was sie erlebt und was sie bewegt. Man spürt, wie sie versucht, ihre Schwester festzuhalten, Anteil nehmen zu lassen. Doch Phoebe erhält keine Antwort.


    Der erste Teil des Buches besteht ausschließlich aus Briefen von Phoebe an April. Lange habe ich gerätselt, wie alt Phoebe wohl ist, denn in ihren Briefen klingt eine große Weisheit mit, andererseits gibt es immer wieder Hinweise, dass sie gerade knapp 10 Jahre alt ist. Trotz ihres Schmerzes, dass die geliebte Schwester weg ist, klingt aus Phoebes Briefen aber auch immer eine starke Lebensfreude und unbändige Wissbegier. Insbesondere mit letzterem scheinen die Eltern oft überfordert, haben keine Antworten auf die zahlreichen Fragen ihrer kleinen Tochter. Schon gar nicht, wenn es um April geht. Jeder in der Familie kämpft für sich allein, es fehlt der Zusammenhalt.


    Im zweiten Teil erfahren wir Leser dann einen weitere Teil der Geschichte aus Aprils Sicht. Hier wird die Kluft zwischen den Schwestern und ihren Eltern noch deutlicher. Teilweise war mir das aber auch zu einseitig, die Eltern werden sehr negativ dargestellt und beim Lesen war ich automatisch entsetzt und empört über ihr Verhalten. Im Nachhinein habe ich mich allerdings gefragt, ob sich das alles aus ihrer Sicht nicht ganz anders darstellt? Leider haben sie in diesem Buch keine eigene Stimme bekommen.


    Am Ende lässt mich das Buch etwas zwiespältig zurück. Beim lesen hat es mich sehr berührt und mitgenommen, obwohl ich zum Glück keine persönlichen Erfahrungen mit Magersucht habe. Nachdem ich es einige Tage habe sacken lassen, stellten sich mir aber doch auch einige Fragen und manches ist für mich nicht unbedingt glaubwürdig, insbesondere, dass eine 9jährige eine derartige Ausdruckskraft besitzt.


    Nichtsdestotrotz ein beeindruckendes Buch, vor allem, wenn man die persönliche Geschichte der Autorin kennt, die von sich selbst sagt, sie sei sowohl Phoebe als auch April!

  • Erschütternder Roman mit autobiographischen Zügen


    Bekannt geworden ist Lilly Lindner durch die Veröffentlichung ihrer Autobiografie „Splitterfasernackt“ im Jahr 2011. Auch „Was bleibt, wenn ich verschwunden bin“ greift zum Teil eigene Erlebnisse der Autorin auf. Hier geht es um zwei Schwestern, Phoebe ist neun, April sechzehn. Beide sind hochintelligent, die Eltern hoffnungslos überfordert. April ist in einer Spezialklinik, wo ihre Magersucht behandelt werden soll. So schreiben sich die beiden Mädchen Briefe, die ihr inniges Verhältnis erkennen lassen.


    Anfangs fand ich die Briefform sehr ermüdend. Im Nachhinein empfinde ich diese Form des Romans als die einzig Passende. Nach wie vor schade finde ich, dass die Briefe nicht datiert sind. Das hätte mir eine Einordnung erleichtert.


    Was die beiden Mädchen schreiben, ist erschütternd. Die Eltern sind nicht in der Lage, ihnen irgendwelchen Halt zu geben. Den geben sich Phoebe und April gegenseitig.


    „Schwestern müssen schließlich zusammenhalten, weil man zusammen viel mehr halten kann als alleine.“ (S. 17)


    Doch was kann ein neunjähriges Kind groß bewirken, wenn die große Schwester quasi schon aufgegeben hat, wenn ihre „Freundin Ana“ (die Magersucht) alle Macht über sie hat? Die beiden Kinder sind nicht „normal“, aber was ist schon normal? Und warum ist es überhaupt wichtig normal zu sein? Aprils Leben ist eine einzige Qual, sie fühlt sich unverstanden, zurückgewiesen und absolut einsam. Anstatt zu kämpfen, zieht sie sich in die Stille zurück, im Gegensatz zu Phoebe, die sich zum Glück nicht so schnell verbiegen lässt.


    „Aber manchmal muss man die Wut und die Angst rausschreien, sonst bleiben sie in einem stecken, und dann explodiert man irgendwann.“ (S. 161)


    Über viele Weisheiten aus dem Mund der Neunjährigen muss man schmunzeln oder den Kopf schütteln, weil sie so wahr sind. Dabei sprüht das Buch vor lauter Wortspielen und Wortschöpfungen, fast war mir das schon etwas zu inflationär. Dadurch habe ich sicherlich das ein oder andere gar nicht mitbekommen. Überhaupt geht es viel um Wörter und Worte, denn mit ihnen kann man so viel Gutes tun oder aber auch zutiefst verletzen. Leider hat die Autorin die beiden Begriffe „Wörter“ und „Worte“ anscheinend willkürlich durcheinander geworfen, ohne die unterschiedliche Bedeutung zu würdigen. Das wird die meisten Leser wahrscheinlich nicht stören, wenn sie es überhaupt bemerken. Mich hat es leider sehr stark gestört, so stark, dass es stellenweise den Inhalt des Buches überlagert hat. Das hätte nicht sein müssen, und ich finde es sehr schade, denn davon abgesehen, kann Lilly Lindner wirklich sehr gut mit Wörtern und Worten umgehen. Ihre Sätze gehen unter die Haut.


    Fazit:
    Trotz kleiner Kritikpunkte gibt es von mir eine klare Leseempfehlung. Möge das Buch dazu beitragen, dass wir mehr aufeinander achten und uns gegenseitig stützen.

  • x Autorin: Lilly Lindner
    x Originaltitel: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
    x Genre: Jugendbuch
    x Erscheinungsdatum: 19. Februar 2015
    x bei Fischer
    x 400 Seiten
    x ISBN: 3733500938
    x Erste Sätze: Liebe April, du bist jetzt schon fast eine Woche weg, und ohne dich ist es schrecklich langweilig hier. Mama weint ständig, und Papa arbeitet jetzt immer ganz lange, und wenn er nach Hause kommt, dann guckt er traurig. Beim Abendessen sitzen die beiden nur schweigend am Tisch und erzählen sich gar nicht mehr, was sie für einen Tag hatten.


    Klappentext:


    “Und wenn dann ein neuer Frühling kommt, mit einem neuen April, dann werde ich deinen Namen flüstern. An jedem Tag.”


    Lilly Lindners berührende Geschichte über zwei Schwestern, die verzweifelt versuchen, einander zu retten.


    Rezension:


    Da mich Lilly Lindners Debüt damals so berührte, möchte ich jedes Buch von ihr lesen – so freute ich mich, als ich zu einer Blogtour zu ihrem ersten Jugendroman, “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”, eingeladen wurde, welcher mich tief berühren konnte.


    Der Schreibstil ist ‘typisch Lilly’ – tiefgründige Wortspiele, viele lange und verschachtelte, aber auch genauso viele extrem kurze Sätze, die nur aus 2-4 Worten bestehen, um etwas zu unterstreichen. Die Autorin versteht es, wahre Wortstrudel zu erschaffen, die den Leser in den Bann ziehen und tief in der Seele berühren – mal federleicht, mal hart und unerwartet wie eine Abrissbirne.


    In “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin” geht es um die 9-jährige Phoebe, ihre 16-jährige Schwester April, und um die kaputte Welt, in der die beiden leben, obwohl alles so schön sein könnte. Doch April hat eine Freundin namens ‘Ana’, was für Anorexia nervosa – Magersucht – steht, und befindet sich deshalb in einer Klinik. Da sich die von den Eltern missverstandenen, hochbegabten Schwestern sehr nahe stehen, beginnt Phoebe April Briefe zu schreiben, auf die sie jedoch keine Antwort erhält. Erst ab der Hälfte des Buches stellt sich heraus, wieso die Antwort auf sich warten lässt – obwohl auch April Briefe an ihre kleine Schwester schreibt.


    Und diese Briefe haben es in sich … sowohl Phoebes als auch Aprils – eigentlich klar, hinter beiden steckt ja die Autorin. Während Phoebes Briefe sehnsüchtig, etwas unschuldig und wunderbar poetisch klingen, trafen mich Aprils Briefe schmerzhaft ins Herz. Sie erfährt von ihren Eltern keinen Rückhalt, ist mit ihrer Krankheit auf sich allein gestellt, bekommt unterstellt, sie wäre absichtlich krank. Ich könnte mir vorstellen, dass Menschen aus intakten Familien vielleicht denken, dass es sich hier um eine übertriebene Darstellung handelt – dem ist aber leider nicht so. Sowas passiert tatäschlich.


    Ich nehme an, dass das Buch bei vielen Lesern, die ‘Ana’ ihre einzige Freundin nennen, Anklang finden wird, und möchte betonen, dass die Geschichte durchaus triggern kann. Man kann sich darin wiedererkennen, sehr schnell in alte Erinnerungen zurückversetzt fühlen, aber im besten Fall auch schmerzhaft wachgerüttelt werden. Doch wer Lillys Literatur kennt, weiß, dass diese ohnehin mit Bedacht konsumiert werden muss.


    Fazit:


    Ein (weiteres) poetisches wie schmerzhaftes Meisterwerk


    Bewertung:


    10 von 10 Sternen

  • Die letzte Seite ist umgeblättert und inzwischen habe ich die Geschichte auch schon etwas sacken lassen. Jetzt sitze ich hier und versuche meine Gedanken zu ordnen und meinen Leseeindruck zu formulieren. Ich muss gestehen, es fällt mir nicht leicht, da das Buch mich schon sehr zwiegespalten zurück gelassen hat.


    Die 10jährige Phoebe vermisst ihre Schwester April, die in einer Klinik gegen Magersucht kämpft, schmerzlich und versteht nicht, was eigentlich wirklich vorgeht. Die Eltern können ihr in ihrer Ohnmacht keine Antworten geben und so flüchtet sich das Mädchen in ihre Briefe, die sie an ihre Schwester schreibt.


    Die Briefe der Schwestern gehören zu den intensivsten Texten, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Lilly Lindner hat das grosse Talent Gefühle in Worte zu verwandeln, die den Leser in seinem Innersten berühren. Es sind Texte, die kaum jemanden kalt lassen und die lange nachhallen. Es sind intensive Lesemomente, die auch nach dem Zuklappen des Buchdeckels den Kloss im Hals stecken bleiben lassen.


    Phoebe wirkt auf mich oft viel älter als 10, da die Formulierungen meiner Meinung nach nicht immer altersgerecht erscheinen. Das ist jedoch nur ein kleiner Punkt, der mich auch nicht weiter gestört hat.


    Da hatte mich das Verhalten der Eltern schon viel mehr ins Straucheln gebracht. Einerseits war ich nur entsetzt über die Art und Weise, wie die Eltern mit den Mädchen und mit dem Thema Magersucht umgehen. Andererseits empfand ich die Darstellung von Vater und Mutter viel zu einseitig und damit sehr voreingenommen. Immer wieder hatte ich den Eindruck, dass die Autorin ihre eigene Enttäuschung und den eigenen Frust in diese Darstellungen packte. Ein Frust, der möglicherweise berechtigt ist, den ich als Leser aber so nicht verstehen oder gar nachvollziehen kann. Daher finde ich es schade, dass der Leser keine Gelegenheit erhält, sich ein eigenes, objektiveres Bild von den Eltern zu machen und dass diese Feindseligkeit manches Mal das Thema Magersucht in den Hintergrund drängte.


    Dennoch ist es vor allem Lilly Lindners Sprachgewalt und die besonders intensiven Lesemomente, die mir in Erinnerung bleiben werden und ich vergebe 7 von 10 Eulenpunkten.

  • Das Cover des Buches hat mir auf Anhieb gefallen. Der blaue Himmel und die vielen, weißen Tauben, die sich um das Wort "ich" scharen, fand ich sehr ansprechend und mit Blick auf den Inhalt des Romans auch sehr aussagekräftig. Der Klappentext ist informativ und signalisiert, wohin die Geschichte inhaltlich geht.


    Sie ist praktisch in zwei Teile aufgeteilt und beginnt mit den Briefen der neunjährigen Phoebe und endet mit denen ihrer Schwester April. Diese Aufteilung fand ich ein wenig ungewöhnlich und irgendwie habe ich dabei den direkten Dialog vermisst. Doch es gibt einen Grund für diese Trennung, die man gut nachvollziehen kann


    Phoebes Schreibstil ist entgegen ihres Alters sehr wortgewandt und auch die Art, wie sie ihre Emotionen ausdrückt, fand ich so leider nicht ganz passend, auch wenn sie als hochbegabt gilt. Lediglich die Naivität, mit der sie schreibt, lässt Rückschlüsse auf ihr tatsächliches Alter zu. Ich denke, hätte die Autorin aus Phoebe ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen gemacht, dann hätte es für mich eher gepasst. So habe ich leider nie so richtig Zugang zu ihr bekommen.


    Dennoch hat mich die Geschichte auch sehr berührt und ohne ein paar Taschentücher ging es beim Lesen einfach nicht ab. Gerne hätte ich auch die Sichtweise der Eltern kennengelernt, denn es ist schwer, sich eine solche Familienkonstellation, wie sie die Mädchen schildern, in der Realität vorzustellen.


    Fazit:


    "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" von Lilly Lindner thematisiert die Krankheit Magersucht und die Liebe zweier außergewöhnlicher Schwestern zueinander. Wer gefühlvolle Romane liebt und auch kein Problem mit kleinen Umstimmigkeiten und vielfältigen Wortspielereien hat, für den ist dieses Buch bestimmt ein Lesegenuss; mir persönlich blieb leider der Zugang zu den Charakteren verwehrt.

    Es wäre gut Bücher kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte, aber man verwechselt meistens den Ankauf der Bücher mit dem Aneignen ihres Inhalts.
    Arthur Schopenhauer (1788-1860)


    :lesend

  • Ich habe das Buch vor ein paar Tagen zu ende gelesen und es hat mich extrem nachdenklich zurückgelassen irgendwie.
    Diese beiden Schwestern, die so besonders sind und doch zu besonders für ihre Eltern und das Leben. April flüchtet sich in ihre eigene Welt und kommt dort irgendwann nicht mehr raus. Phoebe ist dagegen ein selbstbewusstes Mädchen, die sich von den oft irritierenden Worten der anderen nicht unterkriegen lässt.
    Zwei Schwestern, die sich sehr ähnlich sind und doch verschieden mit dem Leben umgehen.


    Ich fand es war an manchen Stellen schön von der Schlagfertigkeit von Phoebe zu lesen und dann war es wieder sehr traurig an manchen Stellen.